AutorInnen: Michael Hansel und Arnhilt Inguglia-Höfle
Fritz Habeck (1916–1997), ein heute weitgehend vergessener Schriftsteller, war Autor mehrerer Erzählungen und Romane sowie international erfolgreicher Jugendbücher und Kriminalgeschichten. In vielen seiner Werke setzte er sich kritisch mit der vorherrschenden österreichischen Ideologie vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Dabei scheute er sich nicht, die verdrängte Vergangenheit ans Licht zu heben und gegen das Vergessen von Austrofaschismus und Nationalsozialismus anzuschreiben.
Sein Kriegsroman „Das Boot kommt nach Mitternacht“ (1951) und die Familiensaga „Der Ritt auf dem Tiger“ (1958) sind herausragende Werke der heimischen Literatur nach 1945.
Habecks Texte zeichnen sich vor allem durch eine Klarheit des Stils aus. Sein großes Vorbild war der US-amerikanische Schriftsteller Ernest Hemingway. 1944 standen sich die beiden in der Normandie noch als Soldaten gegenüber. Von 1950 bis 1952 führte Habeck mit dem Erfolgsautor einen ausgiebigen Briefwechsel, in dem Hemingway auch erwähnt, dass er gerade an einem Buch „about the sea“ arbeitet.[1] Für Der alte Mann und das Meer erhielt Hemingway 1953 den Pulitzerpreis. Im Jahr darauf wurde ihm auch der Literaturnobelpreis zugesprochen.
Gleichzeitig war der väterliche Freund auch Habecks Bürge, als dieser nach dem Krieg als Schriftsteller Fuß zu fassen versuchte.
Im Oktober 1952 schrieb Hemingway ein Vorwort für einen Erzählband Habecks, der allerdings nicht erschien. Erst 1996 im Band „Gedanken in der Nacht. Erzählungen (1948–1958)“ wurde es schließlich abgedruckt. In der deutschen Übersetzung lautet der Text:
Fritz Habeck war einst mein Gegner, und er ist mein Freund geworden. Er war ein redlicher und tüchtiger Gegner und ein guter Soldat. Kampf und Leiden prägen diesen Typ von Mann, der den Krieg ohne Verlust seiner Würde überstanden hat. Wenn seine literarische Produktion im Deutschen so gut ist, wie es seine englischen Briefe sind, dann müßte es ein Vergnügen sein, diese Texte in seiner Muttersprache lesen zu können. Er hat das Zeug zu einem Buch in sich, auf das die Deutschen stolz sein könnten. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis dieses Buch zustandekommt und wann es veröffentlicht werden wird. Aber ich freue mich in jedem Fall darauf.[2]
Der » Nachlass von Fritz Habeck gelangte 1997 ans Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Neben einer Vielzahl an Werkmanuskripten und Korrespondenzen – unter anderem auch der Briefwechsel mit Ernest Hemingway – enthält der Bestand auch mehrere unveröffentlichte Tagebücher des Autors, vor allem aus den 1930er- und 1940er-Jahren. Ihnen kommt aus zeitgeschichtlicher Sicht große Bedeutung zu. Ein Tagebuch stammt aus dem Jahr 1934 und dokumentiert die Erlebnisse des 17-jährigen Habeck während der Wiener Februarkämpfe, die er hautnah miterlebte.[3]
Habeck, Sohn eines sozialdemokratisch gesinnten Richters, wohnte zu dieser Zeit mit seinen Eltern im Karl-Marx-Hof im 19. Wiener Bezirk, einem der Hauptschauplätze der Kämpfe zwischen Arbeitern und Einheiten von Polizei und Bundesheer.
Die Schlacht um den Gemeindebau beginnt in der Nacht von 12. auf den 13. Februar. Habeck hält die Tage vom 13. bis 17. Februar protokollartig, in kurzen, teils unvollständigen Sätzen, aus seiner Sicht im Tagebuch fest. Dabei beschreibt er seine Beobachtung der Kampfhandlungen, den familiären Alltag sowie seine persönlichen Befindlichkeiten und reflektiert darüber.
Die ersten nächtlichen Schießereien bekommt Habeck nicht mit und notiert am Morgen in jugendlichem Überschwang:
Ich habe ein herrliches Nachtgefecht verschlafen. In der Nacht ist Artillerie eingesetzt worden und wir hatten 2 Stunden Trommelfeuer. Im Karl Marxhof sind einige M.G. Nester. In den blauen und roten Türmen. Aus vielen Fenstern und Balkonen schiessen sie mit Gewehren. Aus allen Holzböden und Waschküchen, Kindergarten sieht man Rauch kommen. Wir haben einen herrlichen Kriegsschauplatz.[4]
Voller Neugier verfolgt der Schüler die Geschehnisse und hält sie im Tagebuch fest:
9h morgens: Wir haben mit dem Feldstecher ganz genau die kleinen Feldkanonen im Bild, die auf uns herunterzielen.
