ISSN: 1680-8975 PURL: http://purl.org/sichtungen/ |
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Hans-Gert Roloff: Drei Editionsprojekte zur neueren deutschen Literatur an der Freien Universität Berlin. Wilhelm Bölsche - Klabund - Ferdinand Bruckner (11. 12. 2001). In: Sichtungen online, PURL: http://purl.org/sichtungen/roloff-hg-1a.html ([aktuelles Datum]). - Auch in: Sichtungen 3 (2000), S. 186-200. |
Hans-Gert Roloff Marthastraße 4A, D-12205 Berlin Adressinformation zuletzt aktualisiert: 2000 |
Drei Editionsprojekte zur neueren deutschen Literatur an der Freien Universität BerlinWilhelm Bölsche - Klabund - Ferdinand BrucknerHans-Gert Roloff |
[3/ S. 186:] Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts hat sich das Editionswesen in den Geisteswissenschaften von einer Hilfsdisziplin zu einem Studiengebiet ›Editionswissenschaft‹ ausgeweitet, das sich in aller Ausführlichkeit mit den theoretischen und praktischen Problemen der wissenschaftlichen Erschließung geschichtlich bedeutsamer Quellen befaßt. So etwa läßt sich der letzte Stand der Editionswissenschaft in ihrer kontinuierlichen Entwicklung charakterisieren. Freilich sind seit der Antike im Abendland im steten Fluß Texte der Vergangenheit neu vorgelegt und für das jeweils zeitbedingte Verständnis durch Kommen- [3/ S. 187:] tare erschlossen worden. Dabei haben sich die editorischen Verfahrensweisen ihre eigene Geschichte geschaffen und die auf diesem Gebiet Tätigen haben die wichtigsten kulturtragenden Impulse in Gestalt von Editionen präsentiert. Für den Historiker sind die Texteditionen und deren Kommentierungen ihrerseits zu aufschlußreichen Zeugnissen für Mentalitäten, für Kenntnisse, für geistige Interessen, für den literarischen Geschmack vergangener Epochen geworden. Daß Editionen brisanter Texte zündende Funktionen in ideologischen Auseinandersetzungen haben können, zeigt sich immer wieder.[1] Das hat allmählich zu der Einsicht geführt, daß wissenschaftliche Editionen bisher nicht-editorisch erschlossener Texte gleich welcher Art und gleich welcher Disziplin innovative Erkenntnisfortschritte in den betreffenden Fachgebieten bewirken. Insofern liegt es nahe, die breite Skala editorischer Verfahrensweisen zu besonderen Lehraufgaben im akademischen Unterricht zu qualifizieren. Der Status des Editionsgeschäfts als leicht handhabbarer philologischer Hilfswissenschaft hat sich in den eines umfassenden Sektors der geisteswissenschaftlichen Grundlagenforschung modifiziert; ihm obliegt die Verpflichtung, für wissenschaftlich einwandfreie Quellenerschließung zu sorgen. So fordert die Bedeutung, die die Editionswissenschaft der Zeit erlangt hat, deren Integration in die akademischen Ausbildungskonzepte, freilich nicht als generelles Fach, sondern als speziellen interdisziplinären Studiengang, der Theorie und Praxis der Verfahrensweisen lehrt und die Phänomene sachgerechter Quellenerschließung in eigener Forschung weiter entwickelt. Die akademische Qualifizierung der Editionswissenschaft hat bereits begonnen: Neben höchst effizienten internationalen Arbeitsgemeinschaften sind mehrere erfolgreiche Versuche unternommen worden, spezielle Studiengänge an den Universitäten zu entwickeln, so z. B. an den Universitäten in Amsterdam, Berlin (FU), Hamburg, München und Osnabrück.[2] Es ist zu wünschen, daß sich weitere wissenschaftliche Institutionen offiziell entschließen, ihre Ausbildungskonzepte um das Fach der Editionswissenschaft zu bereichern. Dafür sprechen nicht nur wissenschaftliche Gründe, sondern auch die damit sich verbindenden berufskundlich-praktischen Perspektiven für Absolventen der geisteswissenschaftlichen Studiengebiete. In der Berufswelt werden gut ausgebildete Editoren mehr benötigt, als gemeinhin angenommen wird. Das Berliner Modell läuft als interdisziplinärer Studiengang kontinuierlich seit mehreren Jahren. In einem viersemestrigen Turnus werden spezielle Voraussetzungen - Handschriftenkunde, Buchkunde (einschließlich Druck- und Vertriebswesen), Bibliographie für Editoren, Edieren mit EDV - und allgemeine theoretische Grundlagen des [3/ S. 188:] Editionswesens - Ausgabentypologie, Überlieferungsprobleme, Textkritik, Textkonstitution, Kommentierung - gelehrt. Dazu gibt es fachspezifische Ergänzungsveranstaltungen, in denen die einzelnen Fächer ihre editorischen Besonderheiten vorführen. Spezielles Gewicht wird im Rahmen des Berliner Modells auf die praktische Editionsarbeit der Absolventen gelegt. Im Sinn des ›learning by doing‹ haben die Interessenten Gelegenheit, an Editionsprojekten unter Leitung eines Hochschullehrers aktiv mitzuarbeiten, und zwar nicht als zuarbeitende Hilfskräfte, sondern als eigenverantwortliche Bearbeiter von Projekten oder Teilen größerer Projekte. Bedingung ist, daß es sich in jedem Fall um wissenschaftliche