Am 24. und 25. September 2018 lud die Österreichische Nationalbibliothek zu einem hochranging besetzten wissenschaftlichen Symposium ein, das sich mit der Zukunft der Bibliotheken beschäftigte.
AutorInnen: Sanna Schulte und Alfred Schmidt
Ihr 650-Jahre-Jubiläum war für die Österreichische Nationalbibliothek nicht nur Anlass, auf ihre lange Geschichte zurückzuschauen, sondern auch Ausgangspunkt für einen Blick in die Zukunft. Neun renommierte internationale BibliotheksexpertInnen waren zu einem wissenschaftlichen Symposium eingeladen, um Ideen zu den Aufgaben, der gesellschaftlichen Funktion und dem Selbstbild der Bibliothek der Zukunft zu entwickeln. Es ging um die gegenwärtig viel diskutierte Frage, wie Bibliotheken sich heute inmitten eines tiefgreifenden, nahezu alle Bereiche der Gesellschaft umfassenden, digitalen Transformationsprozesses neu definieren und so ihren zentralen Platz in der Gesellschaft auch in Zukunft behalten können.
Im Themenblock (1), moderiert von Hans Petschar, ging es um die „Bibliothek als öffentlichen Raum“. In den drei Beiträgen wurde die Bibliothek als realer physischer Raum fokussiert, wobei einerseits die historische Entwicklung und Veränderung ihres Erscheinungsbildes, andererseits aber auch die veränderte Konzeption moderner Bibliotheksräume unter den Voraussetzungen der digitalen Revolution in den Blick genommen wurde.
Louis Jaubertie stellte als stellvertretender Leiter des Projekts „Richelieu“ an der Französischen Nationalbibliothek in seinem Vortrag Richelieu, a tale of transformation den Umbau des historischen Gebäudes der Französischen Nationalbibliothek im 2. Bezirk im Herzen von Paris vor. Das Budget für die Renovierung von insgesamt 58.000 m2 beträgt 232 Millionen Euro, wobei 80 % durch das Kulturministerium und 20 % durch das Ministerium für Höhere Erziehung und Forschung finanziert werden. Die erste Bauphase ist bereits abgeschlossen, die zweite wird bis 2021 realisiert. Ziel des Umbaus ist eine weitgehende Öffnung der Bibliothek. Der bisher fast nur von Studierenden und Wissenschaftlern besuchte Teil der Bibliothek wird durch einen neuen Eingang, eine Vielzahl von Dauerausstellungen und verschiedene Speziallesesäle einem möglichst breiten Publikum geöffnet.
Der Vortrag von Renaldas Gudauskas, seit 2010 Generaldirektor der Nationalbibliothek von Litauen, trug den Titel: National library of Lithuania: 3R model. Nach einem einleitenden Imagefilm über die Nationalbibliothek von Litauen, die 2016 nach einem kompletten Umbau neu eröffnet wurde, entwarf Gudauskas anhand der drei leitenden Schlagworte: Rethinking, Restruction und Reorganisation das Bild einer Nationalbibliothek, die Kultur, Bildung, Wissenschaft, aber auch Ökonomie in sich vereint. Dazu gehört beispielsweise auch die Unterstützung von Start-up-Unternehmen in den Gebäuden der Bibliothek.
Der dritte Vortrag dieses Abschnitts von Nikolaus Berger, Direktor der Bibliothek der Wirtschaftsuniversität Wien, trug den Titel Media collections or working space – what´s the priority? Die WU-Bibliothek ist heute ein architektonisches Markenzeichen am neuen Campus der Wirtschaftsuniversität. Berger machte deutlich, dass sich die Prioritäten vom mittelalterlichen Konzept einer Bibliothek als Büchersammlung ohne Lesesaal hin zu einem modernen Konzept einer Bibliothek als Lesesaal nahezu ohne Bücher deutlich verschoben haben und plädiert für eine weitgehende Benutzerorientierung. Im Vordergrund steht heute die Schaffung von möglichst attraktiven Lern- und Arbeitsumgebungen für die Studierenden, wobei nur noch die Literatur der letzten 10 Erscheinungsjahre für Freihandbibliotheken eine relevante Rolle spielt, weil ältere Bestände praktisch nicht benützt werden. Berger betonte allerdings auch den Unterschied zwischen einer auf studentische Bedürfnisse ausgelegten Universitätsbibliothek am WU-Campus und einer Nationalbibliothek.
Der Themenblock (2) mit dem Titel „Die Bibliothek als virtueller Raum“ beschäftigte sich – moderiert von Michaela Mayr – mit den neuen Chancen, Aufgaben und Services von Bibliotheken im Zeitalter der digitalen Medien. Monika Dommann, Historikerin an der Universität Zürich, betonte wie sehr virtuelle und physische Räume in einander verschränkt sind, und die Schaffung virtueller Wissensräume auch die realen Bibliotheksräume verändert. Sie zeigte in ihrem Vortrag Was Frau in Google nicht finden kann eine vorsichtige Skepsis gegenüber allzu ehrgeizigen virtuellen Utopien. Ausgangspunkt ihrer Ausführungen waren die medialen Wellen um eine Buch-lose ETH-Bibliothek (Rafael Ball) und um eine zentrale Universitätsbibliothek in Zürich, wie auch die Mikroverfilmungs-Kampagne in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die in ihrer Euphorie erstaunliche Ähnlichkeiten mit der gegenwärtigen digitalen Revolution aufweist.
