Am 4. Mai 2021 jährt sich zum 100. Mal der Todestag von Alfred H. Fried (1864–1921). Der Friedensnobelpreisträger von 1911 gilt als einer der Begründer des wissenschaftlichen Pazifismus. Er hat sich in diesem Kontext auch intensiv mit der Sprache Esperanto befasst und verfasste während des Ersten Weltkrieges ein Tagebuch, das er von 1914 bis 1919 regelmäßig in der Zeitschrift Die Friedens-Warte veröffentlichte.
Autor: Bernhard Tuider
„Alfred H. Fried hatte die unschätzbare Gabe des ‚Common sense’, des geradeaus und nicht in Winkelzügen Denkens, die Gabe der klaren Konzeption, der weiten, durch sachliche Bildung immer vertieften Übersicht. Er war nüchtern ohne Trockenheit, leidenschaftlich ohne jede Übertreibung, seine Ideen komplex, aber immer auf ein einheitliches Zentrum gerichtet und darum sich wechselseitig verstärkend. Dieses Zentrum, dem seine ganze geistige und moralische Leidenschaft sich zuwandte, war die Idee des Weltfriedens. […] Die Organisation der Völkergemeinschaft, das war seine Tat vor dem Kriege. Sie stellt sein geistiges Werk dar – seine menschliche Tat aber, sie, die ihn uns als Gestalt, als Erscheinung so bewundernswert macht, begann erst mit dem Kriege. Hier hat Alfred H. Fried wirkliche Größe, historische Bedeutsamkeit erreicht. […] Und niemand wird heute das ‚Tagebuch‘ und die Schriften Alfred H. Frieds mit größerer Beschämung lesen, als eben jene, die damals mit Hohn und Haß hinter ihm hergehetzt haben.“ (Zweig 1922: 76-77)
In seinem Nachruf auf Alfred H. Fried würdigte Stefan Zweig (1881–1942) nicht nur die Charaktereigenschaften seines Schriftstellerkollegen, sondern auch die historische Bedeutsamkeit von dessen Kriegstagebuch. Obwohl Fried bereits seit den 1890er Jahren zu den aktivsten PazifistInnen zählte, fand er erst kurz vor dem Ersten Weltkrieg größere Beachtung. (Vgl. Schönemann-Behrens 2011: 53-82, 185-194)
In Anerkennung seiner grundlegenden Arbeiten als pazifistischer Herausgeber, Journalist und Schriftsteller erhielt er 1911 den Friedensnobelpreis. In seiner Laudatio nannte der Vorsitzende des norwegischen Nobelkomitees, Jørgen Gunnarson Løvland (1848–1922), Alfred Fried „the most industrious literary pacifist in the past twenty years“.[1] Die Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Leiden, 1913, hatte für Fried eine noch größere Bedeutung, da er sie als Beweis für die Wissenschaftlichkeit seiner pazifistischen Theorie und seines Friedensprogrammes sah. Spätestens durch diese Auszeichnungen gehörte er weltweit zu den prominentesten PazifistInnen. (Vgl. Schönemann-Behrens 2011: 206-221)
Während einer Zeit, in der internationale Netzwerke, Beziehungen und Kooperationen kontinuierlich zunahmen und sich intensivierten, war Alfred Fried davon überzeugt, dass ein Krieg innerhalb Europas in Zukunft unmöglich sein würde. Der 21. Weltfriedenskongress, den er gemeinsam mit Bertha von Suttner (1843–1914) für September 1914 in Wien vorbereitete, sollte diesem Ziel dienen. Umso mehr war Fried schockiert und tief betrübt, als auf die Julikrise 1914 eine Reihe von Kriegserklärungen folgte. Zunächst hatte er noch Hoffnung, dass die Katastrophe verhindert werden könnte, aber da er die Ausführungen des 1899 veröffentlichten sechsbändigen Werkes Der zukünftige Krieg in seiner technischen, volkswirtschaftlichen und politischen Bedeutung von Johann von Bloch (1836–1902) teilte, ahnte er schon bald, dass der Krieg ein „fürchterlicher Anschauungsunterricht“ werden und eine sehr lange, unbestimmte Zeit dauern könnte. (Fried 1918: 7. August 1914) Um weiterhin Die Friedens-Warte, die er 1899 gegründet und seither herausgegeben hatte, zu publizieren, Informationen sowohl von den Mittelmächten als auch von der Entente erhalten zu können und dadurch einen umfassenderen Überblick über die Ereignisse zu haben, beschloss Alfred Fried in die Schweiz zu emigrieren und zumindest während der Kriegszeit dort zu bleiben. (Tuider 2010: 99-108)
