Die Bibliothek und das Kino

Forschung

19.07.2018
Geschichte der ÖNB, Literatur
Kinosaal Metrokino, Copyright: Rudolf Steiner

Anlässlich des 650-Jahre-Jubiläums der Österreichischen Nationalbibliothek zeigte das METRO Kinokulturhaus von 7.–17. Juni 2018 mit freundlicher Unterstützung des Filmarchivs Austria, presented by OMV, die Reihe „Die Bibliothek im Film“. Zur Eröffnung sprach der bekannte Film- und Kulturkritiker Georg Seeßlen über zwei magische Orte: Die Bibliothek und das Kino.

Autor: Georg Seeßlen

Abb. 1: Historischer Saal des METRO Kinokulturhauses (Copyright: Rudolf Steiner) 

Wir sprechen heute von zwei magischen Orten. Von zwei Orten, die bei vielen Menschen eine kulturelle und biographische Schlüsselrolle spielten, die bei anderen retromanische Nostalgie wecken. Zwei Orte, in die man aus Wissensdurst geht: Wer bin ich, und wie ist die Welt beschaffen? Irgendwo dort, in der Fülle dieser magischen Orte liegen die richtigen Antworten, manche allerdings ziemlich gut versteckt hinter vielen falschen. Zwei Orte, die im Verlauf ihrer Geschichte Kultur und Politik verändert haben, und die ihrerseits von Kultur und Politik verändert wurden. Zwei Orte, an denen man ganz für sich und zugleich in guter Gesellschaft sein kann. Zwei Orte, von denen Revolutionen, oder jedenfalls Revolten ausgehen konnten. Zwei Orte, von denen wir seit geraumer Zeit fürchten, sie könnten verschwinden, jedenfalls in ihrer, nun eben, magischen und architektonischen Form.

Es geht um die Bibliothek, und es geht um das Kino.

Zwei Orte also, die untereinander eine gewisse Vertrautheit unterhalten. Wenn ich wissen will, was das Kino ist, muss ich eine Bibliothek aufsuchen. Wenn ich wissen will, was eine Bibliothek ist, muss ich ein Kino aufsuchen. Die beiden Orte reflektieren einander. Aber zugleich berühren sich Bibliothek und Kino nie direkt. Nie wird sich ein Vorhang öffnen, und statt einer Leinwand wird ein Bücherschrank erscheinen. Nie wird sich ein Buch öffnen und den Blick auf eine Leinwand freigeben. Außer natürlich in einem Disney-Zeichentrickfilm und mit dem beiden Medien innewohnenden „Es war einmal“. Denn natürlich ist genau dieses Bild, die Buchseite, die sich in ein Filmgeschehen verwandelt, gewissermaßen das Urbild der cineastischen Erzählhaltung, und umgekehrt kann eine Bibliothek, die auf sich hält, nicht bloß archivarischer Rationalität gehorchen, sondern sie ist ein inszenierter und – wenn man so will – montierter Raum. Die sechseckigen Leseräume in der Bibliothek von Babel von Jorge Luis Borges entsprechen gewissermaßen den Einstellungen eines bewegten Weltbildes und nicht erst durch Walter Moers’ „Stadt der träumenden Bücher“ erwarten wir förmlich, dass die Bücher durch eine solche Inszenierung Bewegung und Leben erhalten. Wir können es uns vielleicht am ehesten so vorstellen: Das Kino träumt die Bibliothek, und die Bibliothek träumt das Kino. 

Ein Setting, in dem man sich als Objekt einer Mise en scène fühlt: Der lesende Mensch ist immer auch einer, der im Bild ist, der sich auf einer doppelten Bühne bewegt, einer inneren (nämlich in der Welt seines Lesestoffes, selbst wenn es sich um ein Lehrbuch der anorganischen Chemie handelt) und einer äußeren (nämlich der Bibliothek als Raum für vor-geschriebenes Verhalten). Vielleicht deswegen erzählt das Kino so gern von Menschen, die die Bibliothek nicht allein zum Lesen aufsuchen, sondern als Verschwörungsort oder als Fluchtpunkt, als Trauminsel und Bruch mit der äußeren Wirklichkeit, nicht zuletzt als Ort der Liebe. Und denken Sie, es gibt Menschen, die abenteuerlich in der Welt herum kommen und zugleich den Großteil ihres Lebens in einer Bibliothek verbringen. Karl Marx zum Beispiel. Oder Indiana Jones.

