Autorin: Erna Ströbitzer
Zum Andenken an Gerlinde Haid (19.4.1943–29.11.2012) zum 10. Todestag. Das Landl-Quartett, ein unkonventionelles österreichisches Vokalensemble um die Volksmusikforscherin Gerlinde Haid, stand für einen neuen Zugang zu Volksmusikpflege und Musikvermittlung in den 1980er-Jahren.
Mit Gerlinde Haid, Maria Walcher, Norbert Hauer und Markus Stieldorf fanden sich 1980 vier singende Persönlichkeiten in Wien zum sogenannten Landl-Quartett zusammen. Das Quartett versuchte, eine alternative Volksmusikpraxis wiederzubeleben, die sie als authentisch und lebensnah empfanden. Ähnlich LiedermacherInnen und MusikerInnen aus der Folk-Revival-Bewegung der 1970er- und 80er-Jahre brach das Landl-Quartett mit Konventionen und Erwartungen, wie Volksmusik gewöhnlich klingt und aufgeführt wird. Das Landl-Quartett beteiligte sich an verschiedenen (Gesangs-)Initiativen und Vermittlungsprogrammen des Österreichischen, Niederösterreichischen und Wiener Volksliedwerkes. Ihre Wirkung zeigt sich vor allem in einem noch heute gesungenen Repertoire, im Umgang mit Quellen und in der Musikvermittlung. Herz und Motor des Quartetts war die bedeutende Volksmusikforscherin Gerlinde Haid, deren 10. Todestag wir 2022 begehen.
Nach ihren Assistenzjahren am Institut für Volksmusikforschung an der Hochschule für Musik in Wien bei Walter Deutsch wurde die Ausseerin Gerlinde Haid, geb. Hofer, 1976 die erste hauptamtliche und weibliche Führungskraft des Österreichischen Volksliedwerkes.1 Bis 1989 leitete sie zeitgleich auch die Volksliedwerke von Niederösterreich und Wien.2 Alle drei Vereine samt den dazugehörenden Archiven befanden sich zu dieser Zeit in der Fuhrmannsgasse 18a im 8. Wiener Gemeindebezirk. Mit Feldforschungen zur Volksmusik, Quellenrecherchen und neuen Musikvermittlungskonzepten gab sie der Arbeit in den Volksliedwerken eine neue Richtung.
1980 begannen Gerlinde Haid und die damalige studentische Mitarbeiterin Maria Walcher3 aus Gedersdorf bei Krems, im Archiv nach gefälligem und singbarem Material zu suchen. Eine wichtige Quelle waren dafür die Liedhandschriften des niederösterreichischen Sammlers Karl Liebleitner (1858–1942).4 Gerlinde Haid beschreibt diese folgendermaßen: „Kurze[] Liedchen mit hübschen Melodien, pointierten Texten, voll Humor die einen, voll Traurigkeit die anderen. Ihre Mehrstimmigkeit und ihre Phrasierung ergaben sich so selbstverständlich aus unseren Hörerfahrungen, dass wir kaum einmal über richtig oder falsch nachdachten."5
Der Legende nach überraschte der niederösterreichische Musikvermittler und Sozialarbeiter Norbert Hauer (*1953) die beiden Frauen beim Singen im Archiv und stimmte sofort mit einer dritten Stimme ein. Norbert Hauer kam im Rahmen einer Lehrveranstaltung zur Musikalischen Volkskunde 1976 in Kontakt mit AkteurInnen der damaligen Volksmusikforschung, wie Gerlinde Haid und Rudolf Pietsch (1951–2020). Neben den meist der zeitlichen Verfügbarkeit geschuldeten Duo- oder Trio-Besetzung galt das Quartett als repräsentativste Formation. Der Tiroler Markus Stieldorf (*1954), der in Wien Veterinärmedizin studierte und mit Maria Walcher in einem privaten Singkreis sang, übernahm alsbald die Funktion des Basses.
Benannt wurde das Quartett nach dem Landl, dem umgangssprachlichen Namen für das Landesgericht für Strafsachen Wien, wo die SängerInnen einen ihrer ersten Auftritte hatten. Über den Namen schrieb Gerlinde Haid (deren Einfall er auch war) später, er sein ein „kokettes Spiel zwischen ländlich-sittlicher Idylle und städtisch-unsittlichem Sündenfall“.6 Dieses Zitat verweist nicht nur auf ihren Humor und das Spielerische, Aufmüpfige, sondern auch auf den damals in pflegenden Volksmusikkreisen ungewöhnlich politischen Zugang zum Repertoire.
