Andreas Okopenkos Tagebücher: Ein digitales Editionsprojekt

Forschung

09.02.2017
Literatur

Die Tagebücher des österreichischen Schriftstellers Andreas Okopenko werden in einem Kooperationsprojekt des Instituts für Germanistik der Universität Wien mit dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek als Hybridedition - in digitaler Form und analog - herausgegeben.

Autorin: Laura Tezarek

Andreas Okopenko gehört mit seinem Werk und als Figur im literarischen Betrieb Österreichs nach 1945 zu den unterschätzten Autoren – zu Unrecht, wie ein Blick in den Nachlass und in seine frühen Tagebücher zeigt. Er setzt nicht nur in seinen eigenen Texten wie Lexikon Roman (1970) oder Kindernazi (1984) wichtige innovative literarische Wegmarken, sondern spielt auch als erst 21-jähriger Herausgeber der Literaturzeitschrift publikationen einer wiener gruppe junger autoren (1951-1953), in der beispielsweise auch H.C. Artmann, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker publizieren, eine wichtige Rolle. Einen retrospektiv-reflektierenden Blick auf den österreichischen Literaturbetrieb der Nachkriegszeit wirft Okopenko auch in einigen Essays, wie etwa in Die schwierigen Anfänge österreichischer Progressivliteratur nach 1945 (1975). Darin distanziert er sich einerseits von einer radikaleren Avantgarde wie der späteren „Wiener Gruppe“, grenzt sich aber auch deutlich von konservativen und reaktionären Tendenzen in der österreichischen Literatur der 1950er-Jahre ab. Gleichzeitig provoziert er in seinen Texten in formaler Hinsicht, zeigt aber gleichzeitig  sozialkritisches und politisches Bewusstsein und ist nicht einer bestimmten literarischen Strömung oder Gruppierung zuzuordnen. Seine Position ist damit eine höchst spannende, die einen alternativen Blickwinkel auf die österreichische Nachkriegsavantgarde liefern kann.

Diese Perspektive zeigt sich in ganz besonderer Weise in seinen bisher unveröffentlichten Tagebüchern, die durch die geplante kommentierte Hybridedition einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Das Projekt sieht eine Edition der Tagebücher aus dem Zeitraum 1950 bis 1955 vor, der von ersten Kontakten mit der literarischen Szene zeugt, eine Kommentierung des österreichischen Literaturbetriebs der Nachkriegszeit bietet und die zwiespältige Situation eines jungen Schriftstellers zwischen Studium und späterem Brotberuf auf der einen Seite und der literarischen Tätigkeit auf der anderen zeigt. Aber auch zeithistorisch verdienen die Tagebücher Aufmerksamkeit: Die Schilderungen innenpolitischer Spannungen und die zunehmende Angst vor einem dritten Weltkrieg angesichts der atomaren Bedrohung werden nicht nur reflektiert, sondern auch in einen Kontext aus zahlreichen eingeklebten und eingelegten Zeitungsartikeln, ausgeschnittenen Schlagzeilen und vielen anderen Materialen eingebettet.

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Abb. 1 / 2: Tagebucheintrag vom. 16.01.1950, Autorentagung der "Neuen Wege" und erster Kontakt zu anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern
Abb. 1 / 2: Tagebucheintrag vom. 16.01.1950, Autorentagung der "Neuen Wege" und erster Kontakt zu anderen Schriftstellerinnen und Schriftstellern

Im Rahmen des Projekts werden die Tagebücher aus dem ausgewählten Zeitraum online als Faksimiles und in einer diplomatischen Umschrift zugänglich gemacht und inhaltlich durch Stellenkommentare und übergreifende Themenkommentare erschlossen. Für Interessierte wird es auch die Möglichkeit geben, direkt in die TEI/XML-Codierung der Texte, die das EditorInnenteam erstellt, Einsicht zu nehmen. Nicht nur weil sich der Tagebuchbestand aus sehr heterogenen Materialien zusammensetzt – u.a. A5-Schulbuchheften mit eingelegten Notizen, Briefen, Typoskripten (sowohl von Andreas Okopenko als auch von Dritten wie Friederike Mayröcker), Zeitungsausschnitten, Lebensdokumenten, Abschriften von Gesprächen (u.a. mit Ernst Jandl), und anderem mehr – erfordert die Entwicklung der Codierung viel Arbeit; auch die sich häufig ändernde Anordnung des Textes auf den Seiten macht dies erforderlich.

Abb. 3: Erste Stufe der Codierung einer Tagebuchseite (Screenshot).

