Cod. 2666: Eine besondere Dante-Handschrift

Forschung

04.12.2021
Handschriften und alte Drucke
Das Innere eines Spitzers steht auf einem Tisch, daneben steht ein alt aussehendes Buch, das nur wenig größer als der Spitzer ist

Anlässlich des 700. Todestags von Dante Alighieri präsentiert die Österreichische Nationalbibliothek einen einzigartigen Codex, der sich nicht nur von allen anderen Dante-Handschriften abhebt, sondern von den meisten Handschriften überhaupt.

Autor: Friedrich Simader

Anlässlich des 700. Todestags von Dante Alighieri präsentieren viele Bibliotheken Handschriften und wertvolle Druckausgaben aus ihren Beständen. Auch die Österreichische Nationalbibliothek nützt diese Gelegenheit, einen Codex vorzustellen, der sich aufgrund seiner Eigenart nicht nur von den sonst erhaltenen Dante-Handschriften, sondern überhaupt von den meisten Handschriften abhebt.

Über seine Herkunft und Erwerbung informiert ein handschriftlicher Zettelkatalog aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts: „Die Handschrift wurde von Herrn Stephan Endlicher der Bibliothek zum Geschenk gemacht, der sie im Jahr 1822 um einen Spottpreis an sich brachte. Sie wurde von einem Soldaten im Jahr 1816 zu Preßburg um 20 Kreuzer verkauft, der vorgab, sie zu Verona gefunden zu haben.“1

Abb. 1: Cod. 2666, fol. 84v-85r

Endlicher, von 1828 bis 1835 Praktikant bzw. Skriptor der Handschriftensammlung, überließ die Handschrift der Hofbibliothek in seinem ersten Dienstjahr. Als man im Jahr 1847 beschloss, handschriftliche und typographische Kostbarkeiten aus dem Bestand im Rahmen einer ständigen Zimelienausstellung im Prunksaal zu präsentieren, befand sich auch der Dante-Band darunter. Im zugehörigen Katalogeintrag heißt es dazu: „Pergament-Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts. Sie gehört zu den literarischen Curiositäten seltenster Art. In kleinstem Formate nämlich (11 Linien Höhe, 71/2 Linien Breite) enthält sie in erstaunlich kleiner Schrift, dem unbewaffneten Auge kaum leserlich, Dante’s göttliche Komödie in italienischer Sprache, überdies mit sehr zierlichen Federzeichnungen geschmückt.“2

Tatsächlich handelt es sich bei dem mit der Signatur Cod. 2666 bezeichneten Bändchen um die kleinste Handschrift der Österreichischen Nationalbibliothek. Die Maße der einzelnen Seiten betragen 24 x 15 mm, der Buchblock ist ca. 18 mm dick. Die Handschrift kann zwar nicht beanspruchen, die kleinste der Welt zu sein, denn laut dem Guinessbuch der Rekorde hat ein Herr in Indien im Jahr 2007 eine Handschrift geschaffen, die nur 20 x 10 x 10 mm misst.3 Im Bereich des historischen Buches hingegen dürfte es nur wenige Stücke geben, die sie in ihren Dimensionen noch unterbieten. Zum Beispiel die kleinste Handschrift der Vatikanischen Bibliothek, Cod. Vat. lat. 11254 aus dem 16. Jahrhundert, ist mit 39 x 29 mm deutlich größer4, ebenso das derselben Zeit angehörende, bislang kleinste bekannte Stundenbuch mit 48 x 32 mm.5

Abb. 2: Cod. 2666

Kleinformatige Handschriften konnten einfacher transportiert werden und eigneten sich besonders für Texte, die ihr Besitzer häufig oder auch täglich zum persönlichen Gebrauch heranzog. Das Bedürfnis nach derartigen Handschriften führte immer wieder zu speziellen Buchtypen. So ließen Pariser Buchhändler ab dem frühen 13. Jahrhundert in einer Art Massenproduktion Taschenbibeln herstellen, die bis um 1300 reißenden Absatz fanden.6 Im ausgehenden Mittelalter kamen sogenannte Beutelbücher auf, kleinformatige Handschriften meist religiösen Inhalts, bei denen der Lederbezug des Einbands über den Buchschnitt hinausragte und ermöglichte, den Band am Gürtel zu befestigen und so immer in Griffweite zu haben.7 Die Tendenz zur Verkleinerung setzte sich dann bei den für LaiInnen geschaffenen Gebetbüchern fort, allen voran beim Stundenbuch, das in Spätmittelalter und früher Neuzeit den am weitesten verbreiteten Handschriftentyp bildete. Vereinzelt wurden für die persönliche Andacht gebrauchte Handschriften in ein so kleines Format gebracht, dass es möglich war, sie als eine Art Amulett zu verwenden. Die schon erwähnte Handschrift der Vaticana wurde an einer Kette in einem silbernen Buchschuber um den Hals getragen, und der angebliche Psalter von Anne Boleyn, 40 x 30 mm groß, besitzt oben an Vorder- und Hinterdeckel jeweils eine metallene Öse für ein Band oder eine Kette, die auf eine ähnliche Praxis hinweisen.8

