Prozessprotokolle aus dem römischen Ägypten

Forschung

02.12.2016
Papyri und antike Schriftstücke
Löchriges Papyrus, Verhandlung vor dem hohen römischen Amtsträger Erzpriester bezüglich eines Antrages auf Beschneidung

Autor: Bernhard Palme

Als Ägypten 30 v. Chr. als letztes hellenistisches Königreich dem Imperium Romanum einverleibt wurde, kamen nicht nur Soldaten und Steuereintreiber der Römer in das Land am Nil; es trat auch die Rechtsprechung römischer Amtsträger zu den vorhandenen Gerichtshöfen auf lokaler Ebene hinzu. Der Statthalter der neuen Provinz (der praefectus Aegypti) und andere hochrangige Verwaltungsbeamte übten die Gerichtsbarkeit bei Kriminalfällen und Verfahren mit hohem Streitwert aus. Bagatellverfahren und Routinefälle – wie etwa Streitigkeiten unter Erben, Zwist bei Ehescheidungen oder strittige Nominierungen zu staatlichen Zwangsdiensten – blieben weiterhin bei den lokalen Gerichten, welche die Tradition der ptolemäischen Rechtsprechung fortsetzten. Die Zahl der Prozesse war groß, und die jurisdiktionellen Einrichtungen wurden regelrecht überschüttet mit Anzeigen, Klagen und Petitionen. Der Statthalter Subatianus Aquila beispielsweise, der am Beginn des 3. Jh. n. Chr. amtierte, erhielt bei der jährlichen Inspektions- und Gerichtsreise durch seine Provinz während seines zweieinhalb-tägigen Aufenthaltes in einer mittelägyptischen Stadt nicht weniger als 1804 Petitionen ausgehändigt. Dies zeigt eindrucksvoll, welche Flut von Anzeigen und Klagen zu bewältigen waren. Die richterliche Tätigkeit der Statthalter und hohen Amtsträger war zugleich aber auch eine theatralisch inszenierte Manifestation der römischen Herrschaft, die damit ihre Sorge um Gerechtigkeit, Ruhe und Ordnung demonstrierte.

P.Vindob. G 2004 = SPP XX 4 (Ptolemais Euergetis, 13. April 124 n. Chr.):
Protokoll einer Verhandlung vor einem Richter, den der römische Statthalter delegiert hat. Der Fall betrifft ägyptisches Erbrecht; das Protokoll wurde im Archiv des Bezirkes Arsinoites (Fayum) archiviert. Korrekturen sind in roter Tinte angebracht. (Copyright: Österreichische Nationalbibliothek, Papyrussammlung)


Wie liefen die Prozesse in den geschäftigen römischen Gerichten ab? Traten die Parteien auf, um ihre Standpunkte vorzutragen? Hielten redegewandte Advokaten Plädoyers? Wurden Zeugen befragt? Argumentierte man mit Präzedenzfällen? Prüfte das Gericht die vorgelegten Urkunden? Wie wurden die Akten der Verhandlungen aufbewahrt – und wem waren sie zugänglich? Was waren die Grundlagen der richterlichen Entscheidungen? Welche juristische Ausbildung und Kompetenz hatten die Statthalter, ihre Rechtsberater und die Advokaten, welche die Streitparteien vertraten? Die umfangreiche römische Rechtsliteratur informiert uns zwar über die Dogmatik und normativen Regelungen, doch über die reale Praxis der Jurisdiktion liegen kaum Nachrichten vor. Deshalb ist es ein Glücksfall, dass zahlreiche Papyri die konkreten Abläufe im Gerichtssaal und die Arbeit sowohl des Gerichtes als auch der Advokaten beleuchten. Das trockene Klima Ägyptens hat hunderte originale Papyrusdokumente bewahrt, die im Zusammenhang mit Prozessen geschrieben wurden und herausragende Zeugnisse der Rechtsprechung in einer Provinz des Römischen Reiches sind. Sie enthalten Protokolle von Verhandlungen, Exzerpte und Auszüge solcher Protokolle, Zitate von richterlichen Entscheidungen oder maßgeblicher Evidenz, aber auch Zusammenstellungen von Präzedenzfällen für die Vorbereitung von Prozessen. Diese Texte zeigen uns die dynamische Interaktion zwischen umtriebigen Anwälten, gewiegten Richtern, aufgeregten Streitparteien, einfachen Gerichtsdienern und routinierten Justizbeamten.

 

Abb. 2: P.Vindob. G 24908 = SPP XXII 51 (Soknopaiu Nesos, 15. Mai 153 n. Chr.)
Verhandlung vor dem hohen römischen Amtsträger Erzpriester (archiereus) bezüglich eines Antrages auf Beschneidung (Copyright: Österreichische Nationalbibliothek, Papyrussammlung)


Diese außerordentlichen Testimonien für die alltägliche Rechtspraxis in den verschiedenen Bereichen der römischen Provinzialverwaltung sind der Gegenstand eines auf drei Jahre anberaumten Forschungsprojektes, das vom FWF gefördert wird und derzeit in Kooperation mit der Österreichischen Akademie der Wissenschaften an der Papyrussammlung der ÖNB durchgeführt wird. Bislang liegen diese Prozessprotokolle und ähnlichen Dokumente in keiner kritischen Sammlung vor und sind deshalb auch kaum von der historischen oder rechtsgeschichtlichen Diskussion berücksichtigt worden. Ziel des Projektes ist es daher, die römischen Prozessprotokolle bis zum Jahre 300 n. Chr. – als diese Form der Dokumentation abgelöst wurde von zweisprachig (lateinisch und griechisch) gestalteten Protokollen – sowie andere relevanten Texte erstmals systematisch zu untersuchen. Die Auswertung dieser Quellen wird die Rechtsprechung der römischen Amtsträger und der Gerichte in den etwa 50 Bezirken der römischen Provinz Aegyptus erhellen.