Neu-Editionen handelt, deren Veröffentlichung einen weißen Fleck auf der literarischen Landkarte abdeckt. Die Projektarbeiten werden von ganz unten, von der Ermittlung der Überlieferung an, begonnen und durch alle Stufen bis zur Publikation durchgeführt. Die Funktion des Hochschullehrers ist dabei die der Beratung, der Kontrolle, der Kritik, der Koordination der Arbeitsgänge und der Einführung in die Öffentlichkeit. Die folgenden kurzen Berichte der Projektbearbeiter wollen einen ersten Einblick in drei Projekte geben, an denen neben mehreren anderen zur Zeit in Berlin gearbeitet wird und die sich in Publikation bzw. auf dem Weg dazu befinden. Alle drei Projekte sind Desiderata der Literaturwissenschaft. |
Wilhelm Bölsche: Werke und BriefeWilhelm Bölsche (1861-1939) verfügte als Schriftsteller über die bedeutende Fähigkeit, komplexe naturwissenschaftliche Sachverhalte einem größeren Publikum verständlich zu machen. Dieses Können machte ihn in der Wilhelminischen Zeit und in der Weimarer Republik zu einem hochgeschätzten und vielgelesenen Autor populärer naturwissenschaftlicher Bücher über Abstammungslehre und Entwicklungsgeschichte der Natur; in seinen Werken behandelte er das Verhältnis des modernen Menschen zur Natur und zur zeitgenössischen Naturwissenschaft. Geradezu klassisch geworden ist insbesondere sein Buch »Das Liebesleben in der Natur«. Bölsche hatte in Bonn und Paris Philosophie und Kunstgeschichte studiert und ging 1885 nach Berlin, um Schriftsteller zu werden. Er schloß schnell Bekanntschaft mit fortschrittlichen, naturalistisch denkenden Literaten wie etwa Leo Berg, Heinrich und Julius Hart, Arno Holz, Bruno Wille und Eugen Wolff. Diese Kontakte inspirierten ihn zu seinem bis heute grundlegenden Essay »Die naturwissenschaftlichen [3/ S. 189:] Grundlagen der Poesie. Prolegomena zu einer realistischen Ästhetik« (1887). Zwischen 1890 und 1893 war er Redakteur der »Freien Bühne«, dem ›Sprachrohr‹ des Berliner Naturalismus. Seine Relevanz für die heutige Wissenschaft liegt vor allem in seinem vielseitigen Interesse an Literatur, an den Naturwissenschaften und an deren Popularisierung; insbesondere in den ästhetischen und literaturkritischen Schriften verschmelzen seine Ideen zu einem theoretischen Kern, zu einer Konzeptionierung seines stark positivistisch geprägten Weltbildes. Gleichzeitig liefern seine zahlreichen Monographien, Essays und Aufsätze in Periodika der Zeit von 1885 bis 1932 persönliche Stellungnahmen des Zeitzeugen Bölsche zur naturalistischen Kunst und zur Naturwissenschaft im allgemeinen und konkreten: Bölsches Arbeiten können somit als Spiegel der einstigen Gedankenwelt, aber auch als heute noch lehrreiche Vermittlung damaliger Kunst und Wissenschaft dienen. Um der Bedeutung Bölsches nicht allein für die Naturalismusforschung Rechnung zu tragen, soll in den nächsten Jahren am Institut für Germanistik der FU Berlin unter Leitung von Hans-Gert Roloff eine wissenschaftliche Ausgabe der Werke und Briefe Wilhelm Bölsches erarbeitet werden. Angelegt ist die Ausgabe auf bislang 23 Bände, deren erster gegen Ende des Jahres 2000 im Verlag Weidler in Berlin erscheinen wird; die Edition setzt sich wie folgt zusammen: Bd. 1: Romane: Paulus; Der Zauber des Königs Arpus. 2: Romane: Die Mittagsgöttin. 3, 4: Theorie der Ästhetik und der Literatur; Über Leben und Werk einzelner Dichter-Persönlichkeiten. 5: Lebensbilder (Heine, Humboldt, Darwin). 6-9: Schriften zur Naturwissenschaft. 10: Tierbücher. 11: Das Leben der Urwelt. 12-15: Populärwissenschaftliches; Plaudereien. 16: Mensch und Welt. 17: Pädagogik, Philosophie und Religion. 18-22: Briefe. 23: Dokumentation. Gegenwärtig konzentriert sich die Arbeit auf zwei thematische Schwerpunkte: auf die Erschließung und Auswertung der umfangreichen Korrespondenz und auf die Edition der Romane und der ästhetischen und literaturkritischen Schriften. Letztere - in der Zeitspanne von 1887 bis 1932 entstanden - umfassen seine frühen theoretischen Schriften, seine Arbeiten als Redakteur der »Freien Bühne« und dokumentieren zugleich seine zentrale Rolle als einflußreicher Vordenker des Friedrichshagener Künstler- und Intellektuellenkreises. Die Bände 3 und 4, die von Jürgen Lipp bearbeitet werden, sind nach systematischen Gesichtspunkten in drei Sparten untergliedert: I. Texte zur Theorie von Ästhetik und Literatur sowie Beiträge zur Literaturgeschichte im allgemeinen und zur zeitgenössischen Naturalismusdiskussion im besonderen. Neben den »Naturwissenschaftlichen Grund- [3/ S. 190:] lagen der Poesie«, Bölsches programmatischer Monographie zur Verteidigung und Festigung der naturalistischen Literatur, sind hier zahlreiche unselbständig erschienene Aufsätze und die späte Veröffentlichung »Die Abstammung der Kunst« (1926) zu finden. II. Essays über Leben und