Autor: Christian Maryška
Nun ist also der auch der dritte, weniger beachtete, temporäre Pavillon im sogenannten Bibliothekshof von der Parlamentsdirektion bezogen worden. Bemerkenswerterweise wird dieser Pavillon in unmittelbarer Nachbarschaft zur Österreichischen Nationalbibliothek auf der offiziellen Homepage des Parlaments unter dem Abschnitt „Das neue Demokratie-Quartier“ verschwiegen und ist auch auf dem offiziellen Plan nicht verzeichnet.1 Dieser Hof an der nördlichen Ecke des Burggartens, zwischen Neuer Burg, Anschlußtrakt, Prunksaal und Palmenhaus hat eine wechselvolle und teils kaum bekannte Geschichte. Jedenfalls befindet sich die Parlamentsdirektion nun exakt an jenem Ort, an dem sich einmal für kurze Zeit ein Pavillon mit einem Atomreaktor befunden hat.
Seit der Fertigstellung der Fassade der Neuen Burg kurz vor 1900 und dem Abbruch des sogenannten Augustinerganges 1902/1903, der den Blick vom Süden her zum Prunksaaltrakt verdeckte, bildet der Bibliothekshof einen annährend quadratischen Platz von 70 mal 55 Metern. Aus der Zeit um 1899, als Friedrich Ohmann, bis dahin Professor an der Prager Kunstgewerbeschule, mit der Leitung der Bauarbeiten an der Neuen Burg betraut wurde, gab es den Plan die gartenseitige Vorstadtfassade des Prunksaales der Hofbibliothek von Fischer von Erlach mit einer beidseitigen Freitreppe, die zu einer Terrasse führte, zu versehen, ganz ähnlich wie die realisierte Treppe mit Brunnen vom Burggarten zum Haupteingang des 1906 von Ohmann vollendeten Palmenhauses. Zu sehen ist diese geplante Terrasse auf dem Panoramabild der Inneren Stadt „Wien aus der Vogelschau vom Getreidemarkt aus“ von Erwin Pendl aus dem Jahr 1904.2 Eine weitere anonyme Entwurfszeichnung in Form einer Fotografie aus jener Zeit hat sich in der Kartensammlung der Österreichischen Nationalbibliothek erhalten.3
Im Zuge des Neubaus des Glashauses durch Friedrich Ohmann wurde nach Abbruch des Augustinerganges ein Verbindungsgang vom nördlichen Ende zu den Parterresälen der Neuen Burg gebaut.4 Damit sollte der kaiserlichen Familie der direkte Zugang von der Burg zum Glashaus ermöglicht werden.5 Allerdings war dadurch die Sicht auf die Prunksaalfassade vom Burggarten aus wieder verstellt. Der Verbindungsgang wurde dann auch aus genau diesen Gründen noch vor Ende des Ersten Weltkrieges wieder abgebrochen.
Nach dem Zusammenbruch der Monarchie wurde der bis dahin dem Volk verwehrte Burggarten im ersten republikanischen Frühling im Mai 1919 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht und damit auch der Bibliothekshof. Bis dahin stand am Eingang zum ehemaligen Kaisergarten zu lesen: „Eintritt Fremden bei Strafe verboten.“6 Der Bibliothekshof blieb eine freie Rasenfläche, die mit einigen Bäumchen und Sträuchern in Formschnitt gartengestalterisch geschmückt wurde. Während des Zweiten Weltkriegs war der Zutritt zum Bibliothekshof teilweise beschränkt, da sich dort ein Eingang zum provisorischen „Reservelazarett XV“ befand.
1957 wurde der Bibliothekshof zu einer riesige Baustelle. Die Burghauptmannschaft ließ einen Verbindungstunnel vom Prunksaaltrakt der Nationalbibliothek zur Neuen Burg durch den Stadtbaumeister Franz Jakob errichten, dabei kamen einige Grundmauern der alten Befestigungsanlagen zum Vorschein. Das war auch gleichzeitig ein erster Vorgriff auf die Besiedelung der Neuen Burg durch die Österreichische Nationalbibliothek im Jahre 1966.
1963 fand dann auf dem Gelände des Bibliothekshofes für nur einen Monat eine aufwändige Ausstellung statt. Die United States Atomic Energy Commission zeigte ihre für Wien adaptierte Wanderausstellung „Atome am friedlichen Werk“ in der Zeit vom 21. Mai bis 21. Juni 1963. In abgewandelter Form wurde sie davor unter dem englischen Titel „Atoms at Work“ bereits in einigen anderen Städten wie Tokio, Lahore, Beirut, Bangkok und Athen gezeigt.
Dies war nicht die erste Ausstellung zum Thema Atom in Wien. Im Rahmen der Wiener Frühjahrsmesse 1957 wurde vom United States Information Service (USIS) die Sonderausstellung „Atome für den Frieden“ am Messegelände beim Prater gezeigt. Im selben Jahr, während der ersten Generalkonferenz der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO; englisch International Atomic Energy Agency, IAEA) in Wien Anfang Oktober 1957, präsentierte die Sowjetunion ihre Ausstellung „Atomenergie für den Frieden.“ Das ‚Gleichgewicht des Schreckens‘ war also auch auf dem Gebiet der Ausstellung über die friedliche Nutzung der Kernenergie in den Zeiten des Kalten Krieges in Wien präsent.
Für die Ausstellung „Atome am friedlichen Werk“ wurde im April 1963 ein temporärer Pavillon von rund tausend Quadratmeter errichtet. In der Mitte wurde ein 35 Meter hoher Aluminiummast aufgebaut, von dem das Dach des Pavillons mit 32 Stahlseilen abgehängt wurde. Die Arbeiten vor Ort wurden von der Firma Waagner Biro durchgeführt.
