Zwei zeitgenössische Kataloge erschließen die Musikbibliothek Kaiser Karls VI. auf unterschiedliche Weise.
Autor: Benedikt Lodes
Im Herbst 2022 wurde der erste Teil eines auf sechs Jahre angelegten Digitalisierungsprojekts rund um die Partituren aus der Zeit Kaiser Karls VI. abgeschlossen. Im Zuge dieses Projekts, dessen Portal seit einigen Monaten online zugänglich ist, werden jedoch nicht nur die Partituren selbst, sondern auch zwei zeitgenössische Kataloge digitalisiert, deren Form und Inhalt in diesem Blogbeitrag genauer nachgegangen werden soll.
Unter der Signatur Mus.Hs.2452 verwahrt die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek den „Catalogo Delle Compositioni Musicali. Continente, Oratori Sacri, Componimenti da Camera, Serenate, et Opere. Composte, e Rappresentate, sotto il Gloriosissimo Governo della S:a Ces:a e Real Catt:ca M:stà di Carlo VI. Imperadore de’ Romani sempre Augusto. dall’A:o 1712. […]”
Das heute unter Mus.Hs.2453 geführte Inventar trägt den Titel „Catalogo Musicale. Continente Opere, Feste, Serenate, ed Oratori Sacri”.
Auf den ersten Blick nennen die beiden Titel fast die gleichen Inhalte. Sie kündigen ein Verzeichnis von Opern und anderen musikdramatischen Werken sowie Oratorien an, wobei im Fall des ersten Bandes noch „Componimenti da Camera“ hinzutreten. Trotz der inhaltlichen Überschneidungen lässt sich schon aus der Formulierung der Titel erahnen, dass der Band Mus.Hs.2452 einen offizielleren Charakter hat. Das wird durch sein Äußeres unterstrichen: Er hat im Wesentlichen dieselbe gehobene Ausstattung wie die darin verzeichneten Partituren, ist in rotbraunes Leder gebunden und trägt an den Rändern der Buchdeckel ähnliche, mit Rollenstempeln geprägte florale Ornamente.
Auch die Einträge erfüllen kalligraphisch höhere Ansprüche als die des Bandes Mus.Hs.2453, dessen ursprüngliche Ausstattung wir allerdings heute nicht mehr kennen, da er im späten 19. Jahrhundert vom k. u. k. Hofbuchbinder Pannagl mit einem neuen Einband versehen wurde.
Der „Prachtkatalog“ ist eine chronologische Auflistung von Werken, die während der Regierungszeit Karls VI. aufgeführt wurden, wobei besonders im Appendix auch Werke aus der Zeit vor seiner Krönung 1712 aufgelistet sind. Der Katalog trennt die Inhalte in drei Abschnitte: Der erste Teil widmet sich den Oratorien, also nicht-szenischen, geistlichen Werken, die ab 1712 aufgeführt wurden, der zweite Teil umfasst die Opern. Beide Teile beginnen die aufgeführten Werke jeweils bei 1 zu zählen und laufen bis zum je letzten genannten Werk durch, sie enden bei den Oratorien bei Nr. 97, mit „La Maria Lebbrosa“, und bei den Opern mit „L’Alloro illustrato“, Nr. 119, beide komponiert vom Hofkomponisten Georg Reutter dem Jüngeren.
Etwas anders verhält es sich beim dritten Abschnitt, einem Appendix, der zunächst Werke aus der Zeit vor der Regentschaft Kaiser Karls VI. anführt und dann diverse ihm gewidmete Werke anschließt. Diese Liste beginnt ebenfalls bei Nr. 1, behält aber über mehrere Gattungen hinweg einen geschlossenen Zahlenkreis bei: Nr. 1 bis 26 führt Sepolcri und Oratorien auf, die bis 1711 am Heiligen Grab Christi in der Hofburgkapelle aufgeführt wurden. Sepolcri sind szenisch aufgeführte geistliche Werke für die Karwoche, die vor allem unter Leopold I. und auch noch Joseph I. gepflogen wurden, unter Kaiser Karl VI. aber dem Oratorium wichen.1
Nr. 27 bis 109 schließlich führt Werke verschiedener Art zusammen und bindet auch solche ein, die vor 1712 entstanden sind. Das betrifft zum Beispiel Werke, die Karl schon vor der Kaiserkrönung, etwa in seiner Zeit in Barcelona, gewidmet wurden. Vieles davon ist Kammermusik im Wortsinn, für einen privateren höfischen Rahmen gedacht, und umfasst weltliche Werke wie Kantaten und kleinere dramatische Werke, aber auch Messen.
Vom Zweck her ist dieser prachtvollere Katalog vermutlich eine Mischung aus Katalog der Bestände der kaiserlichen Partiturenbibliothek und Dokumentation des Musikgeschehens am Hof Karls VI. Dies lässt sich aus den „Repplicato“- Eintragungen erkennen, die manche Werke tragen: Auch ohne dass eine neue Partitur in die Bibliothek gekommen wäre, wurde ergänzt, wenn ein Werk aus den schon angeführten nochmals aufgeführt wurde. Die Raison d’être des Bandes war also wohl nicht, die Bände der Bibliothek zu erfassen, sondern Aufführungen darin zu verzeichnen. Da die Partitur zu jeder Aufführung gebunden und abgeliefert wurde, fällt die Funktion dieses Verzeichnisses jedoch mit jener eines Inventars in eins.