Werk einzelner Schriftsteller. Diese Texte sind zum einen anläßlich seiner editorischen Tätigkeit bei den Ausgaben von Heinrich Heine, Wilhelm Hauff, Ludwig Uhland, Christoph Martin Wieland, Novalis, Kurt Grottewitz, Johann Wolfgang von Goethe und Angelus Silesius entstanden, zum anderen als unselbständig erschienene Hommagen. III. Rezensionen zeitgenössischer Literatur und feuilletonistische Beiträge, die Bölsche größtenteils während seiner Tätigkeit für die »Freie Bühne« verfaßte. Innerhalb der Bände werden die Texte chronologisch nach dem Datum der Erstveröffentlichung angeordnet. Da keine handschriftliche Überlieferung existiert, muß sich die Textkonstitution jeweils auf die Fassung der Erstveröffentlichung stützen, von der es bei Folgeveröffentlichungen in der Regel keine oder allenfalls geringfügige Abweichungen gibt. In den Kommentarbänden werden entstehungs- und editionsgeschichtliche Hinweise zu den Einzeltexten abgegeben. Außerdem erfolgt dort die sachliche Erschließung der Texte, die in erster Linie die intertextuellen Bezüge erläutert. Die Edition der »Schriften zur Ästhetik und Literatur« zielt darauf ab, verläßliche Grundlagen für die Naturalismusforschung zu schaffen. Die bislang auf fünf umfangreiche Bände angelegte Sammlung der Briefe basiert auf ca. 5.550 Korrespondenzeinheiten von gut 850 Zeitgenossen: Schriftsteller, Publizisten, Wissenschaftler, Künstler usw. Die Briefe gewähren nicht nur einen Einblick in Bölsches mannigfaltige Arbeitsgebiete, sie verdeutlichen auch den engen Zusammenhang von intellektuellem Austausch und privaten Beziehungen. Während seine Autobiographie »Es werde Licht im Kriege« vernichtet wurde, haben sich die an ihn gerichteten Briefe erhalten. Nach Kriegsende wurde die Sammlung von sowjetischen Militärorganen beschlagnahmt und gelangte so aus dem Bölsche-Haus in Schreiberhau in die Sowjetunion; Jahre später wurde das Korpus an Polen gegeben und befindet sich heute in der Universitätsbibliothek Wroclaw. In Kooperation der germanistischen Institute von Berlin und Wroclaw sollen im Rahmen der geplanten Edition die An-Briefe inklusive der noch zu recherchierenden Von-Briefe publiziert werden. Den transkribierten Briefen werden Erläuterungen, zum einen als Einzelstellenkommentar in bezug auf den jeweils zu bearbeitenden Brief, aber dann auch im größeren Kontext des jeweiligen Briefwechsels und auch im künstlerischen, wissenschaftlichen und persönlichen Umfeld beigegeben. [3/ S. 191:] Die Briefe erstrecken sich über einen Zeitraum von fünfzig Jahren, von 1885 bis 1936, und sind nach den Absendern gruppiert in: Wissenschaftler (459), Naturforscher (1.567), Schriftsteller (1.966), Künstler (74), Verleger (111), sonstige Zeitgenossen (373), Familie Hauptmann (414) und Familie Haeckel (276). Innerhalb der einzelnen Bände werden die Briefe nach Korrespondenten und innerhalb dieser chronologisch geordnet. Zur Zeit werden drei Bände bearbeitet: Der erste Briefband, betreut von Gerd-Hermann Susen, konzentriert sich auf Bölsches Arbeit als Redakteur und Herausgeber der Zeitschrift »Freie Bühne«, eines der wichtigsten Publikationsorgane des Naturalismus. Aufschlußreich sind hier vor allem die Briefe von Otto Brahm, als dessen Assistent Bölsche seine Arbeit an der Zeitschrift im Sommer 1890 begonnen hat. Als Redakteur und engagiertes Mitglied der Berliner literarischen Klubs knüpfte er in den Jahren bis 1893 Kontakte zu Autoren nicht nur aus Deutschland wie zum Beispiel Otto Julius Bierbaum und Gustav Falke, sondern auch aus Skandinavien (Arne Garborg, Ola Hansson) und aus Österreich (Hermann Bahr, Arthur Schnitzler), die zum Teil bis zu Bölsches Tod andauerten. Diese Briefe und besonders auch die Korrespondenz mit seinen Freunden und Mitstreitern aus dem Friedrichshagener Dichterkreis (Heinrich und Julius Hart, Arno Holz, Johannes Schlaf) zeigen ein engmaschiges Netz, das die Auseinandersetzung mit der (naturalistischen) Literatur und die vielfältigen Lebensstile der 90er Jahre lebendig werden läßt. Im zweiten Briefband, nach den gleichen Prinzipien bearbeitet von Lilianna Ryttel, wird in erster Linie die Korrespondenz Bölsches mit seinen Verlegern und seinen Redakteuren wiedergegeben; Schwerpunkt bilden dabei die langanhaltenden Korrespondenzen mit Ferdinand Avenarius und Julius Rodenberg. Darüber hinaus verdeutlichen die geschäftlichen und privaten Kontakte Bölsches u. a. zur Familie Diederichs, zu Georg Ebers, zu Friedrich Lange oder zu Paul Lindenberg die intensiven Bindungen von Autoren und Verlegern zwischen 1885 und 1930. Der dritte Briefband wird die reichhaltige Korrespondenz Bölsches mit den Familien Carl und Gerhart Hauptmann bieten. Für die Bearbeitung dieses Briefkorpus ist Ursula Günther zuständig. Die Vielzahl der in der Universitätsbibliothek Wroclaw vorliegenden Briefe der Hauptmanns an Wilhelm Bölsche seit den 90er Jahren wird erfreulicherweise durch die in den Nachlässen der Hauptmann-Brüder erhaltenen Bölsche-Briefe ergänzt. Die Korrespondenz reichte bei Gerhart Hauptmann bis in die 30er Jahre, so daß aus diesem Briefwechsel interessante Mitteilungen über die geistige Situation Deutschlands für etwa vierzig Jahre zu erwarten sind. |
