Die umfangreiche Korrespondenz Ludwig Wittgenstein mit Ben Richards, zu der die Österreichische Nationalbibliothek kürzlich einen weiteren bedeutenden Teil erwerben konnte, gibt berührende Einblicke in die letzten Lebensjahre des bedeutenden Philosophen.
Autor: Alfred Schmidt
Die umfangreiche Korrespondenz Ludwig Wittgenstein mit Ben Richards, zu der die Österreichische Nationalbibliothek kürzlich einen weiteren bedeutenden Teil erwerben konnte, gibt berührende Einblicke in die letzten Lebensjahre des bedeutenden Philosophen.
Die letzten fünf Lebensjahre Ludwig Wittgensteins waren geprägt von einer tiefen emotionalen Beziehung zu dem um 35 Jahre jüngeren Londoner Medizinstudenten Ben Richards (1924-1995). Die Liebe zu Richards veränderte Wittgensteins gesamte Lebensperspektive und wurde zum Mittelpunkt seiner letzten Lebensjahre. Ihre enge Freundschaft bestand von Herbst 1945 bis zu Wittgensteins Tod im April 1951.
Vom Juni 1946 datieren die ersten einer langen Reihe von Briefen zwischen Wittgenstein und Richards. Bereits 1995, kurz nach Ben Richards Tod, konnte die Österreichische Nationalbibliothek von seiner Frau Tara 150 Briefe Wittgensteins an ihren Mann erwerben. Sie blieben auf Ben Richards testamentarischen Wunsch bis zum Jahr 2020 für die Öffentlichkeit gesperrt. Im Zuge der Vorbereitung einer Edition dieser Briefsammlung informierte mich Miranda Richards, die Tochter Bens Richards, dass sich noch weitere Briefe von Wittgenstein und ihrem Vater in ihrem Besitz befinden: nämlich über 100 Briefe von Ludwig Wittgenstein an Richards sowie über 80 Gegenbriefe von letzterem an Wittgenstein, dazu zahlreiche Glückwunschkarten, Telegramme sowie Fotos (Ben Richards Briefe an Wittgenstein wurden nach dessen Tod 1951 an den Schreiber zurückgegeben). 2021 konnte die Österreichische Nationalbibliothek auch diesen bis dahin völlig unbekannten Teil der Korrespondenz Wittgenstein – Richards erwerben. Die neuen Briefe fügen sich exakt in die Lücken der bereits vorhandenen Briefsammlung ein, die nun einen Zeitraum vom Juni 1946 bis April 1951 abdeckt. Richards Antwortbriefe ergänzen die bislang einseitige Korrespondenz und ermöglichen ein noch detaillierteres Bild dieser letzten und engsten Beziehung in Wittgensteins späten Lebensjahren.
Es handelt sich um die größte Entdeckung unbekannter Originalquellen zu Ludwig Wittgenstein der letzten 25 Jahren und um die quantitativ umfangreichste Korrespondenz zu Wittgenstein überhaupt. Der bedeutende Wittgenstein-Bestand der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek konnte damit um einen wesentlichen Aspekt erweitert werden. Eine Publikation des gesamten Briefwechsels Wittgenstein – Richards ist in Vorbereitung.
Ben (Robert Benedict Oliver) Richards entstammte einer Londoner Ärztefamilie. Seine Mutter, Noel Olivier, aufgewachsen in einem links-liberalen Elternhaus, war zusammen mit ihren drei älteren Schwestern eine schillernde Figur1. Von Virginia Woolf wurde der Freundeskreis um die Olivier-Schwestern und den englischen Dichter Rupert Brooke (1887-1915) wegen ihrer naturverbundenen, freizügigen Lebensweise als „Neo-Pagans“ bezeichnet. Brooke, der nach seinem frühen Tod im Ersten Weltkrieg in Großbritannien zu einem nationalen Idol wurde, verliebte sich leidenschaftlich in die erst 15-jährige Noel2. Zusammen mit ihren drei Schwestern stand sie dem Bloomsbury-Kreis und den Apostles nahe. Der Vater der vier Olivier-Schwestern, Sydney Olivier, war viele Jahre englischer Gouverneur in Jamaica, außerdem einer der führenden Köpfe der sozialistischen Fabian-Society und mit Persönlichkeiten wie H.G. Wells und G.B. Shaw eng befreundet.