Die Feldkanonen der angeforderten Gebirgskanonenbatterie wurden auf einem freien Gelände in der Nähe des Sportplatzes Hohe Warte postiert und zielten direkt auf die Türme des Karl-Marx-Hofs.[5] Habeck schreibt dazu:
Ihre Mündungen richten sich auf die blauen Türme. Dort ist bereits ein Eck herausgeschossen.
Um 10 Uhr morgens wird es auf einmal laut:
Großes Feuer hat eingesetzt. M.G. kleine Feldkanonen, Handgranaten, Gewehre und Revolver. Menschen laufen aufgeregt über die Straße.
Im Radio hört der 17-Jährige, dass es bereits zahlreiche Tote geben soll. Die Unruhen haben sich ausgebreitet. Schwere Kämpfe gibt es vor allem in Linz, Bruck an der Mur und in Steyr. Auch die Lage um den Karl-Marx-Hof spitzt sich zu. Habeck hält dies im Stundentakt in seinem Tagebuch fest:
11h mittags: Ein Panzerauto rollt vorbei. Schüsse von den roten Türmen empfangen es. Die Batterie zieht wieder ab, Heimwehr hat den Hof besetzt. Großer Sturm auf unserer Stiege. Keine Evakuierung, nein, es ist sogar verboten, den Bau zu verlassen. Wenn in einer Wohnung niemand zuhause ist, soll sie aufgebrochen werden. Alle Geschäfte sind geschlossen. Ich habe heute und morgen keine Schule.
Mehrmals krachen Projektile in die Wände und durch die Fensterscheiben des Karl-Marx-Hofs. Der junge Habeck schreibt dazu:
Überall Flintenschüsse, während ich schreibe. Auf unser Stiegenhaus schiessen sie (Heimwehr und Heer) oft her. Ich schreibe an meinem Schreibtisch, darüber hängt der Hörer. Leise eingestellt, für Radiomeldungen. Leider habe ich die Filmpackkassette beim Entwickeln, kann infolgedessen keine Aufnahmen machen. 1h mittags: Ich mußte mitten im Schreiben aufhören, da sich die Soldaten gedreht haben und auf das Bodenfenster über unserer Küche schießen. Die Schüsse knallen an unsere Wand. Ich muß mein Zimmer verlassen und gehe ins Herrenzimmer. Gleich darauf klitscht es. Unser Stiegenhaus aus Glas wird durchlöchert. Etliche Male. Dann ein riesiger Knall und durch Abortfenster, Mauer und Decke saust ein[e] Kugel durch unser Vorzimmer, um in den Boden hinauszufliegen. Alles ist weiß von Mörtel. Soviel sehe ich bei einem vorsichtigen Erkundungsschleichen. Gleich darauf saust es durch das Balkonfenster und durch die Küche in die Mauer. Auch die Küche ist unter Feuer. Endlich ziehen die Soldaten ab und wir können den Einschlagsschutt aus unserer Wohnung kehren.
In den wenigen Feuerpausen versuchen die Bewohnerinnen und Bewohner ihre Wohnungen zu säubern und die Stiegenhäuser von Glassplittern und Schutt zu befreien. Der restliche Tag verläuft weitgehend ruhig. Fritz Habeck langweilt sich und notiert um vier Uhr nachmittags in sein Tagebuch:
Ziemliche Ruhe, noch immer, aber selten Gewehrfeuer. Gottseidank morgen keine Schule. Sehr fad hier, weil Mutter schlafen muß und alles stille halten soll. Kein Radiobericht, weil Mutter schläft.
Am Abend gelingt es dem jungen Mann, ein paar deutsche Radiosender zu empfangen, die von vielen Opfern in Österreich berichten, und hält dazu äußerst weitsichtig und überlegt fest:
Alle wüten gegen Dollfuß. Der Marxismus dürfte erledigt sein, doch nicht zum Besten Dollfuß‘, sondern vielmehr für die Nationalsozialisten. Der heutige Tag ein Tag der Entscheidung für die zukünftige politische Entwicklung.
