Am 8. November jährt sich der Todestag des Komponisten, Musikwissenschafters und Byzantinisten Egon Wellesz zum 50. Mal. Ein großer Teil seines Nachlasses befindet sich in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.
Autor: Hannes Heher
Am 21. Oktober 1885 wurde Egon Wellesz in Wien als einziges Kind einer aus dem ungarischen Teil der Donaumonarchie zugezogenen wohlhabenden Kaufmannsfamilie geboren. Nach der Reifeprüfung und einem sehr kurzen Intermezzo als Hörer an der juridischen Fakultät der Universität Wien wechselte er zur Musikwissenschaft (sein verehrter Lehrer war Guido Adler) und wurde daneben bereits 1905 einer der ersten Privatschüler Arnold Schönbergs. Obgleich er sich dessen strengem Unterricht schon nach weniger als zwei Jahren entzog und eigene Wege ging (was ihm Schönberg nie wirklich verzieh), stellten sich schon bald erste Erfolge ein – vor 1938 zählte Wellesz sogar zu den wichtigsten zeitgenössischen Komponierenden überhaupt. Nicht nur seine zahlreichen Arbeiten für das Musik- und Tanztheater, die teilweise auf Libretti der Freunde Jakob Wassermann und Hugo von Hofmannsthal geschrieben wurden, standen permanent auf den Spielplänen der bedeutendsten deutschsprachigen Bühnen. Namhafte Orchester, Ensembles und Solist*innen interpretierten seine Werke, am Pult standen Persönlichkeiten wie Hermann Abendroth, Clemens Krauss, Richard Lert, Eugen Szenkár oder Bruno Walter. Im Jahr 1932 erhielt der Komponist (!) Wellesz sogar das Ehrendoktorat der Universität Oxford – als erster Österreicher seit Joseph Haydn.
Aber auch als Musikwissenschafter leistete er etwa mit der erstmaligen Entzifferung der mittelbyzantinischen Notenschrift, mit seinen Arbeiten über die Barockoper oder mit der überhaupt ersten Schönberg-Biographie Hervorragendes; eine außerordentliche Professur an der Wiener Universität in diesem Fach sowie seine spätere musikwissenschaftliche Lehr- und Forschungstätigkeit im Exil in England seien zusätzlich erwähnt. Diese beruflichen Tätigkeiten ermöglichten es ihm zugleich, ohne Rücksicht auf materielle Zwänge kompositorisch tätig zu sein. Zeitlebens setzte sich Egon Wellesz auch intensiv für andere Komponierende ein, so war er beispielsweise gemeinsam mit dem Pianisten und Komponisten Rudolf Réti 1922/23 einer der Initiatoren der IGNM/ISCM, der „Internationalen Gesellschaft für Neue Musik“.1
Der „Anschluss“ Österreichs 1938 beendete diese so erfolgreiche Karriere jedoch abrupt, er hatte auch für Wellesz empfindliche Konsequenzen: Als Jude, Monarchist und Verfasser von als „entartet“ verfemter Musik wurde der 53jährige sofort nach der „Machtübernahme“ aller seiner Ämter enthoben und polizeilich gesucht. Glücklicherweise hielt er sich in diesen Tagen zufällig in Holland bei Aufführungen seines Erfolgsstücks „Prosperos Beschwörungen. Fünf Symphonische Stücke nach Shakespeare's ‚Der Sturm‘“ durch das Koninklijk Concertgebouworkest (Royal Concertgebouw Orchestra) unter Bruno Walter auf und kehrte wohlweislich nicht mehr zurück. Mit einem Mal musste er als Komponist gegen das Vergessen ankämpfen und konnte zeitlebens nie mehr an seine vorherigen Erfolge anschließen. Als Forscher und Lehrer gelang ihm im Exil durch die Übernahme eines eigens für ihn eingerichteten Lehrstuhls in Oxford jedoch zumindest die Fortsetzung seiner musikwissenschaftlichen Arbeit.
Egon Wellesz wurde nach 1945 zwar mit nationalen und internationalen Ehrungen geradezu überhäuft – so erhielt er (u. a.) den Großen Österreichischen Staatspreis für Musik (1961) und das Österreichische Ehrenzeichen für Wissenschaft und Kunst (1971), in England wurde er 1957 von der Queen zum Commander of the Order of the British Empire (CBE) ernannt, Paris ehrte ihn im gleichen Jahr mit der Großen Silbernen Medaille der Stadt und Papst Johannes XXIII. verlieh ihm im Jahre 1961 den Gregorius-Orden.2 Nicht zuletzt wurde er ein Jahr vor seinem Tod Ehrenmitglied der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. An eine Wiedereinsetzung in seine beruflichen Funktionen in seiner Heimatstadt oder an repräsentative Aufführungen seiner Hauptwerke wurde jedoch nicht im Entferntesten gedacht. Wellesz ist hier kein Einzelfall, er teilt dieses Schicksal bekanntlich mit so vielen Leidensgenoss*innen.
