Der Schriftsteller mit der Kettensäge und eine zerfetzte Arbeitshose

Forschung

08.02.2021
Literatur
Stoffreste von Thomas Bernhards Arbeitshose mit Beschriftung

Gefeiert und an vielen Theatern aufgeführt, Objekt der Bewunderung für seine Fans und Reibebaum für mehrere Generationen von AutorInnen. – Der am 9. Februar 1931 geborene Thomas Bernhard ist einer der wichtigsten und meistdiskutierten VertreterInnen der Literatur nach 1945; verankert im kollektiven kulturellen Gedächtnis Österreichs und Teil der Weltliteratur.

Autor: Bernhard Fetz

 

Zu Thomas Bernhards 90. Geburtstag

Der Schriftsteller mit der ganz und gar nicht metaphorischen Kettensäge, als Forstarbeiter auf einer seiner oberösterreichischen Liegenschaften – ein seltenes und seltsames Bild. Und doch auch wieder nicht: Thomas Bernhard (1931–1989) war ein begnadeter Poseur. Die Rolle des Bauern zu Nathal, dem Gemeindeteil von Ohlsdorf, wo sein aufwendig renovierter und von Bernhard mit Möbeln nach eigenen Entwürfen eingerichteter alter Vierkanthof liegt, gehörte zu seinen Lieblingsrollen. Das heutige Bernhard-Museum in Ohlsdorf, immer schon zugleich Wallfahrtsstätte, überrascht mit einem Traktor und einem Geländewagen in der Garage, mit einer inzwischen zum Veranstaltungsraum umgebauten Tenne, mit einer damals, in den 1970er-Jahren, hochmodernen kleinen Stallanlage, in der allerdings nie Kühe standen. Sie blieb wohl ebenso wie die Küche größtenteils ungenützt, obschon sie für die Bewirtung zumindest einer kleineren Heerschar an Bernhard-AdorantInnen ausgestattet war; für den Dichter sicher eine Horrorvorstellung.

Teil von Thomas Bernhards Arbeitshose nach einem Forstunfall am 7. Jänner 1972 Foto: Katharina Manojlovic Österreichische Nationalbibliothek, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Sammlung Karl Ignaz Hennetmair, Sign.: Cod. Ser. n. 42014 bis 42097

Gewissermaßen als Forstknecht seiner selbst erlitt Thomas Bernhard 1972 einen Unfall, der auch schlimmer hätte ausgehen können, wie immer, wenn Kettensägen im Spiel sind. Er ereignete sich im Gebiet der „Krucka“, einem weiteren, ebenfalls mit großer Detailtreue restaurierten, alleinstehenden Haus hoch über Gmunden, das Bernhard gekauft hatte. Die Geschichte dieses Unfalls ist eine biographische Provinz-Szene, in der das große Welttheater des Autors seine Probe hält. Sie ist verknüpft mit Bernhards Freund, Geschäftspartner (als Vermittler von Immobilien und Handwerkern), Spielpartner (beim volkstümlichen Kartenspiel „Schnapsen“) und treuen Eckermann, dem Immobilienmakler Karl Ignaz Hennetmair. In seinen Jahre nach Thomas Bernhards Tod 2000 erschienenen Tagebuchaufzeichnungen von 1972 ist die Geschichte für die Nachwelt überliefert. (Vgl. Hennetmair 2000) Zusammen mit dem Manuskript seines Tagebuchs, sowie mit von Hennetmair gesammelten Zetteln, auf denen die Spielergebnisse notiert wurden, sind Stücke der zerfetzten Arbeitshose Bernhards Teil der Hennetmair-Sammlung in der Handschriftensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. (Sammlung Karl Ignaz Hennetmair) Diese ganz besondere Reliquie ist heute als ironischer Kommentar zu den Launen archivarischer Überlieferung und dem Verhältnis von Lebenswelt und Werk im Literaturmuseum in der Wiener Johannesgasse ausgestellt.