Da bislang keine systematische Studie zu diesen Dokumenten vorliegt, möchte das Projekt diesem empfindlichen Desiderat der Forschung durch eine umfassende Analyse begegnen. Zum einen werden in papyrologischer Grundlagenarbeit die Prozessprotokolle textkritisch überprüft und mit Übersetzungen und Kommentaren aufbereitet. Die Lesungen und Ergänzungen der oftmals fragmentarischen Papyrusurkunden werden anhand der Originale oder hochaufgelöster Scans penibel geprüft. Dabei sind auch das Layout, Eigenheiten der Handschrift und allfällige Randnotizen zu beachten, um einerseits die formale Gestaltung der Prozessprotokolle zu verstehen, andererseits Abschriften oder Exzerpte von originalen Mitschriften zu unterschieden und Hinweise auf die Art der Archivierung zu entdecken. So sind schon im Zuge der bisherigen Arbeiten zahlreiche Verbesserungen zu den Texten selbst gelungen. Paläographische Beobachtungen haben zudem ergeben, dass viele der bislang als Prozessprotokolle interpretierten Texte nicht in einer kursiven Kanzleischrift, sondern in einer literarischen Buchschrift verfasst sind; diese Dokumente sind folglich als Abschriften für den Gebrauch durch Anwälte oder Rechtsspezialisten im Umkreis der forensischen Praxis zu betrachten. In einigen Fällen sind Dossiers von solchen Dokumenten mit einzelnen Advokaten in Verbindung zu bringen und erlauben erhellende Einsichten in die Arbeitsweise der Rechtsgelehrten und Anwälte. Als originale Urkunden aus einem sehr spezifischen Zusammenhang sind diese Texte, die oftmals auch in einem juristischen Fachjargon verfasst sind, nicht immer voraussetzungslos verständlich. Sie müssen daher im jeweiligen Kontext erklärt werden, um sich für weiterführende Studien zu erschließen. Etliche bislang unpublizierte Prozessprotokolle – auch einige aus der Papyrussammlung der ÖNB – werden ediert und damit der wissenschaftlichen Diskussion zugänglich gemacht.

Auf der Basis dieser revidierten und kommentierten Papyrusquellen erfolgt eine inhaltliche Auswertung ihrer rechts-, verwaltungs- und sozialgeschichtlichen Informationen. Dabei sind grundlegende Fragen der römischen Prozessführung, der Gerichtshöfe und ihres Personals, der amtlichen und archivalischen Handhabung der Schriftstücke sowie der Wahrnehmung der Jurisdiktion durch die streitenden Parteien zu studieren. Im Zentrum der Aufmerksamkeit werden einige Prozesse stehen, welche durch ausführliche Dokumentation, bisweilen auch durch ihre lange Dauer besonders gute Einblicke in die Rechtspraxis der Kaiserzeit vom Ende des 1. Jh. v. Chr. bis zum Beginn des 4. Jh. n. Chr. gewähren. Untersucht werden speziell die Verfahren und Abläufe der Verhandlungen, die Aktivitäten der Juristen innerhalb und außerhalb des Gerichtssaales, die Entwicklung der Protokollierung und Archivierung von Gerichtsakten, die Verbreitung und Anwendung juristischen Fachwissens sowie die jurisdiktionelle Institutionen und deren Organisationsform. Am Rande wird auch die informelle Rechtsprechung – etwa durch Militärpersonen –  besprochen. 

Die Ergebnisse des Forschungsvorhabens sollen in einer monographischen Studie publiziert werden, welche vor dem Hintergrund der gut aufgearbeiteten literarischen und normativen Quellen die papyrologische Dokumentation zur Jurisdiktion im kaiserzeitlichen Ägypten auswertet. Die Ergebnisse werden unmittelbare Relevanz für die antike Rechtsgeschichte und die Papyrologie sowie für die Kenntnis und Bewertung der römischen Herrschaft, insbesondere im Rahmen der Interaktion zwischen Statthaltergericht und munizipaler Jurisdiktion in den Hauptstädten der Bezirke haben.

 

Daten zum Forschungsprojekt der ÖNB

Titel

Proceedings in the Law Courts of Roman Egypt (30 BCE – 300 CE)

Finanzierung

FWF

Laufzeit

1. Sept. 2014 – 31. Aug. 2017

Projektleitung

Bernhard Palme

Projektteam

Anna Dolganov

Projektpartner (außer ÖNB)

Österreichische Akademie der Wissenschaften,

Institut für Kulturgeschichte der Antike, Abt. Documenta Antiqua

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