Bis ins hohe Alter war er dennoch unermüdlich schöpferisch tätig, beinahe die Hälfte seiner kompositorischen Werke schrieb er ab seinem 60. Lebensjahr. Je mehr die Beschäftigung mit dem „Brotberuf“ Musikwissenschaft in den Hintergrund trat, desto nachhaltiger konnte er sich für seine Kompositionen engagieren. Eine immer wiederkehrende Aussage der vielen Briefe aus den letzten Jahren war seine Angst, „nicht mehr warten zu können“.3 So hätte Wellesz sicher die Uraufführung seiner im Frühjahr 1971 beendeten und für November 1972 von der „Gesellschaft der Musikfreunde in Wien“ zur Uraufführung angenommenen letzten (9.!) Symphonie gerne gehört, ein schwerer Schlaganfall im Jänner des Jahres 1972, der seine Gesundheit massiv beeinträchtigte, unterband jedoch jegliche weitere nicht nur künstlerische Aktivität. Wellesz starb im 90. Lebensjahr nach fast vierjährigem Siechtum in den späten Abendstunden des 8. November 19744 in Oxford, seine Urne wurde in einem Ehrengrab auf dem Wiener Zentralfriedhof bestattet.
Obwohl nicht dem engeren bzw. engsten Kreis um Arnold Schönberg angehörend, definierte sich der Komponist Egon Wellesz jedoch zeitlebens über seine Nähe bzw. Distanz zum ehemaligen Lehrer, denn alle seine Entwicklungen haben mit diesem zu tun: Seien es seine Anfänge als Komponist, wobei er im Umfeld des Schönberg-Kreises „das Überlieferte neu […] formen“5 wollte, seien es seine zeitweise äußerst erfolgreichen Versuche der Zwischenkriegszeit, der Orthodoxie der Schönberg-Schule nicht zu erliegen und sich als Komponist einen dritten „stilpluralistischen“6 Weg zu erarbeiten, sei es der am Ende gescheiterte Versuch eines vollständigen Neuanfangs im Exil als Hüter der Tradition mit der entschiedenen Hinwendung zur Tonalität, oder sei es seine allerletzte stilistische Neuorientierung, von ihm mit dem durchaus auch ironisch zu verstehenden Etikett „Altersstil“7 versehen, in dem er mit ausdrucksstarken atonalen Klanggebilden sowie mit Zwölftonfeldern arbeitete – immer ist Schönbergs Denken und Handeln mehr oder weniger präsent. Trotz allem wollte er sich nie Menschen oder Moden unterordnen, sich seine Unabhängigkeit lebenslang bewahren: „Es ist meine Überzeugung, daß der Komponist absolute Freiheit bei der Wahl der Mittel haben muß, um seine innere Vision in Klang zu verwandeln. Alle kompositionstechnischen Methoden sind nur Mittel zu diesem Zweck.“8 So die Worte von Egon Wellesz über sein Komponieren, die ihn geradezu als einen Anhänger der sogenannten Postmoderne erscheinen lassen – hätte es diese Einordnung zu seinen Lebzeiten bereits gegeben!