Schöpfer des temporären Gebäudes war der bekannte amerikanische Architekt und Designer George Nelson (1908–1986). Der Bau war ursprünglich 1958 für die Ausstellung „Atoms for Peace“ in der Sowjetunion geplant, die aber nicht stattfand. 1960 wurde dann die Wanderausstellung „Atoms at Work“ erstmals in Kairo gezeigt.7 Nelson war gemeinsam mit dem österreichischen Bauhäusler Herbert Bayer ab den frühen 1950er-Jahren einer der wesentlichen Protagonisten der jährlichen Aspen Design Conference, bei der sich die weltweit renommiertesten Designer und Designerinnen trafen.
Im Zentrum der Ausstellung stand ein kleines ‚Atomkraftwerk‘, ein 10-Kilowatt-Reaktor, der während der Ausstellung in Betrieb genommen wurde. Dabei handelte es sich um einen adaptierten Nuclear Training Reactor der Purdue University in West Lafayette, Indiana, hergestellt von der amerikanischen Lockheed-Georgia Company. Der Reaktortank ruhte auf einem unterirdischen Betonfundament und war mit Sand ummantelt.8 „Vom Raum für Atomkraft kommen die Besucher unmittelbar zu dem sich in Betrieb befindlichen Kernreaktor, der wie in einem versenkten Theater gezeigt wird, so daß der Beschauer vollen Einblick in alle Operationen hat, die hier durchgeführt werden.“9
Die Arbeiter-Zeitung berichtete darüber ob der anschaulichen Wissensvermittlung der modernen Nuklearforschung begeistert: „Man sieht nicht, wie es sonst üblich ist, am Modell, wie ein Atomreaktor funktioniert, sondern man sieht unter anderem einen Forschungsreaktor tatsächlich in Betrieb, die Zuschauer können die Forscher bei ihrer Arbeit am Reaktor beobachten.“10 Hinter einer Glasscheibe konnte man amerikanische und österreichische Wissenschaftler bei ihrer Tätigkeit beobachten. Zusätzlich gab es Führungen von österreichischen Studentinnen und Studenten der Physik durch die verschiedenen Stationen der Schau. Ein Ziel der Ausstellung war zu zeigen, dass Uran bei der Energiegewinnung große Vorteile gegenüber den fossilen Brennstoffen hätte.
Eröffnet wurde die Ausstellung von Bundeskanzler Alfons Gorbach – die Veranstaltung wurde offiziell von der österreichischen Bundesregierung mitorganisiert – und dem Wiener Bürgermeister Franz Jonas. Anlässlich der Schau kam auch die berühmte aus Österreich stammende Kernphysikerin Lise Meitner (1878–1968) nach Wien.
54 Jahre später steht nun wieder ein Pavillon im Bibliothekshof, um Raum für die Parlamentsdirektion und einige Parlamentsklubs zu bieten, während das Stammhaus generalsaniert wird. In einem innovativen Baukastensystem wurde das vierstöckige Gebäude vom Vorarlberger Architekten Lukas Lang und seiner Firma errichtet. An den beiden Fassaden, die vom Burggarten einsehbar sind, wurde wie bei den beiden Pavillons am Heldenplatz eine dunkle Hülle vorgesetzt auf der der Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 zu lesen ist: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“ Gestaltet wurde diese Intervention von Sigi Ramoser und seinem Grafikdesignbüro Sägenvier aus Dornbirn, das vom Nutzerbeirat des Parlaments wegen seiner schlichten Eleganz und der Konzentration auf das Wort in einem geladenen Wettbewerb dafür ausgewählt wurde.
Über den Autor: Christian Maryška ist Historiker und Kulturwissenschaftler im Bildarchiv und der Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek
1 www.parlament.gv.at/GEBF/DEMOQUART/index.shtml (15. 9. 2017)
www.parlament.gv.at/ZUSD/PDF/Fuehrung_Demokratiequartier_WEB.pdf
Plan: www.parlament.gv.at/ZUSD/PDF/Uebersichtsplan-Hofburg_20170912_BF_WEB_EF.pdf
2 Vgl. Sándor Békési, Elke Doppler (Hg.): Wien von oben. Die Stadt auf einen Blick. Wien 2017, S. 34f. (mit Abbildung).
3 Im Staatsarchiv befindet sich eine zweite Entwurfszeichnung der Terrasse vor der Prunksaalfassade (HHStA, PAB, C-VII-6, Nr. 4433). Vgl. Richard Kurdiovsky: Die Neue Burg – die Geschichte einer „Nicht-Vollendung“ nach Plan (1879–1894). In: Werner Telesko (Hg.): Die Wiener Hofburg 1835–1918. Der Ausbau der Residenz vom Vormärz bis zum Ende des „Kaiserforums“. Wien 2012, S. 232 (mit Abbildung).
4 Andreas Nierhaus: Die Alte Burg im Schatten des Kaiserforums zwischen 1894 und 1918. In: Telesko 2012, S. 282.
5 Andreas Nierhaus: Das Glashaus im Burggarten. In: Telesko 2012, S. 316.
6 Egon Dietrichstein: Der neue Burggarten. In: Neues Wiener Journal, 10. Mai 1919, S. 6
7 www.georgenelsonfoundation.org/george-nelson/works/atoms-for-peace-atoms-at-work-183.html
(20. 9. 2017)
8 An dieser Stelle bedanke ich mich für die Erläuterungen von Univ.Prof. DI. Dr. Helmuth Böck vom Atominstitut der TU Wien
9 Text des Ausstellungsfolders
10 Arbeiter Zeitung, 22. Mai 1963, S. 5
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