Das Verborgene lesbar machen

Forschung

02.11.2016
Handschriften und alte Drucke

Ein griechisches Palimpsest im Fokus

Autorin: Katharina Kaska 

Der Mythos des Verborgenen und die Hoffnung auf sensationelle Entdeckungen treiben nicht nur Forschungsreisende seit Jahrhunderten zu immer neuen Wagnissen. Auch Handschriftenforscher können sich diesem Reiz bei ihrer Suche nach verlorenen Werken und Schriften nicht entziehen. Große Hoffnung auf bedeutende Funde bieten seit jeher Palimpseste. Diese abgeschabten und wiederbeschriebenen (Pergament-) Blätter, deren ursprüngliche Beschriftung oft kaum noch sichtbar ist, veranlassen Generationen von ForscherInnen zur Anwendung immer neuer Mittel zur Verbesserung der Lesbarkeit.

Nicht immer ging man dabei mit der gebotenen Vorsicht an die wertvollen Unikate heran. Die ersten Bearbeiter im 18. und 19. Jahrhundert nutzten verschiedene Tinkturen, die den Text zwar kurzfristig sichtbar werden ließen, gleichzeitig aber das Pergament stark beschädigten und für weitere Untersuchungen unbrauchbar machten [1]. Die Behandlungen „glichen aber häufig jenen operativen Eingriffen, durch die der Kranke zwar von seinem Leiden befreit wird, aber stirbt“ (Krumbacher 1906: 634).

Tinkturanwendung im sogenannten Notizbuch Friedrichs III. (Cod. 2674 [2], fol. 2r)

Als schonendere Methode erwies sich die Photographie [3], die ab dem Ende des 19. Jahrhundert auch für Palimpseste herangezogen wurde [4]. Bald experimentierte man auch mit unterschiedlichen Beleuchtungen der Palimpsestblätter und erkannte die Vorteile einer Bestrahlung mit ultraviolettem Licht für manche Anwendungsfälle [5]. Unter UV-Strahlung werden Komponenten der Tinte und ihre Wechselwirkung mit dem Beschreibstoff sichtbar, die im sichtbaren Licht verborgen bleiben. Der Erfolg dieser Methode hängt stark von Art und Technik der Textauslöschung ab und bewegt sich zwischen einem leicht und flüssig lesbaren Text und kaum als Schrift zu erkennenden Spuren. Die einfache Verfügbarkeit handlicher UV-Lampen macht sie zu einer der am weitesten verbreiteten Techniken für eine Erstuntersuchung von Palimpsesten und anderen abgeschabten Eintragungen.

Den nächsten großen Durchbruch brachte Ende des letzten Jahrtausends der vermehrte Einsatz digitaler Techniken, die sowohl die konventionelle Photographie, als auch die Aufnahme von Palimpsesten revolutionierten. Hochauflösende Digitalbilder erlauben nicht nur eine adäquate Vergrößerung relevanter Bildausschnitte, sie bieten auch vielfältige Möglichkeit der Nachbearbeitung der Aufnahmen.

Im Lichte dieser Entwicklungen wurden im europäischen Forschungsprojekt „Rinascimento virtuale“ (2001-2004), an dem die Österreichische Nationalbibliothek als eine von drei österreichischen Institutionen beteiligt war, alle griechischen Palimpseste neu untersucht. Direkt im Anschluss folgten zwei nationale, vom österreichischen Forschungsfond geförderte Projekte zur genaueren Erschließung der so vorbereiteten Handschriften [6].

Der von vielen ForscherInnen so erhoffte spektakuläre Fund gelang dabei der Projektmitarbeiterin Jana Grusková in der griechischen Handschrift ÖNB Cod. Hist. gr. 73. Auf acht Seiten konnte sie den unteren, stark abgewaschenen Text als Teil der verloren geglaubten Scythica des Autors Dexippos von Athen identifizieren (Grusková, 2010: 50–53). Dieses historische Werk aus dem 3. Jahrhundert nach Christus schildert die Auseinandersetzungen zwischen den Goten, hier Skythen genannt, und den Römern aus der Sicht eines Zeitgenossen, der möglicherweise sogar selbst an den Kämpfen teilgenommen hat. Damit ist der neu entdeckte Text des Dexippos für Philologen wie für Historiker von höchster Bedeutung. Er liefert nicht nur Informationen über einen Autor, der bisher nur aus Zitaten in anderen Werken bekannt war, sondern beschreibt auch bislang unbekannte Schlachten und Eroberungen.

Um möglichst viel der teilweise kaum erkennbaren Schrift lesbar zu machen, wurden neue, über reine UV-Aufnahmen hinausgehende, technische Methoden eingesetzt, die bereits beim berühmten Archimedespalimpsest zum Erfolg geführt hatten. Mit einer Spezialkamera wurden von der Early Manuscripts Electronic Library Multispektralaufnahmen, d.h. Aufnahmen bei Beleuchtung mit verschiedenen Wellenlängen, angefertigt.  Die so gewonnenen Digitalaufnahmen wurden danach von Image Scientists bearbeitet, um eine möglichst optimale Lesbarkeit zu erreichen. Auf diese Weise konnten weitere Textpassagen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden [7]. Manches blieb jedoch selbst für diese aufwendigen optischen Verfahren unter der Oberfläche verborgen.

