In den Wunderkammern des 16. und 17. Jahrhunderts fand sich so manches sogenannte Einhorn-Horn. Diesen Hörnern wurden wundersame Eigenschaften nachgesagt, vor allem große Heilwirkung. Die Existenz des sagenumwobenen Landtieres war aber keineswegs unumstritten; dänische Wissenschafter arbeiteten an seiner Entzauberung.
Autorin: Solveigh Rumpf-Dorner
„Träncklein bey anhaltenden hitzigen Fiebern bey Kindern: Cardbenedietenwasser (Benediktenkrautsaft). Erdbeerwasser. Rosenwasser. Sauer Kirschen-Syrup. Schweißtreibend Spießglas. Pilosophice bereit Hirschhorn. Gegraben Einhorn. Mische alles zusammen in ein Glas.“1
Dieses Rezept ist nur ein Beispiel für unzählige Zubereitungen mit pulverisiertem Einhorn, wie sie einige Jahrhunderte lang in Arzneibüchern auch der bedeutendsten Ärzte zu finden waren. Das „gegraben Einhorn“ bezog sich auf Fossilienfunde, die man ihres einzelnen Vorkommens und ihrer Form nach nur als Einhorn-Hörner interpretieren konnte. Andere Medizinen erforderten „echtes Einhorn“, das nie im Boden gelegen war. Dieses war meist lang, schmal und spiralförmig gedreht, wie man es von keinem anderen Tier in Europa kannte.
Diese Hörner waren hochgeschätzt, nicht nur wegen ihrer besonderen Form, sondern auch wegen ihrer geheimnisvollen Eigenschaften und wegen der zahlreichen Legenden, die sich um das rätselhafte Geschöpf rankten: Es sei ein Paarhufer, ähnle einem Böcklein, einer Ziege oder einem Pferd; sehr kräftig sei es, aber scheu und einzelgängerisch; auch in der Bibel werde es erwähnt, dieses Monoceros, Unicornu(u)s oder Einhorn.2 Es sei das keuscheste und tugendhafteste aller Tiere und ließe sich nur von einer Jungfrau fangen. Letztere Vorstellung fand Eingang in die christliche Symbolik: Das Einhorn stand hier für Christus, der aus dem Schoß der Jungfrau Maria geboren war.
Ein solch besonderes Objekt war natürlich ein begehrtes Sammlerstück in den Kunst- und Wunderkammern der Fürsten, die zudem auch auf eine weitere Eigenschaft des Einhorn-Horns bauten. Es hieß nämlich, dass es Gifte neutralisieren könne (tatsächlich wurde es manchmal zum „Vorkosten“ an fürstlichen Tafeln verwendet) und die verschiedensten Beschwerden heile. Auch einfache Leute, die keine Giftanschläge zu befürchten hatten, schätzten Letzteres und kauften geriebenes Einhorn-Horn oder daraus bereitete Medizin – vgl. das Rezept am Anfang dieses Artikels.
Obwohl namhafte Gelehrte der Renaissance, wie etwa der Schweizer Conrad Gessner3, nicht an der Existenz dieses Landtieres zweifelten, äußerten andere Bedenken. Wohl gab es Berichte von Einhornsichtungen außerhalb Europas, doch in Europa hatte man noch nie ein lebendes oder totes Einhorn zu Gesicht bekommen, und man hatte auch noch nie einen Einhornschädel mit intaktem, noch darin befestigtem Horn gefunden. Auch wurde zu bedenken gegeben, dass die römischen Kaiser und Feldherren bei ihren Triumphzügen die unterschiedlichsten exotischen Tiere mitgeführt hätten, darunter aber kein einziges Einhorn.
Dass es See-Einhörner geben konnte, schien schon wahrscheinlicher, denn Einhorn-Hörner wurden vorwiegend von den Fischern Grönlands und Islands den skandinavischen Kaufleuten angeboten. Auch fanden sich Nachrichten von gehörnten Fischen bei mehreren Autoren; so beschrieb etwa der schwedische Geistliche und Geograph Olaus Magnus einen „Monoceros“, ein „Meeresungeheuer, das ein riesiges Horn auf der Stirn trägt, mit dem es die ihm entgegenkommenden Schiffe durchbohren und zerstören und eine große Zahl von Menschen vernichten kann“.4 Der italienische Anatom Gabriele Falloppio wiederum hatte die Einhorn-Hörner, die man den Besuchern des Domschatzes von San Marco in Venedig und von St. Denis in Paris zeigte, selbst besichtigt und befand, dass sie eher einem Zahn oder Knochen glichen als einem Horn.5
1628 veröffentlichte der Kopenhagener Medizinprofessor Caspar Bartholin einen Traktat, in dem er die Beobachtungen und Zweifel seiner Fachkollegen zum Thema Einhorn zusammenfasste und sich dafür aussprach, dass die „Hörner“ von einem Fisch stammten. Der Beweis, dass es sich bei den gezeigten Einhorn-Hörnern tatsächlich um die Stoßzähne von männlichen Narwalen handelte, gelang schließlich Caspar Bartholins Schwager, dem königlichen Leibarzt und Archäologen Ole Worm. Worm hatte in Kopenhagen eine Wunderkammer eingerichtet, die vor allem eine bedeutende Schausammlung von Naturalien umfasste: Das berühmte „Museum Wormianum“, eines der ersten öffentlich zugänglichen Museen überhaupt. Dort waren auch Narwalschädel zu sehen, die noch mit dem dazugehörigen Zahn verbunden waren.