Allen genannten Handschriften ist allerdings gemeinsam, dass es sich um religiöse Texte handelt, und, was noch wichtiger ist, dass der Text trotz des kleinen Formats noch ohne Hilfsmittel gelesen werden kann. Bei der Dante-Handschrift ist das nicht der Fall; das "unbewaffnete Auge" kann bestenfalls die mit Goldtinte geschriebenen Überschriften oder die den Beginn eines jeden Verses markierenden Großbuchstaben erkennen, der Rest lässt sich ohne Lupe nicht entziffern. Damit war sie keinesfalls eine Gebrauchshandschrift. Der Zweck ihrer Herstellung bestand offensichtlich darin, ein Schaustück zu schaffen, das den Betrachter einfach nur verblüfft. Diesen Effekt erzielt sie noch immer mühelos.

Dazu tragen auch die rund 30 unterschiedlich großen und teilweise querformatigen Federzeichnungen bei, die wie die Schrift unter einem Vergrößerungsglas entstanden sein müssen. Zu ihrer Einordnung geben knappe Notizen des Kunsthistorikers Hermann J. Hermann einen wichtigen Hinweis. Er datierte den Band Ende des 16. bzw. Anfang des 17. Jahrhunderts, nahm Rom mit Fragezeichen als Entstehungsort an und notierte sich bezüglich der Ausstattung schließlich Michelangelos Jüngstes Gericht.9 Der Großteil der Zeichnungen in der Handschrift gibt das Fresko in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan wieder, allerdings zerlegt in einzelne Figurengruppen. Den Anfang machen die unten in der Mitte dargestellten Posaunenengel (fol. 2r), dann folgt die rechts unten wiedergegebene Szene mit dem mythischen Fährmann Charon und seinem Boot, das von den Elenden Richtung Hölle verlassen wird (fol. 8v, Abb. 3). Auf fol. 28v und 37r (Abb. 5) begegnet man den über dem Boot gezeigten Verdammten, die von Teufeln gepackt werden, auf fol. 53r der Hauptgruppe der abstürzenden Verdammten, auf fol. 55r davon getrennt den zugehörigen Figuren am rechten Rand usw.

Abb. 3: Cod. 2666, fol. 8v, und Michelangelo, Jüngstes Gericht, Sixtinische Kapelle (Ausschnitt)
Abb. 4: Cod. 2666, fol. 8v, und Michelangelo, Jüngstes Gericht, Sixtinische Kapelle (Ausschnitt)

Schon bald nach Fertigstellung des Freskos im Jahr 1541 publizierten mehrere italienische Künstler Reproduktionen in Form von Kupferstichen und machten das Werk so einem breiteren Publikum außerhalb von Rom zugänglich. Unmittelbare Vorlage für die Zeichnungen in Cod. 2666 dürfte die aus zehn einzelnen Stichen bestehende, in den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts gedruckte Serie von Ghiorgio Gisi gewesen sein.10 Die Darstellungen sind von dort so genau wie möglich übernommen; Ausnahmen bilden nur fol. 28v, wo zusätzlich ein Rollwerkrahmen erscheint, und fol. 174v-175r, eine Doppelseite, die die rund um Christus angeordneten Heiligen, nicht aber den zentralen Weltenrichter und Maria wiedergibt - diese beiden folgen erst auf fol. 180r in einem separaten Bild.