Als weiterer Untersuchungsschritt bot sich daher eine physikalische Methode an, die die Zusammensetzung von Tinte und Pergament sichtbar macht: die Röntgenfluoreszenanalyse (RFA). Sie wird in der Handschriftenforschung vor allem zur Bestimmung von Tintenbestandteilen wie Eisen, Kupfer oder Blei genutzt. Wenn jedoch eine große Zahl von Messungen in einem Scanverfahren Punkt für Punkt und Reihe für Reihe durchgeführt werden, entsteht zusätzlich ein zweidimensionales Bild der Spuren, die die abgewaschene Tinte im Pergament hinterlassen hat. Mit etwas Glück treten so verlorene Buchstaben und Worte aus Pergamenthintergrund hervor und können durch die Expertin/den Experten identifiziert werden.

Diese technisch anspruchsvollen und sehr zeitaufwendigen Scanmessungen können in Österreich bislang jedoch nicht durchgeführt werden. Die Handschrift ÖNB Cod. hist. gr. 73 wurde daher im Rahmen des vom Fond zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung finanzierten Projekts Scythica Vindobonensia für eine Woche in die Bundesanstalt für Materialforschung nach Berlin gebracht. Ziel war es, im dortigen Labor für Kunst- und Kulturgutanalyse die Beschaffenheit von Pergament und Tinte intensiv zu untersuchen sowie Möglichkeiten und Grenzen von RFA-Scans für die Verbesserung der Lesbarkeit des Textes auszutesten. In mehreren Messkampagnen, die für briefmarkengroße Ausschnitte 15 Stunden und länger dauerten, konnten so einige kritische Textstellen erfolgreich lesbar gemacht werden.

Cod. hist. gr. 73 wird für den RFA-Scan vorbereitet

Neben diesen inhaltlichen Fortschritten, können die gewonnen Daten nun auch zur Planung weiterer Untersuchungsschritte dienen. Dazu gehört etwa die Anwendung von Synchrotronstrahlung für die Röntgenfluoreszenzanalyse, ein Verfahren, das auch beim schon erwähnten Archimedespalimpsest eingesetzt wurde. Auch im Bereich der Multispektralaufnahme kommt es laufend zu Verbesserungen der Technik, z.B. durch die Vergrößerung der Zahl der verfügbaren Wellenlängen für die Beleuchtung. Nur eine Kombination verschiedener Techniken, verbunden mit der Arbeit von Spezialisten der Bildbearbeitung kann die Forschungsgemeinschaft dem Ziel einer vollständigen Edition des Scythica Fragments und damit einem Wissensgewinn über die Auseinandersetzungen zwischen Goten und Römern einen Schritt näherbringen.

Literatur:

Declercq, Georges (2007): Introduction: Codices Rescripte in the Early Medieval West, in: Georges Declercq (Hrsg.), Early medieval palimpsests, Turnhout: Brepols, (Bibliologia 26), S. 7-22.

Grusková, Jana (2010): Untersuchungen zu den griechischen Palimpsesten der Österreichischen Nationalbibliothek: Codices Historici, Codices Philosophici et Philologici, Codices Iuridici. Wien : Verl. der Österr. Akad. der Wiss, (ÖAW Denkschriften 401 = Veröffentlichungen zur Byzanzforschung 20), S. 50–53

Grusková, Jana (2014a): Ein neues Textstück aus den "Scythica Vindobonensia" zu den Ereignissen nach der Eroberung von Philippopolis, in:  Tyche 29 (2014), S. 29–43, online.

Grusková, Jana (2014b):  Dexippus Vindobonensis (?). Ein neues Handschriftenfragment zum sog. Herulereinfall der Jahre 267/268, in:  Wiener Studien 127 (2014), S. 101–120, online.

Grusková, Jana u. Martin,Gunther (2014): Scythica Vindobonensia by Dexippus (?): New Fragments on Decius’ Gothic Wars, in:  Greek, Roman, and Byzantine Studies 54 (2014), S. 728–754, online.

Grusková, Jana u. Martin, Gunther (2015): Zum Angriff der Goten unter Kniva auf eine thrakische Stadt (Scythica Vindobonensia, f. 195v), in Tyche 30 (2015)S. 35–53

Kögel, Raphael (1914): Die Palimpsestphotographie. Ein Beitrag zu den philologisch-historischen Hilfswissenschaften, in: Sitzungsberichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin 37 (1914), S. 974-978, online hier

Krumbacher, Karl (1906):  Die Photographie im Dienste der Geisteswissenschaften, in: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum Jg. 9 (1906), S.601-659, online hier.

Pringsheim, E. und Gradenwitz, O. (1902):  Photographische Reconstruction von Palimpsesten, in: Jahrbuch für Photographie und Reproduktionstechnik 15 (1902), online hier.

di Sarzana, Ch. Faraggiana C. (2006): La Fotografia applicata a manoscritti greci di difficile lettura: Origini ed evoluzione di uno strumento di ricerca e i principi metodologici che ne regolano l’uso, in: Escobar, Angel, El palimpsesto grecolatino como fenómeno librario y textual,(Zaragoza 2006) 65-80.

[1] Siehe zu Palimpsesten etwa die Ausführungen in Declercq 2007: 7-22.

[2] Volldigitalisat unter http://data.onb.ac.at/rec/AL00167818

[3] Ein Überblick zu Verwendung der Photographie bei Palimpsesten findet sich in: di Sarzana 2006: 65-80.

[4] Eine erste Anleitung zur Palimpsestphotographie mit Abbildung: Pringsheim und Gradenwitz 1902: 52-56,.

[5] Eine grundlegende Darstellung, die auch die Verwendung von UV Licht erwähnt, gibt Kögel 1914: 974-978

[6] Scythica Vindobonensia (Leiter: Fritz Mitthof) ; Wichtige Textzeugen in Wiener griechischen Palimpsesten (Leiter Otto Kresten)

[7] Bisherige Publikationen: Grusková 2014a; Grusková 2014b; Grusková u. Martin 2014; Grusková u. Martin 2015 

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