Wittgenstein lernt Richards Ende 1945 als Hörer seiner Vorlesungen in Cambridge kennen. Im Juli 1946 taucht sein Name erstmals in einer teilweise codierten Bemerkung in Wittgensteins Manuskripten auf. Der Eintrag gibt einen berührenden Eindruck von Wittgensteins emotionaler Erschütterung durch die Begegnung mit Richards:
„Ich bin furchtbar bedrückt. Über meine Zukunft ganz und gar unklar. Meine Liebesgeschichte mit Richards hat mich ganz entkräftet. Sie hat mich während der letzten 9 Monate, wie ein Wahnsinn beinahe, festgehalten. Es ist, als wäre ich mit meiner ganzen Kraft einem Phänomen nachgerannt; manchmal mit der Hoffnung es zu erhaschen, öfter noch in Furcht oder Verzweiflung. Ich kann mir aber keinen Vorwurf machen, d.h., ich mache mir keinen darüber. War es gut, war es schlecht? Ich weiß es nicht. Ich möchte nur sagen: es war ein schreckliches Verhängnis.“ (MS 130, S. 185, Eintrag vom 22.7.1946)
In den folgenden Wochen häufen sich die Bemerkungen über Ben Richards in den Wittgensteins Manuskripten, alle im gleichen Ton einer leidenschaftlichen Liebe, die aber von Anfang an von Verlustängsten geprägt ist. Die Angst, dass seine Beziehung zu dem um 35 Jahre jüngeren Freund nicht von Dauer sein kann, beherrscht ihn und belastet ihn. Er ringt um eine gefasste Einstellung zu ihrem möglichen Ende, mit dem er jederzeit rechnet.
"Möge das Herzweh mich zur richtigen Handlung führen. Kannst du dir nicht folgendes denken: daß B. ganz aus seiner Liebe zu dir herauswächst; so nämlich, wie man sich schon als Knabe nicht mehr an das erinnert, was man als kleines Kind gefühlt hat und jede Kindeszuneigung, ohne Treulosigkeit, |desavouiert| vergißt." (MS 131, S. 26, codierter Eintrag vom 12.8.1946)
Ende September, Anfang Oktober 1946 verbringt Wittgenstein zwei Wochen mit Ben Richards. Er fühlt, dass sein inneres Gleichgewicht und auch seine Fähigkeit zu philosophischer Arbeit in dieser Zeit völlig von seiner Beziehung zu Ben Richards abhängig sind.
"Alles ist Glück! Ich könnte jetzt so nicht schreiben, wenn ich nicht die letzten 2 Wochen mit B. verbracht hätte. Und ich hätte sie nicht so verbringen können, wenn Krankheit oder irgend ein Unfall dazwischen gekommen wäre. — (!!!)" (MS132, S. 147 codierter Eintrag vom 8.10.1946)
"Kannst du nicht auch ohne seine Liebe fröhlich sein? Mußt du ohne diese Liebe in Gram versinken? Kannst du ohne diese Stütze nicht leben? Denn das ist die Frage: kannst du nicht aufrecht gehn, ohne dich auf diesen Stab zu lehnen? Oder kannst Du dich nicht entschließen ihn aufzugeben? Oder ist es beides? – Du darfst nicht immer Briefe erwarten, die nicht kommen! Aber wie soll ich es ändern? Es ist nicht Liebe, was mich zu dieser Stütze zieht, sondern, daß ich auf meinen zwei Beinen allein nicht sicher stehen kann." (MS 133, S. 42v, 43r, codierter Eintrag vom 27.11.1946)
Der Briefwechsel in seiner Gesamtheit ermöglicht einen detaillierten Einblick in die folgenden Jahre dieser engen Freundschaft. Wittgenstein wiederholt immer wieder, dass Richards für ihn zum wichtigsten Rückhalt und zur einzigen Quelle echter Lebensfreude geworden ist. Nach jedem Zusammentreffen mit dem Freund bedankt Wittgenstein sich überschwänglich und betont, wie sehr er die gemeinsame Zeit genossen habe. Er beschwört Richards, regelmäßig zu schreiben und beklagt sich bitter über längere Schreibpausen, die ihn stets in Depressionen stürzen. Seine Gefühle für Richards drückt er in fast wörtlich wiederholten Wendungen wie „I think of you constantly with love.“ und “God bless you” aus. Vielen seiner Briefe legt Wittgenstein getrocknete Pflanzen bei, und auch Richards schickt ihm diese Zeichen der gegenseitigen Zuneigung.