Klabund: Sämtliche WerkeDie wissenschaftliche Ausgabe der Sämtlichen Werke Klabunds (eigentlich Alfred Henschke, 1890-1928) legt das Gesamtwerk des begabten, früh verstorbenen Schriftstellers vor, und zwar aufgrund der umfangreich recherchierten Überlieferung in gedruckter bzw. handschriftlicher Form. Obwohl ein großer Teil von Klabunds Nachlaß, der sich im Besitz seiner zweiten Frau, der Schauspielerin Carola Neher, befand, als verloren gelten muß, haben vielfältige Recherchen interessante, bisher unveröffentlichte Manuskripte und Typoskripte zutage gefördert, die in diese Edition aufgenommen werden können. Intention des Herausgeberteams ist es, das Gesamtschaffen des Autors so lückenlos wie möglich zu bergen und es Literaturwissenschaftlern wie interessierten Lesern zur Verfügung zu stellen. Die Struktur der Ausgabe wurde deshalb so angelegt, daß sie die Interessenten beider Benutzerkreise zu befriedigen vermag. Die Texte werden jeweils in textkritisch revidierter Form geboten; in einem knappen Anhang werden Angaben zur Provenienz des Textes mitgeteilt. Die zum Teil umfangreichen editionswissenschaftlichen Anhänge (zur Genese und Texterläuterung) werden in separaten Kommentarbänden vorgelegt. Die beiden Verlage, die die Ausgabe vertreiben - Königshausen & Neumann (Würzburg) für den deutschsprachigen Markt, Rodopi (Amsterdam) für den Markt in Europa und Übersee - haben sich bereit erklärt, im Sinn dieses Prinzips jeden Band einzeln auszuliefern, ohne zum Erwerb der Gesamtausgabe zu zwingen. Die Ausgabe tendiert damit auf eine Verschmelzung von Leseausgabe und wissenschaftlicher Ausgabe, wobei der Leser Texte von philologisch-kritischer Zuverlässigkeit erhält. Weitere Informationen finden sich in den anschließenden Kommentarbänden. Die vorbereitenden Arbeiten der Herausgeber sind zum Teil gemeinsam geleistet worden, soweit sie die Recherchen und die Aufstellung der Werk- und Forschungsbibliographie betrafen, sonst aber haben die Herausgeber jeweils eigene Werk-Komplexe übernommen, die sich aus dem Schaffensvorgang des Autors abzeichnen:
Innerhalb dieser Komplexe werden die Texte nach der Chronologie der Publikationsdaten angeordnet. Bei der Edition der Lyrik und der [3/ S. 193:] kleinen Schriften ergeben sich aus Klabunds eigentümlicher Publikationsweise insofern besondere Anordnungsprobleme, als der Autor zahlreiche Gedichte und kleine Prosatexte in Tageszeitungen, Zeitschriften, Almanachen, Theaterprogrammen usw. veröffentlichte, eine Auswahl dieser Texte aber fast gleichzeitig in thematisch ausgerichteten Sammelbänden herausgab, die ihrerseits autorgewollte Kompositionsprinzipien erkennen lassen. Dieses Phänomen kompliziert sich noch, da Klabund aus bereits vorliegenden Sammelbänden einzelne Texte in später publizierte neue Sammlungen aufnahm und sie um neue, zum Teil aber bereits einzeln veröffentlichte Gedichte oder Prosatexte vermehrte. Dies forderte von den Herausgebern, einen Ausgleich zwischen den vom Autor durch diese Anordnungen möglicherweise gegebenen Signalen und der Notwendigkeit, möglichst keinen Text mehrfach abzudrucken, zu schaffen. Die gewählte Lösung ist, die von Klabund komponierten Sammelbände nicht aufzulösen und die in ihnen enthaltenen Texte in der Reihenfolge des einzelnen Sammelbandes abzudrucken. Sind Texte in verschiedene Sammelbände aufgenommen worden, werden sie in der wissenschaftlichen Ausgabe nur einmal berücksichtigt, meist nach dem frühesten Druck. Das Inhaltsverzeichnis des betreffenden Sammelbandes wird im Anhang mitgeteilt, so daß der Benutzer die inhaltliche und formale Komposition des Bandes rekonstruieren kann. Der textgenetische Apparat gibt überdies die Überlieferungs- bzw. Druckgeschichte des einzelnen Textes genau an. Die Ermittlung der zahlreichen Einzelveröffentlichungen Klabunds, worunter vor allem Gedichte und Prosatexte fallen, erforderte die Entwicklung eines eigenen Suchsystems, das sich auf spezielle Bibliographien, Auswertung von wissenschaftlichen und publizistischen Abhandlungen zu Klabund, systematische Archivanfragen (u. a. auch bei großen Tageszeitungen und Theatern), Presseaufrufe und Konsultationen von Bibliothekaren, Antiquaren und Privatsammlern ausdehnte. Dabei sind auch Klabunds Pseudonyme eruiert worden, so daß auch unter ihnen nach Autor-Texten gesucht werden konnte: Klabund, Jucundus Fröhlich, Bauz, Klabauzke, Fred und Hans Hendrich. Trotz des sehr weit gezogenen