Um, wie er sich vor Thomas Bernhard rechtfertigte, falschen und tendenziösen Berichten über den Unfall, der sich auf dem Land schnell herumsprechen würde, zuvorzukommen, habe er, Hennetmair, von seinen guten Kontakten zu deren leitendem Redakteur Karl Kastner Gebrauch gemacht und einen eigenhändig verfassten Artikel in der Salzkammergutzeitung untergebracht. Der Redakteur wollte den Artikel des Laienjournalisten zuerst etwas bearbeiten und den Hergang wohl auch etwas dramatisieren, aber hier geriet er an den Falschen: Hennetmair, in die Schule Bernhards gegangen, antwortete: „Wenn der Artikel nicht so kommt, ziehe ich ihn zurück.“ (Vgl. Hennetmair 2000: 34) Der Tonfall seines Unfallartikels erinnert an die lakonischen Kurzprosastücke Bernhards in der Sammlung Der Stimmenimitator (1978). Hier wie in den frühen Romanen finden die Katastrophen, die wie beiläufig in den Chroniken der Provinzzeitungen abgedruckt sind oder die sich die Landbewohner am Wirtshaustisch erzählen, literarischen Widerhall. Bernhard selbst war als freier Mitarbeiter des Salzburger Demokratischen Volksblatts Mitte der 1950er-Jahre geschult in der Verdichtung und dramaturgischen Bearbeitung seiner Gerichtsreportagen. Im Falle der Kettensäge, die das Kniegelenk des Dichters nur knapp verfehlte, ist er selbst Objekt des Berichts „Ohlsdorf – THOMAS BERNHARD bei Waldarbeit verunglückt“:

Thomas Bernhard, „Bauer zu Nathal“[,] begab sich am 7.1.1972 früh zu seiner Liegenschaft Grasberg 98, um den Wald „auszuputzen“. Um 14 Uhr 30 schnellte ein fallender Baum zurück und traf Thomas Bernhard in den Rücken. Dabei schlug es ihm die laufende Kettensäge aus der Hand und fügte ihm oberhalb des linken Knies eine klaffende Wunde zu. Auch im Gesicht erlitt er eine Verletzung. Da Bernhard, wie meistens, die Arbeit alleine ausführte, mußte er sich selbst zu seinem Auto schleppen. Er fuhr ins Krankenhaus Gmunden, wo seine Wunden genäht und versorgt wurden. Die weitere Behandlung hat sein Bruder, Arzt in Wels, übernommen. (Hennetmair 2000: ebd.)

Als Hennetmair Bernhard beim gemeinsamen abendlichen Schauen der Nachrichten von seinem Artikel erzählt, beginnt „der eingeschaltete Fernseher zu stinken“, was Thomas Bernhards Reaktion beeinflusst: „Jetzt wird der Apparat gleich explodieren, und mich wird’s zerreißen. Dann kannst du gleich zum Kastner fahren, er soll den Artikel noch ergänzen. […] Oder ich bekomme eine Fettembolie, das wäre sehr gut, wenn in der Zeitung steht: Thomas Bernhard an Fettembolie gestorben“. (Hennetmair 2000: 35) Welche Folgen diese Komplikation im Zuge der Wundheilung haben könnte, führte der in der Schauspielklasse am Salzburger Mozarteum[1] ausgebildete Regisseur und Schauspieler gleich vor: „Dann geht’s so. Er streckte die Zunge heraus, ließ den Kopf zur Seite fallen und drehte die Augen nach oben.“ (Hennetmair 2000: 36) Das will sein Ohlsdorfer Vertrauter nicht glauben, er verweist auf die Handleserin Jakob aus Linz, die er nach dem Schicksal Bernhards befragte und die ihm sagte, egal wie wüst und beleidigend sich Thomas Bernhard auch aufführe, „es wird alles zu seinem Besten ausgehen“. (Hennetmair 2000: ebd.)