Bemerkenswert ist, dass er erst am 7. August 1914 begann, Tagebuch zu führen. Indem er seine Gedanken artikulierte, konnte er sich seine Melancholie und seine Bedrückung von der Seele schreiben. Noch viel mehr aber hoffte er, durch sein Kriegstagebuch seine ZeitgenossInnen pazifistisch zu inspirieren und sein Friedensprogramm, den wissenschaftlichen Pazifismus, eingehend zu erklären. Die Gültigkeit seines Konzepts sah er durch den Krieg bestätigt, wie er in der Einleitung zur vierbändigen Publikation des Tagebuches notierte:
„Ausdruck verleihen wollte ich meinen Empfindungen, meiner Erkenntnis, meinen Befürchtungen und Hoffnungen. Die Ereignisse wollte ich festhalten, sie vom pazifistischen Gesichtspunkt aus erörtern, am Krankheitsverlauf des fiebernden Europas die Fehler der Vergangenheit klarlegen und den Weg zur Genesung weisen.“ (Fried 1918: VIII)
Während des Ersten Weltkrieges konnte Fried in der Zeitschrift Die Friedens-Warte nur Auszüge veröffentlichen, worüber er im Frühjahr 1915 an John Richard Mez (1885–1959) schrieb:
„Dass Ihnen mein Tagebuch gefällt, ist mir angenehm zu hören. Ich bekomme äusserst viele erfreuliche Zustimmungen. Es wird wohl einmal in Buchform erscheinen. Dann aber vollständig. Das, was ich jetzt gebe, sind nur solche Stellen, die im Hinblick auf die politische Situation zur Veröffentlichung geeignet sind. Vieles, ja das Meiste, muss ich unterdrücken.“ (Fried 27.04.1915)
In einem Brief an David Starr Jordan (1851–1931), Friedensaktivist, Zoologe und erster Präsident der Stanford University, erklärte Alfred Fried, dass der Erste Weltkrieg nur vordergründig das Thema war, in Wirklichkeit aber dazu diente, seine pazifistische Theorie zu erläutern.
„Es ist dies [das Kriegs-Tagebuch] das Werk, in das ich meinen ganzen Kampf gegen den Wahnsinn des Kriegs konzentriert habe. Der Weltkrieg hat eigentlich damit wenig zu tun. Er war nur Demonstrationsobjekt, die Leiche an der ich Anatomie docierte.” (Fried 30.10.1920)
Alfred Frieds Tagebuch zeigt seinen wissenschaftlichen Zugang und Denkansatz zu den Themen Pazifismus und internationale Beziehungen, die er ab dem Ende der 1890er Jahre elaborierte. Während er sich von einem rein ethischen Pazifismus distanzierte, war er zunehmend davon überzeugt, dass die Friedensbewegung ein wissenschaftliches Fundament benötigt, um sich gegenüber national(istisch)er Kritik zu behaupten, einen größeren öffentlichen Einfluss auszuüben und dadurch schließlich mehr Menschen zur Unterstützung pazifistischer Aktivitäten zu motivieren.
Einzelne Aspekte seiner Theorie und seines Programms präsentierte Alfred Fried in zahlreichen Vorträgen und Artikeln in der Friedens-Warte und schließlich 1908 zusammengefasst in der Monographie Die Grundlagen des revolutionären Pacifismus, deren zweite Auflage 1916 unter dem Titel Die Grundlagen des ursächlichen Pazifismus erschien.[2] (Tuider 2010: 45-50)
Sie wurden zur Basis seiner Wahrnehmung und Interpretation des Ersten Weltkrieges. In seinem Tagebuch rekurrierte Fried immer wieder auf den revolutionären Pazifismus und argumentierte kritisch-analytisch für einen dauerhaften Friedenszustand zwischen den europäischen Staaten . (Fried 1918: 30.11.1914, » 28.02.1915)
Er meinte, dass Kriege generell unverantwortliche, willkürliche Akte seien, niemals humanitär, aber immer vermeidbar. Sie seien unter keinen Umständen lohnenswert, weil ihr Verlauf und ihr dauerhaftes Ende unvorhersehbar seien, und sie, verglichen mit den vorgeblichen Erfolgen, zu viel Leid, Krankheit und Tod verursachten. (Tuider 2010: 124-142) Deshalb wollte Alfred Fried nicht nur die unangenehmen Konsequenzen von Kriegen verhindern, sondern deren Ursachen eliminieren und kriegerische Operationen unmöglich machen, insbesondere durch die Förderung „internationaler Verständigung“ und die Etablierung einer „zwischenstaatlichen Organisation“ – zwei wesentliche Elemente seines pazifistischen Konzepts.