Maria Walcher und Norbert Hauer beschreiben das Landl-Quartett als vermittelnde Gruppe in der Funktion eines Scharniers.7 Singen ist für sie unmittelbares, elementares Mittel zum Ausdruck von Freude oder zur Problembewältigung. Dazu wählten sie emanzipatorische, gesellschaftskritische Lieder aus, mit denen sich die Menschen identifizieren konnten – Lieder, die berühren. Statt zu moralisieren oder zu belehren, wollte das Landl-Quartett das Publikum auf Augenhöhe ansprechen und miteinbeziehen. Sie sangen in Gefängnissen, Altersheimen und Schulen, traten bei Sängertreffen und gemeinsamen Mitsingveranstaltungen auf, rahmten offizielle Anlässe und Feiern und hatten viele kurzfristige, aktionsartige Engagements. Es gibt keine publizierten Tonaufnahmen vom Quartett, vielleicht auch deshalb, weil sie auf Spontanität und Ausdruckskraft mehr Wert legten als auf perfekten Ensembleklang.
Ös Goasbeidlbauernbuam gesungen vom Landl-Quartett während einer Feldforschung im Ennstal 1983, Niederöblarn, durchgeführt vom Österreichischen Volksliedwerk (1. Stimme: Maria Walcher, 2. Stimme: Gerlinde Haid, Tenorstimme: Norbert Hauer, Bassstimme: Markus Stieldorf), Sign. T 143.1 AÖV/ÖNB
Die Mitglieder des Landl-Quartetts durchsuchten zur Repertoiregenerierung Archive nach regionalen Liedern, die sie dann zu den Menschen „zurückbrachten“ und führten Feldforschungen durch, deren Ergebnisse sie bei Gelegenheit in der Region präsentierten. Die Reflexion der eigenen Kultur sollte das Selbstbewusstsein stärken und die Selbstbehauptung fördern.
Beeinflusst hat sie darin sicherlich der Leiter des Internationales Dialekt-Instituts und der „Initiative Mein Dorf“, der Tiroler Volkskundler und Schriftsteller Hans Haid (1938–2019), seit 1971 Ehemann von Gerlinde Haid. Er positionierte sich gegen Zentralismus, multinationale Konzerne und Massentourismus und startete zahlreiche Initiativen, die sich der ländlichen Regionalentwicklung sowie kulturellen und demokratischen Basisaktivitäten widmeten. Die „Initiative Mein Dorf“ strebte die Emanzipation der „eigenen“ Kultur der Dorfbevölkerung in strukturschwachen Gebieten Österreichs an und bot oftmals den Rahmen für Offene Singen mit Feldforschungscharakter. Das bedeutete, dass damals auch das Publikum aufgefordert wurde, eigene Lieder zu diesen geselligen Singanlässen mitzubringen.
Eine Feldforschung des Österreichischen Volksliedwerkes, die Gerlinde Haid und Maria Walcher gemeinsam durchführten, fand 1982 im Pitztal statt.8 Ausgewählte gesammelte Lieder und Musikstücke wurden in einem Liederheft samt Tonkassette publiziert und bei zwei Dorfabenden in Tirol der lokalen Bevölkerung präsentiert. Ein Journalist schrieb in einem Artikel über den 2. Dorfabend in Eggenstall am 19. November 1982: „Die Abende der „Initiative Mein Dorf“ haben eine eigene Faszination: Hier bieten nicht Musiker Volksmusik, die perfektioniert einem andächtig lauschenden Publikum dargeboten wird, sondern hier singen die Zuhörer selbst mit und bringen auch ihr eigenes Liedgut ein. Dadurch bildet sich eine neue Form von Heimatbewusstsein, ein Stolz auf die eigene Tradition, die hauptsächlich dem Einheimischen dient und nicht nur als Fremdenverkehrsattraktion übrigbleibt.”9
Kommentierte Lieder
Laut Maria Walcher und Norbert Hauer hatte Gerlinde Haid die stärkste Vorstellung davon, wie und was sie singen wollte. Sie erstellte neben Programmen für die Auftritte für das Publikum Liedblätter, die themen-, orts- und personenorientiert waren und die die TeilnehmerInnen mit nach Hause nehmen konnten. Jedes Lied wurde von einer prägnanten Geschichte begleitet: Dies konnten Erklärungen zu den SammlernInnen, Quellen und Fundorten der Lieder sein. Neu war nicht nur die zusätzliche historische Interpretation der Texte, sondern auch die Übertragbarkeit des Inhalts auf die Gegenwart und sein Bezug zu einer gesellschaftlichen Realität. Dies öffnete die Texte für eine andere Perspektive und Identifikation und schuf Raum für politische Botschaften.