Noch etwas haben Kinos und Bibliotheken gemein, sie gelten als vergleichsweise niedrigschwellig, sagen wir im Vergleich zu Theatern oder Konzertsälen, und als informell; nur wenige Menschen ziehen sich etwas Besonderes an, wenn sie in ein Kino oder eine Bibliothek gehen, stattdessen empfindet man sich in seinem Lieblingskino oder seiner Bibliothek ein bisschen wie zuhause und genießt es durchaus, es sich, wie man so sagt, „bequem zu machen“. Und eine weitere Gemeinsamkeit: An beiden Orten neigt der Körper dazu, zu verschwinden, damit der Geist ganz konzentriert sein kann. Für beide Orte gilt ein relatives Schweigegebot, das sich menschlich macht, weil es nie vollständig eingehalten wird. Das Lachen im Kino, das Flüstern in der Bibliothek deutet immer wieder an: Wir sind noch da. Wir sind nicht vollständig in den Phantasien, Ideen und Bildern verschwunden, die wir hier erbeuten, oder die uns am Haken haben, wie man es nimmt.

Mittlerweile lösen sich die beiden magischen Orte in unseren Subjekt-Maschinen auf, was zweifellos sehr bequem ist. Wir haben eine Bibliothek unserer Lieblingsfilme in der Cloud, jederzeit abrufbereit, und wir haben die Bibliothek auf unserem Lesegerät, in einer fast schon cinematografischen, fluiden Form. Der Überfluss indes ist virtuell, natürlich bin ich mit meinem Lesegerät mit mehr Büchern verknüpft, als ich je in meinem Leben lesen könnte, und auch die Filme in der Cloud könnte man nicht weggucken, wenn man 24 Stunden am Tage nichts anderes täte. Was fehlt, ist der Raum dazwischen, dieser Ort, an dem zwischen dem subjektiven und dem kollektiven Aspekt von Büchern oder Filmen etwas geschieht. Man kann es Kultur nennen, oder einfach Gesellschaft. In der speziellen Biographie ist es ein Transitraum, ein kognitiver Versammlungsort; natürlich haben wir immer wieder die beiden Orte, die Bibliothek und das Kino, in gewisser Weise auch als Gefängnisse begriffen, die Bibliothek als einen Ort, an dem die Bücher zu sehr geordnet, zu sehr eingesperrt, zu kontrolliert sind, und das Kino als einen Ort, an dem Filme zu sehr strukturiert, programmiert und konditioniert sind, um ihr Potenzial zu entfalten. Bücher aus der Bibliothek zu befreien, so oder so, Filme aus dem Kino hinaus zu bringen, ins expanded cinema etwa, in den öffentlichen Raum, ins Punk-Konzert, das gehört genauso unseren Doppelträumen wie eine Rückkehr zur Bibliothek der Abenteuer oder zum Cinema Paradiso.

Daher ist es wohl nur folgerichtig, dass wir eine gewisse fetischistische Besessenheit von den beiden verschwindenden magischen Orten haben. Wir beschwören das alte Kino, wir beschwören die alte Bibliothek.

Abb. 2: Fahrenheit 451 (François Truffaut, GB 1966). Quelle: Filmarchiv Austria

Orte des Dazwischen

Kino und Bibliothek sind Bollwerke gegen eine feindliche oder lästige Außenwelt, sie sind Instrumente nicht nur der Gemeinschaft, sondern auch solche des Ausschlusses. Virginia Woolf erzählt in ihrem Buch „Ein Zimmer für sich allein“ von ihrem Versuch, die Bibliothek von, wie sie es bezeichnete, „Oxbridge“ zu nutzen:

„Da stand ich schon vor der Tür, die direkt in die Bibliothek führt. Ich muss sie geöffnet haben, denn augenblicklich erschien dort, wie ein Schutzengel, der mit dem Geflatter einer schwarzen Robe statt weißer Flügel den Weg versperrt, abwehrend ein silberhaariger, gütiger Gentleman, der, während er mich zurückscheuchte, mit leiser Stimme bedauerte, Damen seien nur in Begleitung eines Fellows des College oder mit einem Empfehlungsschreiben versehen zur Bibliothek zugelassen.“

Die Gefährlichkeit beim Benutzen einer Bibliothek ist das Pendant zur Gefährlichkeit der Benutzungsverbote. Und auch das Kino kennt diese Dialektik, auch wenn es sich von Anfang an als demokratisches Medium verstehen musste; noch in meiner Jugend gab es den definitiven Unterschied zwischen einem anständigen Lichtspieltheater und einem sogenannten Bumskino, wobei dieses Bumskino weniger mit sexuellen Attraktionen als mit einer Abfolge von Schüssen, Schlägen und Karambolagen zu tun hatte.