Der zweite Katalog versammelt in sich zu einem großen Teil dieselben Werke, ist dabei allerdings weniger vollständig und ordnet sie anders an. Der lapidare Titel und die einfachere Ausführung, die auch zahlreiche Schreibfehler enthält, lassen darauf schließen, dass er keinen repräsentativen Charakter hatte.
Es ist zu beobachten, dass der Katalog nur Werke verzeichnet, zu denen Instrumentalstimmen vorhanden sind.2 Diese ordnet er im Hauptteil nicht chronologisch, sondern alphabetisch nach Werktitel an. In einem „Compendio“ werden dieselben Werke dann noch einmal in der Folge der Ordnungszahlen aus dem „Prachtkatalog“ wiedergegeben und in zwei Appendices um Werke aus der Zeit Josephs I. ergänzt.
Der repräsentativ gestaltete Katalog Mus.Hs.2452 dokumentiert nicht nur Komponist, Librettist und Werktitel, sondern auch Anlass der Aufführung, Aufführungsdatum, Aufführungsort und Wiederaufnahmen. Er ist damit Spiegel der Partituren selbst, die auf den Titelseiten diese Informationen ebenfalls enthalten und zusätzlich – neben den Dramatis personae – auch die jeweilige Besetzung bei der Uraufführung ausweisen.
Bedenkt man die bedeutende Rolle der Musik am Hof Karls VI., ist diese gehobene Form ihrer Dokumentation sehr gut nachvollziehbar. Wie schon seit einigen Jahren erforscht wird3, spielte Musik als Teil des Gesamtensembles der Künste am kaiserlichen Hof eine staatstragende Rolle. Sie war Teil eines ikonographischen Gesamtprogramms, das am umfassendsten in der Oper verwirklicht wurde, und das Ziel verfolgte, den Herrschaftsanspruch Karls VI., später auch die nicht unkritische Thronübergabe an seine älteste Tochter Maria Theresia, immer wieder aufs Neue zu legitimieren und zu unterstützen. Wie Panja Mücke zeigte, erfolgte dies in der Ära Karls VI. zunehmend durch die Wahl von Stoffen der römischen Antike, die vor allem ab Metastasios Wirken als Hofpoet vom Kaiser eingefordert wurden und das Narrativ einer translatio imperii, also des ideellen Übergangs der römischen Kaiserwürde auf die deutsche, stützen sollte.4
Für welchen Zweck der zweite Katalog geschaffen wurde, liegt im Dunkeln. Wie man es vom Katalog eines Musikarchivs erwarten würde, nennt er nur Informationen mit eher praktischer Dimension: Komponist, Titel, Entstehungsjahr und Bandanzahl der zugehörigen Partitur. Anlässe, Aufführungsorte und Librettisten spielen keine Rolle. Da er nach dem Tod Karls VI. angelegt wurde5, diente er nicht dem Gebrauch durch den Kaiser und war kein laufendes Inventar.
Denkbar ist, dass der Stimmenkomplex nach dem Tode Karls VI. für die weitere Verwahrung verlistet wurde. An das Archiv der Hofmusikkapelle übergeben wurde die Bibliothek Karls VI. jedoch erst Jahrzehnte später unter Joseph II.
Da die beiden Kataloge dasselbe Werkkorpus aus zwei klar unterscheidbaren Perspektiven beleuchten, haben sie einen hohen Quellenwert. Zusammengenommen liegt mit der Musikbibliothek Karls VI. in Form von Partituren und Stimmen sowie den dazugehörigen Katalogen ein ausgesprochen geschlossener, hervorragend erhaltener Werkkomplex vor.
Für die großzügige Unterstützung des Digitalisierungsprojektes danken wir sehr herzlich den Österreichischen Lotterien.
Über den Autor: Dr. Benedikt Lodes ist Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.
1 Seifert, Herbert (2011): Kapitel Barock, in Elisabeth Th. Fritz-Hilscher, Helmut Kretschmer (Hg.): Wien. Musikgeschichte. Von der Prähistorie bis zur Gegenwart, Wien: Lit, S. 209.
2 Lodes, Benedikt: Die Kataloge zur Musikbibliothek Kaiser Karls VI. [in Vorbereitung]
3 vgl. z. B. Fritz-Hilscher, Elisabeth (Hg.) (2013): Im Dienste einer Staatsidee. Künste und Künstler am Wiener Hof um 1740, Wien: Böhlau.
4 Mücke, Panja (2022): Oper im ikonographischen Gesamtprogramm. Antonio Caldaras Kompositionen für den Wiener Kaiserhof, in: Musiktheorie, Jg. 37, Nr. 2, S. 151–160.
5 Lodes, Benedikt: Die Kataloge zur Musikbibliothek Kaiser Karls VI. [in Vorbereitung]
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