Mit 112 Werken, die Wellesz für wichtig genug befunden hatte, eine Opus-Zahl zu tragen, und mit vielen weiteren Arbeiten, die, warum auch immer, keinen Eingang in diese Aufzählung fanden, liegt von Egon Wellesz ein umfangreiches Œuvre vor, das ihn als einen der wesentlichen Tonschöpfer des 20. Jahrhunderts ausweist: Zu nennen sind elf Werke für das Musik- und Tanztheater (konkret erwähnt seien „Alkestis“ op. 35, die Tanzsinfonie „Die Nächtlichen“ op. 37, „Die Opferung des Gefangenen“ op. 40 oder „Die Bakchantinnen“ op. 44), neun Symphonien sowie weitere Orchesterwerke (auch mit Vokal-Soli und Chor, darunter u.a. „Suite für Orchester“ op. 16, „Prosperos Beschwörungen“ op. 53, „Mitte des Lebens. Kantate“ op. 45, „Duineser Elegien“ op. 90), ein Klavierkonzert sowie zwei konzertante Arbeiten für Violine und Orchester bzw. Ensemble, umfangreiche Kammermusik (darunter zehn Streichquartette, zwei Streichtrios, ein Bläserquintett, ein Oktett), Solo-Kompositionen (teilweise mit Klavierbegleitung) für Violine, Viola, Violoncello, Flöte, Oboe, Klarinette, Fagott oder Horn, das umfangreiche Solo-Klavierwerk (beispielsweise „Drei Studien für Klavier“ op. 6, oder die „Studien in Grau“ op. 106, seine letzte Klavierkomposition) sowie eine (späte) Orgelkomposition, dazu noch Kompositionen für Chor a cappella, kirchenmusikalische Werke (darunter vier Messen), aber auch vokale Kammermusik (so die „Sonette der Elizabeth Barrett-Browning“ op. 52, oder „The Leaden Echo and the Golden Echo“ op. 61) und nicht zuletzt unzählige Klavierlieder (darunter die faszinierenden „Lieder aus Wien“ op. 82 auf Mundart-Texte von H. C. Artmann).
Möge die 50. Wiederkehr des Todestages von Egon Wellesz ein weiterer Impuls sein, seiner beeindruckenden Musik vermehrt auf den Bühnen und in den Konzertsälen zu begegnen!
Über den Autor: Dr. Hannes Heher ist Mitarbeiter der Musikredaktion von ORF/Ö1, Komponist, Musikwissenschafter mit Schwerpunkt auf Exilforschung sowie Mitglied des Egon Wellesz-Fonds bei der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und Österreich-Vertreter der Internationalen Hanns Eisler-Gesellschaft Berlin.
1 Hannes Heher, Rudolf Réti & Egon Wellesz. Die vergessenen Gründerväter der IGNM, in: Salzburg, Universität Mozarteum (Hrsg.), Salzburg & 100 Years of the International Society for Contemporary Music | Salzburg & 100 Jahre Internationale Gesellschaft für Neue Musik. Wien 2024, S. 259-271.
2 Abbildungen und weitere Informationen dazu: Hartmut Krones/Johannes Koder (Hrsg.), Egon Wellesz. Komponist, Byzantinist, Musikwissenschaftler. Ausstellungskatalog. Wien 2000, S. 60-63.
3 Eine Teil-Transkription des letzten Briefes an Wellesz‘ jüngere Tochter Lisi vom 16. Jänner 1972, in dem beispielsweise solche Zeilen zu lesen sind, ist abgedruckt in: Knut Eckhardt/Hannes Heher (Hrsg.), Egon Wellesz: Kompositionen, mit Notenbeispielen und Kommentaren. Göttingen 21997, S. 8.
4 Egon Wellesz ist, wie leider noch an vielen Stellen vermerkt, nicht am 9. November 1974 verstorben, sondern in den späten Abendstunden des Tages davor, also am 8. November. Die Familie hatte den Zeitpunkt verlegt, da der 8. November der Geburtstag von Charles Kessler, des Schwiegersohnes des Komponisten, war; diesen Tag wollte man aus verständlichen Gründen nicht mit einem Todestag in Verbindung bringen. Diese Mitteilung stammt aus berufenem Munde, nämlich von Charles Kessler selbst. Siehe dazu auch: Hannes Heher, Nach der Neunten. Einige Anmerkungen zu den letzten Werken von Egon Wellesz, in: Julia Bungardt et al. (Hrsg.), Wiener Musikgeschichte. Annäherungen - Analysen - Ausblicke. Festschrift für Hartmut Krones. Wien 2009, S. 636.
5 Egon Wellesz, Vortragsmanuskript zur Uraufführung der 5. Symphonie, S. 8, in: ÖNB, Musiksammlung, F13.Wellesz.2368.
6 Siehe dazu Hannes Heher, Kompositorische „Ästhetiken“ bei Schülern Arnold Schönbergs, insbesondere bei Egon Wellesz. Phil. Diss. Universität für Musik und darstellende Kunst Wien 2017.
7 Herbert Vogg (Hrsg.), Am Beispiel Egon Wellesz. Briefwechsel mit Doblinger. Wien 1996, S. 150.
8 Egon Wellesz, The Origins of Schönberg's Twelve-Tone System. Washington 1958, zit. nach Hannes Heher, Kompositorische „Ästhetiken“ bei Schülern Arnold Schönbergs, insbesondere bei Egon Wellesz (Anm. 6), S. 111.
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