In seinem Programm, das er selbst nicht als vollständig ansah, sondern als „Versuch einer Einteilung (…), den ursächlichen Zusammenhang der einzelnen Aktionen klar[zu]stellen“ (Fried 1916: 44), konzentrierte sich Fried vor allem auf zwischenstaatlichen Frieden.
Bezüglich der internationalen Verständigung spielte auch die Sprache » Esperanto eine Rolle. Fried wollte den „geistigen Verkehr“ u.a. durch die Einführung einer Welt-Hilfssprache fördern. In den Grundlagen des revolutionären Pacifismus erwähnte er Esperanto nicht explizit, weil sowohl die Friedens- als auch die Esperantobewegung stereotypen, nationalistischen Diffamierungen ausgesetzt waren und er die Angriffsfläche verkleinern wollte, indem er die Sprache nicht ausdrücklich erwähnte.[3] In der Festschrift für den 8. Deutschen Esperantokongress, der 1913 in Stuttgart stattfand, verdeutlichte Fried aber, welche Funktion Esperanto übernehmen solle:
„Esperanto ist heute nicht nur die vernünftigste internationale Hilfssprache, sondern auch die verbreitetste; infolgedessen muss sich die gesamte Weltsprachebewegung auf dieses eine Ziel – die allgemeine Annahme des Esperanto – konzentrieren.“ (Christaller 1913: 18)
Frieds wissenschaftlicher Pazifismus erzeugte unterschiedliche Resonanz, sowohl Zustimmung als auch Ablehnung. Zu den positivsten Reaktionen gehörte vor allem ein zunehmendes Interesse am Pazifismus bei Bevölkerungsgruppen, die sich bis zum 20. Jahrhundert kaum damit beschäftigt hatten. Neben der Förderung einer Annäherung zwischen Pazifismus und Sozialdemokratie hatte Frieds Konzept auch Einfluss auf die Völkerrechtswissenschaft, besonders auf Walther Schücking (1875–1935) und Hans Wehberg (1885–1962), die zu den wichtigsten vom organisatorischen Pazifismus beeinflussten VölkerrechtswissenschaftlerInnen zählen. (Tuider 2010: 59)
Trotzdem blieben Frieds pazifistische Ambitionen zeit seines Lebens eher illusorisch, nachdem auch die Pariser Vorortverträge nicht die „pazifistische Aktion“ implementierten, die er jahrelang propagiert hatte. Retrospektiv lässt sich aber doch feststellen, dass viele Appelle Alfred Hermann Frieds für eine internationale Zusammenarbeit aufgegriffen wurden und seine Vision einer zwischenstaatlichen Organisation – wenn auch in einem für ihn nicht vorhersehbaren historischen Kontext – nach 1945 durch den Einigungsprozess auf europäischer und die Gründung der Vereinten Nationen auf globaler Ebene annähernd realisiert worden sind.
Über den Autor: Mag. Bernhard Tuider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek
Christaller, Gottfried Paul (Hrsg.)(1913): Das Esperanto ein Kulturfaktor 3 (= Festschrift anlässlich des 8. Deutschen Esperanto-Kongresses). Leipzig: Deutscher Esperanto-Bund.
Fried, Alfred H. (1906): Organisiert die Welt!, in: Die Friedens-Warte. Zeitschrift für internationale Verständigung, Jg. 8, Januar, S. 1-3.
Fried, Alfred H. (1908a): Die Grundlagen des revolutionären Pacifismus. Tübingen: Mohr.
Fried, Alfred H. (1908b): Verzeichnis von 1000 Zeitungs-Artikeln Alfred H. Fried’s zur Friedensbewegung. Bis März 1908. Berlin: Verlag der „Friedens-Warte“.
Fried, Alfred H. (1909): Les bases du pacifisme. Le pacifisme réformiste et le pacifisme révolutionnaire (traduit de l’allemand par Jean Lagorgette). Paris: Pedone.
Fried, Alfred H. (27.04.1915): Brief an John Richard Mez. Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Sammlung von Handschriften und alten Drucken (HAD), Autogr. 1137/2-2.
Fried, Alfred H. (1916): Die Grundlagen des ursächlichen Pazifismus. Zweite, durch Zusätze vermehrte Auflage. Zürich: Orell Füssli.