Adam Farquhar, Leiter der Abteilung Digital Scholarship der British Library, stellte in seinem Vortrag Buildig Library Labs: transforming relationships between people, technology, and digital collections die neuen Möglichkeiten eines experimentellen und innovativen Umgangs mit digitalen Sammlungen in den Mittelpunkt seines Vortrags. Als essentielle Erfolgsbedingungen definierte er: Hilfe und Anweisungen durch ExpertInnen, eine grundlegende technische Infrastruktur (Software, Hardware, Speicher, Netzwerk), wesentliche Inhalte (Daten, Texte, Bilder), die Möglichkeit Ergebnisse neu zu entwickeln, zu bewerten, zu reproduzieren, zu archivieren und mit anderen zu teilen sowie eine entsprechende Community, Tutorials und Beispiele, die in konkrete Workflows integriert sind. Abschließend gab er folgende Empfehlungen zum Thema Library Labs mit auf den Weg: Start small, think big; Engagement matters; Be open and share; Co-develop.
Als Leiter des Referats Innovationsmanagement an der Staatsbibliothek zu Berlin, entwarf Ralf Stockmann schließlich unter dem Titel Die Revolution vergisst ihre Kinder drei mögliche Szenarien für die Situation der Bibliothek in 15 Jahren. Das Konzept einer zukünftigen Bibliothek als „Wohlfühlort“ im Sinne von Ray Oldenburgs Begriff des „dritten Ortes“ reicht für eine nachhaltige Zukunftsperspektive ebenso wenig aus, wie ein gutgläubiges Vertrauen auf die eigenen Bestände, was nur für einige wenige große historische Bibliotheken gelten mag. Stockmanns klare Empfehlung lautete, Bibliotheken müssen heute aktiv und sensibel neue technologische Entwicklungen verfolgen, um darin ihre Chancen wahrzunehmen. Er verwies auf Beispiele wie Suchmaschinen und Wikipedia, wo Bibliotheken es versäumt hätten, rechtzeitig ihre Expertise einzubringen. Den für Bibliotheken wichtigsten Zukunftstrend heute sieht Stockmann im maschinellen Lernen und AI (Artificial Intelligence). Möglich wäre aber auch die Übernahme scheinbar weit abgelegener Services in der digitalen Gesellschaft wie etwa alternative Angebote zu Dropbox oder einen Schwerpunkt im Bereich „Anleitungen“ zu entwickeln. Als Credo meinte Stockmann abschließend, dass die Online-Angebote von Bibliotheken genauso attraktiv und mit genauso viel Sorgfalt entwickelt werden müssen, wie Bibliotheksneubauten heute.
Im abschließenden dritten Themenblock wurde die „Bibliothek als Raum der Transformation“ thematisiert, d. h. Bibliotheken als Brennpunkte einer weitreichenden Transformation der Wissensgesellschaft als Ganzes.
Klaus Tochtermann, Direktor der ZBW (Leibniz Information Centre for Economics), sprach über Open Science and its impact on the future of libraries. Einleitend erörterte er problematische Felder der digitalen Veröffentlichung (Predatory Journals und Conferences) im Zusammenhang des heute viel diskutierten Schlagworts Fake Science. Tochtermann thematisierte in seinem Vortrag vor allem die evidenten Vorteile, die die digitale Vernetzung beispielsweise für die Interdisziplinarität der Wissenschaft bietet. Der vor Ort in den Magazinen einer Bibliothek vorhandene Bestand wird zunehmend unbedeutend, der Großteil der online verfügbaren Information befindet sich (im Fall der ZBW fast ausschließlich) auf externen Servern.
Der ehemalige Leiter der Danish Agency for Libraries Jens Thorhauge, heute Konsulent im Bereich Wissensinstitutionen, stellte von ihm entworfene New Concepts for Libraries in the Digital Age vor. Er begriff die öffentliche Bibliothek neben ihren klassischen Aufgaben vor allem auch als einen sozialen Ort und stellt der klassischen Bibliothek die „Aktivithek“ gegenüber. Am Beispiel der Kanadischen Nationalbibliothek in Montreal, die mit der öffentlichen Stadtbibliothek vereint wurde, machte er deutlich, dass Forschung und Bildung Kernkompetenzen einer Bibliothek bleiben können, die sich gleichzeitig als Erlebnisraum neu definiert.
Als letzter Vortragender reflektierte Kristian Jensen, Acting Chief Librarian und Head of Collections der British Library, die Idee der Nationalbibliothek als zeitgemäßen Erinnerungsraum. Vor dem Hintergrund der kolonialen Vergangenheit des UK wurde in seinem Beitrag mit dem Titel Representing the Nation. Collecting for a national library in the 21st Century die durchaus politisch relevante Frage virulent, was eine nationale Sammlung heute sein kann und inwieweit diese an den Prozessen der nationalen und postkolonialen kollektiven Erinnerung und Identitätsfindung mitwirken kann.
Den Abschluss des Symposiums bildete eine Diskussion der drei Vortragenden des letzten Themenblocks geleitet vom Moderator Bernhard Fetz. Zentrale Frage der Diskussion war eine mögliche Verbindung der Aufgaben der öffentlichen Bibliotheken mit denen der Nationalbibliothek wie im Falle der Bibliothek von Montreal. Eine weiter voranschreitende Öffnung der Bibliothek würde nach diesem Modell die Bibliothek der Zukunft zu einem gemeinsamen Ort von Sammlung, Forschung und sozialem Austausch machen.
Über die AutorInnen: Dr. Sanna Schulte ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek; Dr. Alfred Schmidt ist wissenschaftlicher Assistent der Generaldirektorin der Österreichischen Nationalbibliothek
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