Wittgenstein besucht Richards, der seine praktische medizinische Ausbildung am „Barts“-Hospital in London absolviert, regelmäßig an den Wochenenden, bzw. wird von Richards in Cambridge besucht. Gemeinsame Urlaube verbringen sie in Cornwall und Swansea, Wittgensteins bevorzugtes Feriendomizil in dieser Zeit. Er nimmt regen Anteil an Richards Ausbildung zum Arzt, versucht ihn zu motivieren und Rückhalt zu geben. Nach der Niederlegung seiner Professur in Cambridge Ende 1947 verbringt Wittgenstein viele Monate in Irland, zunächst im County Wicklow, später in Rosro, einem entlegenen Ort in Connemara an der irischen Westküste. Aus der irischen Einsamkeit schreibt er an seinen Freund: „Your letters are food + drink for a whole week and that’s no exaggeration. … I have often been thinking that if it weren’t for you I couldn’t live here at all.” (Brief vom 4. Juni 1948).
Von einem längeren Aufenthalt bei seinem Schüler Norman Malcolm in den USA im Sommer 1949 kehrt Wittgenstein bereits schwer gezeichnet von seiner schließlich tödlichen Krebserkrankung zurück. Mit Richards, der mittlerweile sein Medizinstudium abschließen konnte, unternimmt er noch im Herbst 1950 eine letzte Reise nach Norwegen. Sie besuchen zusammen sein 1914 errichtetes, einsam über dem Eidsvatnet-See gelegenes Haus nahe Skjolden.
Bei seinem Tod am 29. April 1951 ist Ben Richards unter den an Wittgensteins Sterbebett versammelten Schülern und Freunden. Die Beziehung zu Ben Richards hat Wittgensteins Leben aber auch sein Denken in seinen letzten Jahren wesentlich geprägt. Bemerkungen wie die folgende reflektieren seine tiefe emotionale Beziehung zu ihm und zeigen eine andere, bisher kaum beachtete Seite in Wittgensteins Denken.
"Die Liebe, sie ist die Perle von großem Wert, die man am Herzen hält, für die man nichts eintauschen will, die man als das Wertvollste schätzt. Sie zeigt einem überhaupt – wenn man sie hat – was großer Wert ist." (MS 133, S. 8r ff., codierter Eintrag vom 26. Oktober 1946)
Über den Autor: Dr. Alfred Schmidt ist wissenschaftlicher Assistent der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek.
Der gesamte Wittgenstein-Nachlass ist mittlerweile online zugänglich in der vom Wittgenstein-Archiv Bergen herausgegebene Bergen Nachlass Edition (BNE) auf Wittgensteinsource .
1 Vgl. dazu die 2019 von Sarah Watling publizierte Biographie der vier Olivier-Schwestern mit dem Titel: Noble Savages : the Olivier sisters : four lives in seven fragments, Oxford University Press.
2 Noel Oliviers Briefwechsel mit Brooke erschien 1991 unter dem Titel: Song of love: the letters of Rupert Brooke and Noël Olivier (1909-1915), Pippa Harris (ed.), New York: Crown Publishing 1991
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