Ermittlungsradius ist bei den breit streuenden Publikationsusancen Klabunds nicht auszuschließen, daß noch einige kleine Texte in handschriftlicher oder gedruckter Überlieferung auftauchen könnten. Insbesondere die Aufarbeitung der Nachlässe der Zeitgenossen könnte noch den einen oder anderen Text zutage fördern. So kam z. B. bei der Aufarbeitung des Nachlasses von Gottfried Benn, die im Deutschen Literaturarchiv in Marbach am Neckar vorgenommen wird, das Typoskript des bisher ungedruckten Theaterstücks [3/ S. 194:] »Der arme Kaspar« zum Vorschein. Die Herausgeber haben sehr viel Zeit und Aufwand der Phase der Ermittlung der noch erhaltenen Klabund-Texte widmen müssen. Der bloße Abdruck der gedruckten Fassungen kann einer wissenschaftlichen Ausgabe in keiner Weise genügen. Die Nachlaß-Recherchen erstreckten sich auf Deutschland, Österreich, die Schweiz und auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete (Schlesien, Neumark). Das Aufspüren der Klabund-Materialien wurde zusätzlich dadurch erschwert, daß die Hilfe von Verwandten und Freunden des Schriftstellers nicht mehr in Anspruch genommen werden konnte. Leider sind auch noch erhaltene Texte durch den Autographenhandel in alle Welt verstreut worden und entweder nicht auffindbar oder nicht zugänglich. Besonderer Dank gebührt aber dem Klabund-Sammler Jürgen Köchel (Hamburg), der in vorbildlicher Weise den Herausgebern Kopien seiner Bestände zur Verfügung stellte und ebenso dem Direktor der Kunstbibliothek Berlin, Bernhard Evers, der wertvolle Teile des Nachlasses aus familiärer Verbindung zu Klabunds erster Frau Irene besaß und dieses Material in liebenswürdigster Bereitschaft den Herausgebern zur Bearbeitung überließ. Die äußerst ungünstigen Umstände nach dem Tod des Dichters (1928) ließen eine sachgerechte Bewahrung des Nachlasses nicht zu. Infolge der familiären Verhältnisse (die Flucht Carola Nehers nach Rußland, die Zerstörung des Elternhauses in Crossen an der Oder gegen Ende des Zweiten Weltkrieges) sind große Teile des schriftlichen Nachlasses verloren gegangen. Hinzu kommt, daß im Lauf der nationalsozialistischen Diktatur die Verleger Klabunds ihre Tätigkeit in Deutschland einstellen und ins Ausland fliehen mußten. Dabei sind Handschriften, Typoskripte und Druckvorlagen, die Klabund zur Veröffentlichung an seine Verleger sandte und die in deren Beständen vermutlich lagerten, nicht gerettet worden. Da auch die meisten Archive von Zeitschriften und Zeitungen, für die Klabund arbeitete, nicht mehr existieren, dürften auch auf diesem Weg Manuskripte verloren gegangen sein. Das Ziel der Ausgabe, Klabunds hinterlassenes Werk möglichst vollständig vorzulegen, zeitigt auch die Edition der Erzählungen und der kleinen Prosatexte, soweit sie bei der verstreuten Publikationsgepflogenheit des Autors zu eruieren waren. Ebenso werden die Dramen und die frühen Szenentexte - manches aus zufällig erhaltenen Handschriften oder Typoskripten - publiziert. Bei der Edition der Romane, die in zahlreichen Nachdrucken vorliegen, wird - abgesehen von der Berücksichtigung späterer Autorvarianten - vor allem Wert auf die Konservierung der für Klabunds Schreibweise eigentümlichen Satz- und Druckstruktur der Erstausgaben gelegt. Die Zerstörung dieser [3/ S. 195:] Formsignale hat, wo sie unüberlegt vorgenommen wurde, zur Erschwerung der Rezeption der Texte geführt. Der fünfte Komplex enthält die Nachdichtungen und Übersetzungen Klabunds, und zwar aus dem Chinesischen, Japanischen, Persischen und Französischen: Neben »Der junge Aar« von Edmond Rostand ist hier auch die Übertragung von Daudets »Tatarin« mit der Reproduktion der Originalzeichnungen von George Grosz wiederzuentdecken. Der umfangreiche Kommentarband enthält die Zusammenstellung aller von Klabund selbstzitierten Vorlagen (von Otto Hauser bis Judith Gautier und Marquis d’Hervey Saint Denys) sowie originalsprachliche Quellentexte, zum Teil mit Interlinearübersetzung, um die Entstehung der Nachdichtungen zu dokumentieren. Vom »Kreidekreis«, der zu den meistgespielten Theaterstücken der 20er Jahre gehörte, wird die erhaltene handschriftliche Fassung mit dem Abdruck des chinesischen Originaltextes von Li Xingdao in einer zusammenfassenden Übersetzung abgedruckt. Ähnliches gilt für das »Kirschblütenfest«, das Klabund den Vorwurf des Plagiats einbrachte. Im Kommentarband werden die Übersetzung von Karl Florenz sowie Dokumente des in der Presse ausgetragenen Streits abgedruckt. Die Ausgabe wird mit einer auf zwei Teilbände konzipierten Materialdokumentation abgeschlossen, in die eine wesentliche Auswahl schwer zugänglicher Artikel und Rezensionen zu Klabund aus Zeitschriften, Tageszeitungen und Monographien aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgenommen wird. Wichtige Texte zu Klabund werden bis etwa 1950 