In einem Brief an den französischen Diplomaten Isaac De La Peyrère beschrieb Worm seine Begeisterung, als er erstmals einen solchen halbwegs intakten Narwalschädel zu sehen bekam. Der königliche Kanzler Christian Friis „ließ auch alsobald herbringen einen grossen gantz dörren Haupt-Schädel / worinne ein Stumpff von dergleichen Horn innen stack / ohngefehr vier Schuch lang. Ich war nicht wenig erfreuet / ein solch seltsam und köstlich Ding in meinen Händen zu sehen“. Worm stellte fest, „daß dieser Hauptschedel eigentlich sich vergleiche mit dem Kopff eines Wallfisches; dann er hatte im obern Theil zwey Löcher … Außer Zweifel sind diese die Oeffnungen der Röhren / wodurch dieser Fisch das eingesoffene Wasser wieder ausspeyt. Ich bemerckte auch / daß das jenige / welches man sein Horn nennet / angehefft war in dem lincken Theil oben im Rachen“6 In Worms Beschreibung seines Museums, im Jahr nach seinem Tod von seinem Sohn Willum veröffentlicht, finden sich Bilder und Texte zu seinen eigenen Narwal-Exponaten.
Ole Worms Neffe Thomas Bartholin (1616-1680), der Sohn Caspar Bartholins, war einer der berühmtesten Anatomen seiner Zeit; so beschrieb er als erster den Milchbrustgang beim Menschen, einen Teil des lymphatischen Systems.7 Bartholin veröffentlichte neben seinen zahlreichen Werken zu Medizin und Anatomie auch „Neue Beobachtungen über das Einhorn“ (De unicornu observationes novae, Padua 1645). Darin beschrieb er gehörnte Wesen aus Legende, Geschichte und der Natur, von der Überlieferung nach gehörnten Propheten Moses bis zur Hornviper – sozusagen eine kurze Kultur- und Naturgeschichte der Hörner. Der Arzt schildert auch den Fall einer Patientin, der etwa 70jährigen Holländerin Margaretha Mainers, die unter einer krankhaften Hautveränderung litt: Einem Hauthorn (cornu cutaneum), das bereits so lang war, dass die bedauernswerte Frau es um den Kopf gewunden trug.
Der Hauptzweck von Bartholins Buch war allerdings, die Arbeiten seines Vaters und Onkels zum See-Einhorn, dem „Narhual“, zu propagieren. Andere Gelehrte seiner Generation griffen die neuen Erkenntnisse auf, und so fand der Narwal schnell seinen Platz in der naturwissenschaftlichen Literatur des späteren 17. Jahrhunderts.
Was aber bedeutete das für die Einhorn-Medizin? Waren die Rezepte aus den Arzneibüchern der bekanntesten Ärzte damit als unwirksam enttarnt? Schließlich konnte ein schlichter Wal nicht den Nimbus des berühmten Wundertieres für sich in Anspruch nehmen. Würden die Fischer Islands und Grönlands, die Kaufleute, Zwischenhändler und Apotheker nun um eine wichtige Einkommensquelle gebracht werden? In einer zweiten, erweiterten Ausgabe der „Neuen Beobachtungen über das Einhorn“ (Amsterdam 1678) folgte die Entwarnung: Bartholin befand, dass sich in der medizinischen Praxis erwiesen hatte, dass die Patienten von Arzneien mit geriebenem Narwalzahn durchaus profitierten. Obwohl nun allgemein bekannt war, dass das „Einhornpulver“ nicht vom sagenumwobenen Landtier stammte, behielt es seinen Namen und sollte sich als Pharmazeutikum noch weit bis ins 18. Jahrhundert hinein einiger Beliebtheit erfreuen. Das zeigt auch das Rezept des Kinder-Tränckleins ganz oben: Es wurde 1716 gedruckt und ist keineswegs das letzte Beispiel für Einhorn-Medizin in Europa.
Übrigens: Auf dem Frontispiz der zweiten Edition von „De unicornu Observationes Novae" findet sich ironischerweise ein prächtiges Einhorn – nun endgültig in Pferdegestalt – mit einer ebenfalls gehörnten Jungfrau.8
„De unicornu Observationes Novae“, Volltext.
„Museum Wormianum“, Volltext.
Über die Autorin: Mag. Solveigh Rumpf-Dorner ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek.
1 Johann Jacob Bräuner, Außerlesenes ... Medicinalisch Hand-Büchlein, Frankfurt 1716, S. 64.
2 Die Übersetzer hatten das hebräische Wort „re’em“, einen ihnen unbekannten Tiernamen, fälschlich mit „monoceros“ oder „unicornus“ (Einhorn) wiedergegeben, und Martin Luther hatte für seine Bibelübersetzung diese Interpretation übernommen.
3 Conrad Gessner, Icones Animalium Quadrupedum Viviparorum Et Oviparorum (etc.), Zürich 1560, S. 62.
4 Olaus Magnus (Olof Månsson, 1490-1557): Olai Magni Gentium Septentrionalium Historiæ Breviarium, Amsterdam 1669, S. 463.
5 Gabriele Falloppi (gest. 1562): Gabrielis Falloppii ... Omnia, Que extant Opera, Venedig 1584, Bl. 116v.
6 In: Isaac De La Peyrère, Ausführliche Beschreibung … Grönlans, Nürnberg 1679, S. 27.
7 Kurz zuvor hatte Jean Pecquet erstmals den Milchbrustgang bei Hunden beschrieben.
8 Letzteres nimmt wohl Bezug auf ein Kapitel des Buchs, in dem anhand von Münzportraits ein altrömischer Modetrend für Damen beschrieben wird, nämlich hornähnlich geformte Haarflechten.
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