Fried, Alfred H. (1918): Mein Kriegs-Tagebuch. Das erste Kriegsjahr (7. August 1914 bis 28. Juli 1915) (= Sammlung Europäische Bücher). Zürich: Rascher.
Fried, Alfred H. (1919a): Mein Kriegs-Tagebuch. Das zweite Kriegsjahr (1. August 1915 bis 28. Juli 1916) (= Sammlung Europäische Bücher). Zürich: Rascher.
Fried, Alfred H. (1919b): Mein Kriegs-Tagebuch. Das dritte Kriegsjahr (1. August 1916 bis 28. Juli 1917) (= Sammlung Europäische Bücher). Zürich: Rascher.
Fried, Alfred H. (1920): Mein Kriegs-Tagebuch. Das vierte Kriegsjahr (1. August 1917 bis 30. Juni 1919) (= Sammlung Europäische Bücher). Zürich: Rascher.
Fried, Alfred H. (30.10.1920): Brief an David Starr Jordan. League of Nations Archives Geneva (LON), International Peace Movements (IPM), Fried Papers Box 88.
Grünewald, Guido (Hrsg.) (2016): „Organisiert die Welt!“ Der Friedensnobelpreisträger Alfred Hermann Fried (1864-1921) – Leben, Werk und bleibende Impulse. Bremen: Donat-Verlag.
Larkin, Edward T. (2018): Alfred Hermann Fried’s Mein Kriegstagebuch: A Pacifist Encounters War, in: Kramer, Andreas / Robertson, Ritchie (eds.): Pacifist and Anti-Militarist Writing in German, 1889–1928: From Bertha von Suttner to Erich Maria Remarque. München: Iudicium, S. 31-43.
Moch, Gaston (1905): La societo, in: Espero Pacifista, Jg. 1, Nr. 1, S. 18-30.
Schönemann-Behrens, Petra (2011): Alfred H. Fried. Friedensaktivist – Nobelpreisträger. Zürich: Römerhof-Verlag.
Sorrels, Katherine (2016): Cosmopolitan Outsiders. Imperial Inclusion, National Exclusion, and the Pan-European Idea, 1900-1930. New York: Palgrave Macmillan.
Tuider, Bernhard (2010): Alfred Hermann Fried. Pazifist im Ersten Weltkrieg – Illusion und Vision. Saarbrücken: VDM.
Zweig, Stefan (1922): Alfred Hermann Fried, in: Rudolf Goldscheid (Hrsg): Alfred H. Fried. Geb. 11. Nov. 1864, gest. 4. Mai 1921. Eine Sammlung von Gedenkblättern. Leipzig: Der Neue Geist-Verlag, S. 76-78.
[1] Bereits 1908 hatte Alfred Fried mehr als 1.000 Zeitungs- und Zeitschriftenartikel veröffentlicht. Fried, Alfred H. (1908): Verzeichnis von 1000 Zeitungs-Artikeln Alfred H. Fried’s zur Friedensbewegung. Bis März 1908. Berlin: Verlag der „Friedens-Warte“.
[2] Außer als „revolutionärer Pazifismus“ und „ursächlicher Pazifismus“ wurde Frieds Theorie auch als „organisatorischer Pazifismus“ und „wissenschaftlicher Pazifismus“ bezeichnet.
[3] Ein Kollege von Alfred Fried, der Pazifist Gaston Moch (1859–1935), schrieb darüber 1905 in den Statuten der Internacia Societo Esperantista por la Paco: „Andererseits darf man nicht vergessen, dass Esperantisten und Pazifisten als Utopisten angesehen werden von jenen Personen, welche sie noch nicht zu ihren Ideen konvertiert haben. Man würde also die Aufgabe nur erschweren, wenn man der Öffentlichkeit eine doppelte ‚Utopie‘ präsentieren wolle, wenn es ja so schwierig ist, dass sie eine annimmt. Es ist also wichtig, nicht nur beide Bewegungen sorgfältig voneinander zu unterscheiden, sondern auch alles zu vermeiden, was Verwirrung stiften könnte.“ Original: „Aliparte oni ne devas forgesi, ke la Esperantistoj kaj la Pacifistoj estas konsiderataj kiel utopiistoj de la homoj, kiujn ili ne konvertis jam al siaj ideoj. Oni do nur malsimpligus la taskon, se oni volus prezenti al la publiko duoblan ‚utopion‘, kiam estas ja tiel malfacile akceptigi al ĝi unu simplan. Estas do grave ne nur distingi zorge ambaŭ movadojn, sed ankaŭ eviti ĉion, kio povus starigi konfuzon inter ili.“ (Moch 1905: 26)
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