berücksichtigt. Der Bestand soll einen Überblick über die zeitgenössische Rezeption des Autors bieten. Abgerundet wird der Band mit einer biographischen Skizze, einer umfassenden Bibliographie der Primär- und Sekundärliteratur, einem Verzeichnis der Komponisten, die Klabund-Texte vertont haben, und einem Personenregister für die gesamte Ausgabe. Eine Edition der Briefe Klabunds, soweit sich diese erhalten haben, wird vorbereitet, doch sind die Recherchen dazu ungleich zeitaufwendiger, so daß mit der Arbeit an diesem Projekt erst nach Abschluß der Werkausgabe begonnen werden kann. Zum 70. Todestag des Dichters am 14. August 1998 konnten die ersten vier Teilbände der Ausgabe vorgelegt werden. Im Jahr 2001 soll die Edition der Werke abgeschlossen vorliegen.[3] [3/ S. 196:] |
Ferdinand Bruckner: Sämtliche Werke und BriefeAuf den Spielplänen deutschsprachiger Bühnen war Ferdinand Bruckner (eigentlich Theodor Tagger, 1891-1958) in den letzten Jahren nur vereinzelt präsent. In überschaubarer Anzahl wurden, an meist kleineren Theatern oder auf Studiobühnen, vor allem »Krankheit der Jugend« und »Die Rassen« inszeniert. Das sind jene Stücke, die Anfang und Ende einer Schaffensperiode markieren, in der Bruckner seine sensationellen Erfolge als Theaterautor in der Zeit der späten Weimarer Republik erzielte, aber auch den heftigsten Widerspruch erfuhr. Einen schriftstellerischen Neubeginn versucht er Mitte der 20er Jahre mit einem neuen Namen: Theodor Tagger nimmt das aus den Namen seiner bewunderten Landsleute Ferdinand Raimund und Anton Bruckner zusammengesetzte Pseudonym Ferdinand Bruckner an, hinter dem er dann seine Identität gegen die geweckte öffentliche Neugierde beharrlich bis 1930 verbirgt. Am Ende dieses Lebensabschnitts steht 1933 der Weg ins Exil. Zuvor war Bruckner bereits als Autor, Herausgeber, Theaterleiter und Regisseur in Erscheinung getreten. 1891 in Sofia als Sohn eines österreichischen Kaufmanns jüdischer Konfession und einer französischen Übersetzerin geboren, wuchs er in Wien, Berlin und Graz auf. Während des Studiums der Musik (Paris, Wien) und eines anschließenden Studium generale (Wien) veröffentlichte er bereits Aufsätze, Rezensionen und Gedichte in Zeitschriften. In den folgenden Jahren erschienen in Buchform eine Novelle, »Die Vollendung eines Herzens« (1917), die essayistischen Schriften »Von der Verheißung des Krieges und den Forderungen an den Frieden. Morgenröte der Sozialität« (1915), »Das neue Geschlecht. Programmschrift gegen die Metapher« (1917), »Über einen Tod« (1917), der Gedichtband »Der zerstörte Tasso« (1918), die Erzählung »Auf der Straße« (1920) sowie eine Übersetzung von Blaise Pascals »Größe und Nichtigkeit des Menschen« (1918) und »Psalmen Davids. Ausgewählte Übertragungen« (1918). Zur Aufführung gelangten aus dem Zyklus »1920 oder Die Komödie vom Untergang der Welt« die Stücke »Harry« (Uraufführung: 1920 Stadttheater Halle) und »Annette« (UA: 1920 Kammerspiele des Deutschen Volkstheaters, Wien); aus dieser Zeit verschollen sind bisher die Texte von »Te Deum« (UA: 1922 Neues Theater am Zoo, Berlin), vom Schauspiel »Esther Gobseck«, nach Balzac (UA: 1923 Renaissance-Theater, Berlin) und vom Drama »Kapitän Christopher« (1919/1921). Bruckners Werk im zweiten Jahrzehnt gehört unverkennbar zum Expressionismus, deutlich artikuliert in seinem Manifest »Marsyas und [3/ S. 197:] Apoll«, mit dem er programmatisch die von ihm gegründete und herausgegebene Zweimonatsschrift »Marsyas« einleitete. Die aufwendig gestaltete, zwischen 1917 und 1919 erscheinende Zeitschrift enthält Beiträge u. a. von Max Brod, Alfred Döblin, Kasimir Edschmid, Yvan Goll, Franz Kafka und Carl Sternheim, sowie zahlreiche Originalgraphiken (z. B. von Max Pechstein). 1920 heiratete Bruckner Bettina Neuer; zusammen gründeten sie 1922 das noch heute existierende Renaissance-Theater in Berlin. Nach anfänglichen Erfolgen führten Fehlschläge und finanzielle Probleme dazu, daß Bruckner die Direktion aufgeben mußte. Übernommen wurde sie 1927 von Gustav Hartung, der an ebendiesem Haus 1928 mit der Inszenierung von »Krankheit der Jugend« (UA: 1926 Lobe-Theater, Breslau und Hamburger Kammerspiele) Ferdinand Bruckner zum Durchbruch verhalf. Dem spektakulären Stück um Jugend, Sexualität, Bindungskrisen und Selbstzerstörung folgte das rechts- und justizkritische, für die Etagenbühne konzipierte ›Debattenstück‹ »Die Verbrecher« (UA: 1928 Deutsches Theater, Berlin, R: Heinz Hilpert), das nicht minder kontrovers aufgenommen wurde. Die thematische Orientierung an aktuellen Fragen machte Bruckner bald zu einem der bedeutendsten Vertreter des neuen Genres ›Zeitstück‹. Nach der breiten Ablehnung von »Die Kreatur« (UA: 1930 Münchner Kammerspiele, Berliner Erstaufführung: 1930 Komödie, R: Max Reinhardt) durch die Kritik erlangte er