„Ihre tiefgründigen und historisch fundierten Kommentare eröffneten einerseits für viele eine neue Sichtweise auf die scheinbar harmlose, unverfängliche Volksmusik, andererseits ergaben sich thematische Schwerpunkte, die bislang in der gängigen Volksmusikpflege völlig unberücksichtigt waren, wie zum Beispiel Frauen- oder Gaunerlieder.”10
Gerlinde Haids Einleitung zum Lied Und I trau mi net und das Lied gesungen von Gerlinde Haid, Maria Walcher und Norbert Hauer, während der Präsentation des Liederheftes zur Feldforschung im Pitztal, organisiert von der Initiative Mein Dorf, 25.10.1982, Zaundorf, Sign. T 132.1, AÖV/ÖNB.
In Gesprächen mit den damaligen AkteurInnen entsteht der Eindruck, dass die Liedkommentare wesentlicher Bestandteil der Auftritte des Landl-Quartetts waren. Meiner Meinung nach wollte das Landl-Quartett nicht nur unterhalten, sondern vor allem kommunikativ sein und emanzipatorisch wirken. So hatte ihr Auftritt durchaus einen funktionalen Charakter, der der kritischen Songwriter-Generation der 1980er-Jahre ähnlich, aber weniger provokativ ist.11
Über die Autorin: Mag. Erna Ströbitzer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Archiv des Österreichischen Volksliedwerkes an der Österreichischen Nationalbibliothek.
1 Als Referenz für die Jahreszahl siehe Würzl, Eberhard (1976): Österreichisches Volksliedwerk. Verband der Volksliedwerke der Bundesländer März 1975 bis Februar 1976, in: Jahrbuch des Österreichischen Volksliedwerkes 25 (1976), S. 124–125.
2 1989 verließ Gerlinde Haid Wien, um als Hochschulassistentin am Institut für musikalische Volkskunde in Innsbruck zu arbeiten, was auch das Ende des Landl-Quartetts bedeutete. 1994 kehrte sie als Ordinaria am Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie nach Wien zurück und leitete dieses bis zu ihrer Emeritierung, siehe Walcher, Maria (2013). Aus dem Herzen von Österreich … Biographische Blitzlichter zu Gerlinde Haid, der Ausseerin auf Reisen, in: Hemetek, Ursula und Ulrich Morgenstern (Hg.): Gerlinde Haid. Eine Biobibliographie. Wien: Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie, S. 18–36, hier S. 20.
3 Maria Walcher folgte 1989 Gerlinde Haid als Generalsektretärin des Österreichischen Volksliedwerkes nach. Sie reüssierte nicht nur mit Musikvermittlungsprojekten wie „Mit allen Sinnen“. Unter ihrer Ägide erfolgten der Umzug der Volksliedwerke in den Bockkeller im 16. Bezirk 1993, die Angliederung des Archives des Österreichischen Volksliedwerkes an die Österreichische Nationalbibliothek 1994 und der Umzug des Österreichischen Volksliedwerkes samt Archiv an den Standort Operngasse 6 im Jahr 1999.
4 Sammlung Liebleitner
5 Haid, Gerlinde (2000): Das „Landl-Quartett”, in: Hauer, Norbert (Hg.): A Mensch mecht i sein. Musik und Poesie in österreichischen Justizanstalten. Graz: Steirisches Volksliedwerk, S. 9–12, hier S. 10.
6 Haid, Gerlinde (2000): Das „Landl-Quartett”, in: Hauer, Norbert (Hg.): A Mensch mecht i sein. Musik und Poesie in österreichischen Justizanstalten. Graz: Steirisches Volksliedwerk, S. 9–12, hier S. 9
7 Neben der „Landl-Mappe“ Sign. ÖN 21, Archiv des Österreichischen Volksliedwerkes/Österreichische Nationalbibliothek, dienten zwei Interviews in Perchtoldsdorf am 12. Juli und 23. August 2021 mit Maria Walcher und Norbert Hauer und ein Telefongespräch am 17. August 2021 mit Markus Stieldorf als Quellen.
8 Trefferliste Feldforschung Pitztal
9 Holzhammer, Robert (1982): Wieder Dorfabend – diesmal in Eggenstall, in: Oberländer Rundschau, 24.11.1982.
10 Walcher, Maria (2013). Aus dem Herzen von Österreich … Biographische Blitzlichter zu Gerlinde Haid, der Ausseerin auf Reisen, in: Hemetek, Ursula und Ulrich Morgenstern (Hg.): Gerlinde Haid. Eine Biobibliographie. Wien: Institut für Volksmusikforschung und Ethnomusikologie, S. 18–36, hier S. 27.
11 Vgl dazu: Juhasz, Christiane (1994): Kritische Lieder und Politrock in Österreich. Eine analytische Studie. Frankfurt am Main: Peter Lang, S. 124 ff.
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