Abb. 5: Cod. 2666, fol. 37r (Ausschnitt), und Giorgio Ghisi, Kupferstich nach Michelangelo (Ausschnitt)
Cod. 2666, fol. 37r (Ausschnitt), und Giorgio Ghisi, Kupferstich nach Michelangelo (Ausschnitt)

Eine zweite Gruppe von Zeichnungen basiert auf Holzschnitten, die erstmals in einer im Jahr 1544 in Venedig bei Francesco Marcolini publizierten kommentierten Ausgabe der Göttlichen Komödie verwendet worden sind.11 Sie illustrieren 1564, 1578 und noch 1596 auch Dante-Ausgaben der gleichfalls in Venedig ansässigen Offizin der Familie Sessa.12 Die Umsetzung dieser Vorlagen, deren Position im Text großteils jener im Druck folgt, ist wesentlich freier; vor allem versieht der Zeichner die Szenen zusätzlich noch mit verschiedenen Rahmen, die er zum Teil aus menschlichen Figuren, Girlanden, Rollwerkelementen u.a. zusammensetzt. Unklar ist, ob die zentralen Motive der abgegriffenen Zeichnungen auf fol. 1v und fol. 4v ebenfalls auf Holzschnitten dieser Serie beruhen. Ziel des Zeichners war es vermutlich, einerseits eines der berühmtesten und monumentalsten Gemälde seiner Zeit in das kleinstmögliche Format zu bannen, und andererseits die in Dante-Drucken verwendeten Holzschnitte noch an Kunstfertigkeit zu übertreffen.

Abb. 7: Cod. 2666, fol. 127r (Ausschnitt), und Holzschnitt der Dante-Ausgabe von 1544
Abb. 8: Cod. 2666, fol. 127r (Ausschnitt), und Holzschnitt der Dante-Ausgabe von 1544

Bei aller Bewunderung für dieses „Kunststück“ darf man aber nicht vergessen, dass die Handschrift im modernen Bibliotheksbetrieb durchaus Probleme bereitet. Sie ist aufgrund ihrer Größe für die Benützung gesperrt, doch man kann derzeit auch keine Alternative zum Original anbieten. Einem Zettelkatalog des Bildarchivs zufolge, der bei der Kurzbeschreibung des Bandes den Vermerk „Nicht paginierbar“ enthält, scheute man noch in den 60er oder 70er Jahren des 20. Jahrhunderts davor zurück, die Seiten zu foliieren. Das ist dann später doch geschehen; offenbar überlegte man eine Schutzverfilmung mit Mikrofilm, was natürlich wieder verworfen worden ist. Für eine Digitalisierung des Bändchens müsste man eigentlich die Blätter aus dem Einband lösen, womit man aber die handwerkliche Meisterleistung des Buchbinders zerstören würde. So bleiben vorläufig nur einige von Wolfgang Kreuzer vom Institut für Restaurierung angefertigte Aufnahmen, um eine der kuriosesten Handschriften des Hauses zumindest ansatzweise zu dokumentieren.

Über den Autor: Mag. Friedrich Simader ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Sammlung für Handschriften und alte Drucke der Österreichischen Nationalbibliothek.

Quellen:

1 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. Ser. n. 9848, Zettel zu Cod. 2666.
2 Georg Th. von Karajan, Verzeichniss der unter Glas ausgelegten Schaustücke in der k. k. Hofbibliothek zu Wien, Wien 1847, S. 12, Nr. 5.
3 Vgl. www.youtube.com/watch
4 Vgl. Robert Moynihan (Komm.), Messen des heiligen Franz von Assisi und der heiligen Anna: Vat. lat. 11254 [16. Jahrhundert]. Faksimile- und Kommentarband. Zürich 1987.
5 Vgl. Hansmartin Decker-Hauff u.a. (Komm.), Livre d'heures Maria Stuart. Faksimile-Ausgabe der Handschrift aus dem Besitz des herzoglichen Hauses Württemberg; Handschrift, entstanden 1510/15 in Tour. Faksimile- und Kommentarband. Darmstadt 1988, bes. S. 98.
6 Vgl. Andreas Fingernagel u. Christian Gastgeber (Hrsg.), Im Anfang war das Wort. Glanz und Pracht illuminierter Bibeln. Ausstellungskatalog Wien 2004, Nr. I.9 (Chr. Beyer).
Vgl. Lisl Alker u. Hugo Alker, Das Beutelbuch in der bildenden Kunst. Ein beschreibendes Verzeichnis. Mainz 1966.
www.bl.uk/catalogues/illuminatedmanuscripts/record.asp
9 Wien, ÖNB, Cod. Ser. n. 17056, fol. 498r.
10 Vgl. skd-online-collection.skd.museum/Details/Index/1100504
11 Vgl. data.onb.ac.at/rec/AC09800358
12 Vgl. z. B. data.onb.ac.at/rec/AC09800335

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