Das Kino bewahrt die Erinnerung an eine Bibliothek, die es nicht mehr gibt, so wie sie war, als Bücher noch etwas Rares und Kostbares waren. Aber wie das Kino so ist auch die Bibliothek nicht vollständig in den Subjektmaschinen des Wissens verschwunden. Sie macht einen Transformationsprozess durch. Was Richard David Lankes, Professor für Bibliothekswissenschaft an der University of South Carolina, in seinem offenen „Brief an eine Bibliothekarin“ schreibt:

„Du musst dir klarmachen, dass das, wofür Bibliotheken stehen, nicht Bücher oder Datenspeicher oder Computer sind, sondern Gesellschaft, Gemeinwesen. Die Bücher und das Gebäude sind gute Werkzeuge, aber sie sind nur Streichhölzer, die den Geist der Gesellschaft entzünden. Unser Ziel sollte nicht sein, alles zu sammeln, was unsere Gesellschaft braucht, sondern eine klügere, bewusstere und offenere Gesellschaft in die Welt zu entsenden.“

Das lässt sich nahezu eins zu eins auf das Kino übertragen. Die Filme und das Kino sind gute Werkzeuge, aber sie sind nur so gut, wie die Arbeit darin, eine klügere, bewusstere und offenere Gesellschaft in die Welt zu entsenden.

Jenseits der Bibliothek und jenseits des Kinos ist die Freiheit mehr oder weniger grenzenlos. Jeder und jede kann alles sehen und alles lesen. Nur: Wir tun es nicht mehr gemeinsam. Und wir können nicht mehr darum kämpfen, es gemeinsam zu tun. Wenn wir also darauf bestehen, dass Kino und Bibliothek distinkte Orte bleiben, nicht nur Popcornverkaufstellen mit angeschlossenem Bilderfluss, nicht nur multimediale Wärmestube mit kulturellem Grundversorgungsanspruch, dann tun wir es, um dieser Gemeinschaft wegen. Einer Gemeinschaft, um die immer gekämpft werden muss, einer Gemeinschaft, die immer gefährdet und immer auch gefährlich ist. Das subjektive Wissen und das subjektive Sehen und das kollektive Wissen und das kollektive Sehen, verändern nichts an einer Gesellschaft, wenn sie keinen Ort, keine Sprache, keinen Ritus finden, um miteinander in Verhandlung zu treten.

Es sind die Orte, in denen sich subjektive Empfindungen mit sozialen Bewegungen treffen; das Wissen der einzelnen mit dem Wissen der vielen, und immer funktioniert das in beiden Richtungen. Auch der einzelne Mensch bricht sich aus dem Diskurs-Wissen der Bibliothek heraus, was ihm dient oder was sie verzaubert, und von den Kinobildern nehmen wir stets das Verbindende wie das Einzigartige mit in den Alltag.

Beides ist in den neuen Formen zugleich weiter kollektiviert und weiter subjektiviert. Was fehlt ist das Dazwischen, was fehlt ist der Ort, an dem die Schnittmenge verhandelt wird. Auch deshalb geht es bei der Sorge um das Verschwinden nie allein um das Nostalgische. Kino und Bibliothek sind Ur-Orte der Demokratie, das eine prägend für das neunzehnte, das andere prägend für das zwanzigste Jahrhundert, beide unerlässlich, immer noch, für das Bewusstsein, zugleich einzelner und sozialer Mensch zu sein. Und nicht zu vergessen: Beides sind Orte der Schönheit. Schöne Orte. Gemeinsam sind sie unwiderstehlich, die Bibliothek und das Kino.

Die Reihe „Die Bibliothek im Film“ fand anlässlich des 650-Jahre-Jubiläums der Österreichischen Nationalbibliothek von 7.-17. Juni 2018 im METRO Kinokulturhaus statt. Mit freundlicher Unterstützung von Filmarchiv Austria, presented by OMV.

Über den Autor: Georg Seeßlen ist Autor, Film- und Kulturkritiker.

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