Die XML-Codierung nach den Richtlinien der Text Encoding Initiative (TEI) hat sich mittlerweile als Standard in digitalen geisteswissenschaftlichen Editionsprojekten etabliert. Es geht dabei einerseits um eine formale Codierung der Texte (Absätze, Zeilenumbrüche, Hervorhebungen etc.) und andererseits um eine semantische Codierung, über die einfach nach Personen, Orten, Werken etc. gesucht werden kann. Auch Stellenkommentare können so in den Text eingearbeitet und direkt an den betreffenden Stellen aufgerufen werden. Über Verlinkungen können Verbindungen zu anderen Tagebucheinträgen und eventuell zu weiterführenden Materialien hergestellt werden und durch Überblickskommentare werden LeserInnen, die mit dem Autor und seinem Kontext wenig vertraut sind, verschiedene Wege durch den Text vorgeschlagen.

Okopenko selbst kann als Pionier der Hypertextliteratur bezeichnet werden und antizipierte schon 1970 im Lexikon Roman eine Hypertextstruktur:

„Das Material ist alphabetisch geordnet, damit Sie es mühelos auffinden. Wie in einem Lexikon. Aus dem Lexikon sind Ihnen auch die Hinweispfeile bekannt (à), die Ihnen raten sollen, wie Sie am besten weitergehen, wie Sie sich zusätzlich informieren oder wie Sie vom Hundertsten ins Tausendste gelangen können. Wie im Lexikon haben Sie die Freiheit, jeden Hinweispfeil zu beherzigen oder zu übergehen.“[1]

Aber sogar für die Lektüre seines eigenen Tagebuchs nahm Okopenko eine hypertextuelle Lektüre vorweg:

„Unabsehbare Freuden (um schon einmal beim Freudenthema zu bleiben) verspricht dem Tagebuchnarren der Computergebrauch. Das Grundtagebuch würde ich weiter auf Blättern ausdrucken. Die später einmal gewünschten Auszüge aber ließen sich schon in diesem Hinschreiben nach Dutzenden Aspekten vorbereiten. Manche erfragten Resumees bedürften erst gar nicht der schwerfälligen Auszüge, sondern könnten quasi in der Lust und quasi rechnerisch gezogen werden.“[2]

Das Tagebuch erweist sich also als prädestiniert für eine digitale Edition, die einerseits Anstöße für eine vermehrte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Autor geben will, andererseits aber auch LeserInnen ohne Vorkenntnisse einladen möchte, sich mit den Tagebüchern als herausragendem Zeitdokument und als Reflexionsmedium zur Genese eines Schriftstellers an der Schnittstelle von Autobiografie, Poetik und Literaturbetrieb zu beschäftigen.

Die Website ist voraussichtlich ab 2018 online.

Abb 4: Ins Tagebuch eingelegte Collage aus Zeitungsschlagzeilen.

Projekttitel

Andreas Okopenko: Tagebücher aus dem Nachlass (Hybridedition)

Finanzierung

FWF

Laufzeit

01.10.2015-30.09.2018

Projektleitung

Univ.-Prof. Dr. Roland Innerhofer (Universität Wien)

Projektpartner

Priv. Doz. Mag. Dr. Bernhard Fetz (Literaturarchiv)

Projektteam

Dr. Desiree Hebenstreit (Institut für Germanistik, Universität Wien)

Dr. Arno Herberth (Institut für Germanistik, Universität Wien)

Laura Tezarek, MA (Literaturarchiv)

 

Weiterführende Links:

onb.ac.at/de/bibliothek/sammlungen/literatur/forschung/projekte/andreas-okopenko-tagebuecher-aus-dem-nachlass-hybridedition/

germanistik.univie.ac.at/institut/projekte/andreas-okopenko-tagebuecher-aus-dem-nachlass-hybridedition

[1] Andreas Okopenko: Lexikon Roman einer sentimentalen Reise zum Exporteurtreffen in Druden. Salzburg: Residenz Verlag 1970, S. 5. Am Computer umgesetzt wurde dies im Projekt ELEX (1998, auf CD-ROM) der Mediendesigner- und Künstlergruppe „Libraries Of The Mind“.

[2] Andreas Okopenko: Einfangen, Ordnen, Verdichten. Meine Spiele mit Gelebtem. In: ders.: Erinnerung an die Hoffnung. Wien: Klever Verlag 2008, S. 178–182, hier S. 182. [Abdruck in „Die Presse“, 17./18.4.1976, unter dem Titel „Gewohnheitsbucher [sic] seit meinem vierzehnten Lebensjahr“ und in der Anthologie „Ablagerungen“ (1989).] 

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