Mit Blick auf Bernhards Erfolge als Schriftsteller Anfang der 1970er-Jahre traf die Prophezeiung zu. Mit dem Stück Ein Fest für Boris, das am 29. Juni 1970 unter der Regie von Claus Peymann in Hamburg uraufgeführt wurde, begann Bernhards internationale Theaterkarriere, die Anfang der 1960er-Jahre mit kurzen Einaktern und zwei Opernlibretti zur Musik von Gerhard Lampersberg am Kärntner Tonhof eingesetzt hatte. Im Mittelpunkt seines ersten abendfüllenden Stückes steht die tyrannische, beinlose „Gute“, die ihre Dienerin Johanna demütigt und unter ihren Dauermonologen begräbt; Johanna bleibt fast stumm. Die Gruppe der Gäste eines großen Geburtstagsfestes für den ebenfalls beinlosen Boris bildet eine Gesellschaft aus Figuren „aus dem Krüppelasyl“; auch sie haben ihre unteren Gliedmaßen eingebüßt. (Vgl. Bernhard 2004: 140) Der Verlust eines Beines blieb Thomas Bernhard bei seinem Unfall mit der Kettensäge erspart. Ein halbes Jahr nach dem Ereignis hatte Der Ignorant und der Wahnsinnige am Salzburger Landestheater Premiere. Regie bei dieser Produktion für die Salzburger Festspiele führte wieder Claus Peymann, die Hauptrolle erhielt Bruno Ganz. In diesem Stück spielt die Kunst des Sezierens eine zentrale Rolle, vom Schädel bis zu den Genitalien wird der Seziervorgang unter Übernahme großer Passagen aus dem Handbuch des Anatomen Karl von Rokitansky zu einem tragikomischen Theatertext verarbeitet. (Vgl. den Kommentar in Bernhard 2004: 466)

Die beiden Thomas Bernhards Ruhm als Theaterautor begründenden Stücke bilden gewissermaßen eine visionäre werkgeschichtliche Klammer des glimpflich ausgegangenen Unfalls beim Bäume-Umschneiden.

Den direktesten Bezug zu diesem Ereignis stellt jedoch das am 4. Mai 1974 abermals in der Regie von Claus Peymann am Wiener Burgtheater uraufgeführte Stück Die Jagdgesellschaft her. Es ist eines der musikalischsten Stücke des Autors, dessen musikalische Anlage in einer nachgestellten Notiz noch eigens hervorgehoben wird: „Das Stück ist in drei Sätzen geschrieben, der letzte Satz ist der ‚langsam Satz‘“. (Thomas Bernhard, Notiz zur Jagdgesellschaft, Bernhard 2004: 421) Das Stück besteht über weite Strecken aus einem vom Kartenspiel Siebzehn und Vier bestimmten, rhythmisierten Dialog zwischen einem Schriftsteller und einer Generalin: „Andererseits / ist es ein Vergnügen / Und das größte Vergnügen ist / mit Ihnen Karten zu spielen / Wenn Sie so laut auflachen / und in Ihrem Kopf / ist es ein philosophischer Gegenstand / oder etwas Unanständiges / SCHRIFTSTELLER wirft die Karten hin“ (ebd.: 380). Erst am Schluss hat der todgeweihte Mann der Generalin, der in Stalingrad einen Arm eingebüßt hat, seinen großen, letzten Auftritt.

Der Schriftseller stellt den Typus des frei denkenden Intellektuellen dar, der den „Zustand der Unsicherheit / der Bodenlosigkeit“ annimmt und sich gegen das allgemeine „Verständlichmachen“, was das Einverständnis mit einer durch und durch korrupten und verlogenen Gesellschaft bedeutete, zur Wehr setzt. (Vgl. ebd.: 418) Auch wenn dieser Schriftsteller im Stück „ein anderer“ ist (ebd.: 415), wie immer alle andere sind, so ähnelt seine geistige Physiognomie doch derjenigen des Autors Bernhard. Mit der Generalin teilt der Schriftsteller Karten, Gedanken, Beobachtungen und vielleicht auch Gefühle. Die Generalin sieht sich zwischen ihrem Mann, dem General, und dem Schriftsteller hin- und hergezogen; wobei in den beiden männlichen Figuren auch zwei entgegengesetzte Existenzmodi, hier Verdrängung und Verleugnung der Wirklichkeit, dort der unbestechliche Blick von außen, verkörpert sind.