nochmals einen über den deutschsprachigen Raum hinausreichenden Erfolg mit dem Stück »Elisabeth von England« (UA: 1930 u. a. Deutsches Theater, Berlin, R: Heinz Hilpert), das formal durch die innovative Verwendung von Simultanszenen beeindruckte. Auch in seiner Hinwendung zum Historienstück bleiben Gegenwartsbezüge erhalten, in der Darstellung eines Epochenumbruchs sind die Figuren psychologisch gezeichnet, der Eros behält seine Bedeutung als treibende Kraft der Handlung. Im Historischen angesiedelt sind auch »Timon« (UA: 1932 u. a. Burgtheater Wien, Hamburger Schauspielhaus) und »Die Marquise von O« (UA: 1933 u. a. Landestheater Darmstadt und Stadttheater Erfurt). Der sich ausbreitende nationalsozialistische Terror in Deutschland zwang Bruckner wieder zur unmittelbaren Auseinandersetzung mit der Gegenwart. Bereits im Exil verfaßte er »Die Rassen« (UA: 1933 Züricher Schauspielhaus, R: Gustav Hartung), das Psychogramm einer akademischen Jugend im Rausch des Irrationalismus. Thomas Mann notierte zur Uraufführung in sein Tagebuch: »Sehr günstige Aufnahme. Große Demonstration des Publikums bei den Worten: ›Im Augenblick ist es nicht deutsch, die Wahrheit zu sagen.‹« [3/ S. 198:] Bruckner war bald mit den charakteristischen Schwierigkeiten der Exilautoren konfrontiert. Von seinem früheren Sprachraum und Publikum größtenteils abgeschnitten, fand er aus vielfältigen Gründen nur beschränkte Wirkungsmöglichkeiten und Resonanz in den Aufnahmeländern. In Frankreich entstanden der Roman »Mussia« (1935) und die Komödie »Napoleon der Erste« (1936 UA: 1937 Tschechisches Landestheater Brünn). Das Vorhaben einer britischen Verfilmung von »Elisabeth von England« scheiterte, und mehrere Entwürfe zu Historiendramen wurden vom Autor verworfen. Nach einem Vertragsabschluß mit Paramount Productions in Hollywood verließ Bruckner im Juli 1936 mit seiner Familie Europa. Die Auftragsarbeit an einem Drehbuch zu einem Film über Lucrezia Borgia mußte er jedoch abbrechen, da der Stoff den Paramount Productions schließlich zu provokant erschien. Bruckner ließ sich daraufhin in New York nieder, wo er sich durch Übertragung seiner erfolgreichen Zeitstücke ins Englische sowie durch die Bearbeitung amerikanischer Stoffe um Inszenierungen bemühte. Mit dem Kriegsbeginn wandte er sich wieder verstärkt dem politischen Zeitgeschehen zu: In den Historienstücken »Heroische Komödie« (1942 UA: 1946 Volkstheater Wien), »Die Namenlosen von Lexington« (1940), »Die Kinder des Musa Dagh« (1940) und »Simon Bolivar« (1944 UA: 1948 Staatstheater Dresden) sowie in einem Zeitstück über den antifaschistischen Widerstand in Norwegen, »Denn seine Zeit ist kurz« (UA: 1944 Heinrich-Heine-Klub in Mexiko), wollte er die öffentliche Meinung zum Kampf für die »in allen meinen Stücken verkündeten Ideale der Freiheit und Menschenrechte« aufrufen (Bruckner an Gottfried Bermann-Fischer, 12. Januar 1934). Die kommerzielle Orientierung des Theaters in den USA, wie auch das fehlende Verständnis für Bruckners dezidiert europäischen Blickwinkel, ließen diesen Ruf auf taube Ohren stoßen. Einzig seine Überarbeitung von Lessings »Nathan der Weise«, die 1942 zunächst an Erwin Piscators Studio Theatre in New York inszeniert, dann vom Belasco Theatre am Broadway übernommen wurde, fand das Interesse des amerikanischen Publikums. Bruckner engagierte sich zunehmend publizistisch so wie im »European P.E.N. Club in America«, der »Tribüne für Freie Deutsche Literatur in Amerika« und in anderen Organisationen europäischer Exilanten. Der größte Teil seiner im Exil entstandenen Schauspiele wurde, wenn überhaupt, erst nach dem Krieg veröffentlicht. Sofort nach Kriegsende orientierte sich Bruckner wieder nach Europa: Die Schauspiele »Denn seine Zeit ist kurz« und »Die Befreiten« wurden bereits im September 1945 in Zürich und Bern aufgeführt. In den Jahren 1948 bis 1953 unternahm Bruckner mehrere Reisen nach Europa, um [3/ S. 199:] sich für seine Schauspiele einzusetzen. Wie bereits mit »Nathan der Weise« und mit »Die Befreiten« bemühte er sich mit seiner Übertragung von Arthur Millers »Death of a Salesman« (deutschsprachige EA: 1950 Theater in der Josefstadt, Wien) und von afroamerikanischen Spirituals ins Deutsche um eine Vermittlung zwischen amerikanischer und deutscher Kultur. 