In der nur vom Kartenmischen, Kartenausteilen, Karten wegwerfen und Trinken sowie von den Auftritten des (fast) stummen Dieners Asamer unterbrochenen Rede und Gegenrede kommt die Sprache schließlich auf den „Zwischenfall mit der Motorsäge“ (ebd.: 364). Anders als im wirklichen Leben erleidet nicht der Schriftsteller den fatalen Unfall, sondern der General, der zugleich Besitzer einer riesigen, vom Borkenkäfer befallenen Waldfläche ist, was allerdings vor ihm verheimlicht wird. Das Stück endet mit dem Geräusch der Motorsägen, die beginnen, „den Wald niederzulegen“ (ebd.: 420). Warum überhaupt geht die –männliche– Intelligenz mit Motorsägen in den Wald? „Es kommt vor unter der Intelligenz gnädige Frau“, so der Schriftsteller zur Generalin, „daß ein Mann zu einer Motorsäge / oder zu einem anderen Werkzeug greift / mit welchem er überhaupt nichts zu tun hat / […] / ein solcher glaubt plötzlich / etwas zertrümmern oder etwas umschneiden zu müssen“ (ebd.: 365 f). Der vom Borkenkäfer befallene und nicht mehr zu rettende Wald, der Unfall des Generals mit der Motorsäge, sie sind verbunden mit einer viel weiterreichenden Gefährdung alles Lebendigen: „Eine Verletzung / wie die Verletzung mit der Motorsäge / bringt eine Todeskrankheit zum Ausbruch (ebd.: 364).

Karl Ignaz Hennetmair muss die Arbeitshose aus dem Müll gezogen oder Thomas Bernhard abgeluchst haben; er hat die zerfetzten Teile der Hose ausgeschnitten, auf einen Karton geklebt und rundherum beschriftet. Wir erfahren, an welcher Stelle die Kettensäge ins Knie Thomas Bernhards eindrang, wann genau der Unfall passierte, auch der Stoff der Hose könnte einer Untersuchung unterzogen werden. Das Objekt sollte wohl gemäß den literaturarchivarischen Regeln als ‚Sammlungsstück‘ abgelegt werden, dabei ist es doch zugleich ein beeindruckendes ‚Lebensdokument‘ (so eine andere archivarische Kategorie). Die Geschichte zu diesem Stück Hosen-Stoff ist auch der Stoff, aus dem die Bernhardʼschen Texte gewebt sind.

Über den Autor: Univ.Doz. Dr. Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs, des Literaturmuseums und der Sammlung für Plansprachen und des Esperantomuseums der Österreichischen Nationalbibliothek

Dieser Beitrag ist eine Veröffentlichung aus dem Band Pässe, Reisekoffer und andere „Asservate“, Archivalische Erinnerungen ans Leben. Mit 179 Abbildungen. Hg. von Volker Kaukoreit, Marcel Atze, Tanja Gausterer und Arnhilt Inguglia-Höfle, Wien: Praesens Verlag 2021 (= Sichtungen. Archiv ∙ Bibliothek ∙ Literaturwissenschaft, 18. / 19. Jg.) Siehe: https://www.onb.ac.at/bibliothek/sammlungen/literatur/publikationen/sichtungen

Literatur:

Hennetmair, Karl Ignaz (2000): Ein Jahr mit Thomas Bernhard. Das notariell versiegelte Tagebuch 1972. Salzburg, Wien: Residenz Verlag.

Bernhard, Thomas (2004): Bd. 15: Dramen I. Hg. von Manfred Mittermayer u. Jean-Marie Winkler. In: Werke. Hg. von Martin Huber, Wendelin Schmidt-Dengler. Frankfurt am Main: Suhrkamp

Sammlung Karl Ignaz Hennetmair, Dokumentation zu Thomas Bernhard, Österreichische Nationalbibliothek, Wien, Sammlung von Handschriften und alten Drucken, Sign.: Cod. Ser. n. 42014 bis 42097; Nachtrag dazu, Sign.: Cod. Ser. n. 50178 bis 50206)

[1] Bernhard studierte ab 1956 Schauspiel, Regie und Dramaturgie am Salzburger Mozarteum. Im Juni 1957 legte er die Reifeprüfung am Schauspielseminar ab, womit eine Bestätigung der „Eignung zur Regieführung“ verbunden war. Vgl. den Kommentar in: Bernhard, Thomas: Werke. Hg. von Martin Huber, Wendelin Schmidt-Dengler. Bd. 15: Dramen I. Hg. von Manfred Mittermayer u. Jean-Marie Winkler. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004: 426f.

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