1953 ließ sich Bruckner wieder in Berlin nieder und arbeitete als dramaturgischer Berater am Schillertheater. Sein vielschichtiges Spätwerk, vor allem seine ›klassische‹ Tragödie »Pyrrhus und Andromache«, wurde durchaus beachtet, die großen internationalen Erfolge der späten 20er und frühen 30er Jahre stellten sich allerdings nicht mehr ein. Bruckner starb am 5. Dezember 1958 in Berlin. Eine Werkausgabe dieses produktiven und literarisch wie auch für die Kulturgeschichte bedeutenden Autors fehlt bisher. Von der Literaturwissenschaft ist er in Vergleich etwa zu Carl Zuckmayer und Bertolt Brecht, die fünf bzw. sieben Jahre jünger waren, sehr vernachlässigt worden. Mit der Gesamtausgabe der Werke, Briefe und Tagebücher Bruckners wollen die Herausgeber die Grundlage für eine breitere und vertiefte Auseinandersetzung mit Werk und Autor sowie für eine angemessene Einordnung in die Literaturgeschichte schaffen. Die Edition berücksichtigt als wissenschaftliche Ausgabe die Textüberlieferung, die bei diesem Autor verhältnismäßig günstig ist. Der Nachlaß, der 1961 von der Familie Bruckners der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin übergeben wurde, enthält zahlreiche Manuskripte, Entwürfe, Notizbücher, Zeitungsausschnitte und Programme, Kritiken, Bücher, persönliche Dokumente, Fotografien, Tagebücher und Briefe. Ein Teil der Korrespondenz jedoch sowie einige Manuskripte wurden vernichtet: Die bei Bruckners Emigration in Berlin zurückgelassene, 6.000 Bände umfassende Bibliothek und die Korrespondenz im Zusammenhang mit »Marsyas« sind verschollen. Die Bruckner-Gesamtausgabe wird unter der Leitung von Hans-Gert Roloff am Institut für Germanistik der FU Berlin (Studiengebiet Editionswissenschaft) in Kooperation mit der Stiftung Archiv der Akademie der Künste Berlin-Brandenburg durchgeführt. Sie wird voraussichtlich 18 Textbände und einen Dokumentationsband umfassen. Die Kommentarbände erscheinen separat. Zur Zeit werden folgende Abteilungen bearbeitet: Schauspiele (bis 1933: Joaquin Moreno, ab 1934: Gunnar Szymaniak), Tagebücher (Horst Grimm, Hans-Gert Roloff), Briefe (bis 1936: Sabine Spiller). Die ersten Bände des dramatischen Werks werden demnächst im Verlag Weidler in Berlin erscheinen. Die Anordnung der Werke erfolgt nach Textgattungen und nach der Chronologie der Entstehung. Textgrundlage für den edierten Text ist [3/ S. 200:] in der Regel der Erstdruck. In den Kommentarbänden wird neben den Erläuterungen zum Text Auskunft über die Überlieferungs-, Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte gegeben; genetische Transkriptionen dokumentieren die Arbeitsweise des Autors. Die ab Mitte der 40er Jahre in Gabelsberger Stenographie geschriebenen Einträge in den Tagebüchern werden durch die Übertragung von Horst Grimm erstmals erschlossen. Die über 4.000 Manuskriptseiten umfassenden Tagebücher enthalten neben Persönlichem auch Notizen zu künstlerischen, gesellschaftlichen und politischen Ereignissen, zu Begegnungen und Erlebnissen sowie Lektürelisten, Theaterzettel und Zeitungsausrisse. Sie gewähren Einblick in die Werkstatt des Autors mit seinen Plänen und Schreibkrisen und dokumentieren Reaktionen des Publikums. Zum Teil wird der Schreibprozeß minutiös dargestellt. Der Tagebuchtext wird von Horst Grimm und Hans-Gert Roloff konstituiert und kommentiert. Im Nachlaß Bruckners befinden sich über 5.800 Briefe, Postkarten und Telegramme. Die überlieferte Korrespondenz wird in der Ausgabe vollständig wiedergegeben. Die Anordnung erfolgt nach Korrespondenzpartnern und darin chronologisch. Die Textzeugen werden in den Kommentarbänden beschrieben, Erläuterungsbedürftiges im Kommentar erschlossen. Neben der Korrespondenz mit Verlagen, Organisationen, Theatern und Institutionen entfalten insbesondere die privaten Briefe ein Bild von Bruckners wechselvollem Leben, von seinen persönlichen Beziehungen und seinen Kontakten mit Schriftstellerkollegen und Theaterleuten. Für das Verständnis seiner Werke sind die Briefwechsel mit Regisseuren und Dramaturgen wertvoll, die vor allem während der Entstehung der Stücke geführt wurden. Zu seinen Briefpartnern gehören u. a. Max Brod, Franz Theodor Csokor, Ernst Deutsch, Albert Einstein, Gustaf Gründgens, Gustav Hartung, Siegfried Kracauer, Ernst Lubitsch, Heinrich, Klaus und Thomas Mann, Erwin Piscator, Helene Weigel und Carl Zuckmayer. Die Briefe sind Zeugnisse aus einem halben Jahrhundert, in dem sich gesellschaftlicher Wandel und politische Umbrüche in besonderem Maß in die Biographien eingeschrieben haben. Hans-Gert Roloff und Mitarbeiter |
Anmerkungen1] Vgl. Die Funktion von Editionen in Wissenschaft und Gesellschaft. Hg. von Hans-Gert Roloff. Berlin: Weidler 1998 (= Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 3). 2] Vgl. Editionswissenschaft und akademischer Unterricht. Hg. von Hans-Gert Roloff. Berlin: Weidler 1999 (= Berliner Beiträge zur Editionswissenschaft 4). 3] Klabund: Sämtliche Werke. Bde. I: Lyrik. Tle. 1, 2. Hg. von Ramazan Sen. II: Erzählungen und Kleine Schriften. Tl. 1: Erzählungen. Hg. von Michael Scherf. III: Dramen und Szenen. Tl. 1: Dramen. Hg. von Henning Niemeyer-Lemke. Amsterdam: Rodopi; Würzburg: Königshausen & Neumann 1998. |
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Sichtungen 3 (2000),
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