Am späten Abend wird die Schlacht um den Karl-Marx-Hof wieder stärker. Es wurde deswegen weitere Unterstützung durch das Bundesheer angefordert, das sich insbesondere um das Gelände des Bahnhofs in Heiligenstadt in direkter Nähe zum Marx-Hof in Stellung brachte.[6]
Am Mittwoch, dem 14. Februar, steht Fritz Habeck früh auf – er hat einiges vor:
Vollständige Ruhe. Gehe deshalb in die Stadt [,] um meine Fotos zu holen, die ich zum Entwickeln gegeben habe. Die Stadt ist abgesperrt, überall muß man sich legitimieren.
Fritz Habecks Vater Karl ist ebenfalls früh unterwegs in sein Büro im Justizpalast. In der Zwischenzeit brechen die Kämpfe um den Karl-Marx-Hof erneut aus und werden immer heftiger. Die Rückkehr in den Hof wird für den 17-jährigen Fritz zu einem lebensgefährlichen Hindernislauf. Im Tagebuch vermerkt er hierzu:
Als ich wieder nach Hause fahren will, geht die Straßenbahn wieder nur bis F. Josefsbahnhof. Draussen wird geschossen. Laufe im Dauerlauf bis Barawitzkagasse. Bau abgesperrt. Mutter drin. Auf Umwegen kann ich endlich an einem Posten vorbei auf die Hohe Warte kommen, von wo ich in den Hof laufe. An der Mauer Deckung suchend gelange ich durch den unter Feuer liegenden Hof in die Wohnung [,] niemand da. Zurück. Das Feuer hat aufgehört. Ich laufe zu Jungermann [ein Geschäft in unmittelbarer Nähe], finde Mutter.
Die Lage ist prekär. Fritz ruft aus dem Geschäft den Vater an und will wissen, was sie machen sollen. Karl Habeck rät ihnen zu Verwandten nach Sievering zu flüchten. Der Stadtteil liegt zwar ebenso im 19. Bezirk, aber dennoch in sicherer Entfernung zum Karl-Marx-Hof.
Fritz Habeck eilt noch einmal in die Wohnung, holt Geld, entfernt das nur mit dem Namen versehene Türschild und ersetzt es durch eine Visitenkarte des Vaters, auf der dessen Stand und Rang zu entnehmen ist. Sollte es zu einer Hausdurchsuchung kommen – so hofft die Familie – würden die Militäreinheiten und Exekutivkräfte vielleicht zurückhaltender vorgehen. Den Schlüssel der Wohnung gibt er beim Hausmeister ab. Als der Richter Karl Habeck nachmittags in Sievering eintrifft, wird klar, dass in der Wohnung noch äußerst wichtige Dokumente und Urkunden verblieben sind. In einer Gefechtspause schleicht sich die Familie wieder in die Wohnung:
Nachmittag herunter wieder im Bau bei Gefechtspause. Muß, weil Schlüssel in Sievering sind, Kästchen für Dokumente aufsprengen. Wieder hinauf. Schlafen in Sievering.
Am späten Vormittag des 15. Februar scheint die Schlacht um den Karl-Marx-Hof beendet zu sein. Der Hof wird von den Regierungstruppen eingenommen. Als die letzten Einheiten am 16. Februar das Gelände räumen, kehrt Familie Habeck in den beinahe menschenleeren Marx-Hof zurück. Auf den Dächern wehen weiße Fahnen. Die Wohnung ist weitgehend unbeschädigt, es fehlt nichts.[7]
Am 17. Februar zieht der Gymnasiast, dem angesichts des Erfahrenen im Gegensatz zum ersten Überschwang nun doch die Ernsthaftigkeit der Ereignisse bewusstgeworden ist, Bilanz:
Die Roten geschlagen, die Regierung mit Verlusten siegreich, sehr viele Tote.
Habecks Zeitzeugenbericht ist ein einzigartiges und wichtiges Dokument eines kriegerischen Konflikts, der für die Geschichte Österreichs fatale Folgen hatte. Die Erfahrungen jener Tage hat Fritz Habeck in seinem Roman „Der Ritt auf dem Tiger“ literarisch verarbeitet. Das Werk erzählt die Geschichte der Familie Leichtfried vom Ende der Monarchie in die Nachkriegszeit. 1934 wohnt die Familie im Karl-Marx-Hof und erlebt die Februarkämpfe hautnah mit.
Der Roman „Der Ritt auf dem Tiger“ ist eines von mehreren Beispielen, wie sich die österreichische Geschichte der Zwischenkriegszeit in der Literatur widerspiegelt. Er gehört damit zu einem breiten literarischen Spektrum-, das u. a. auch Rudolf Brunngrabers sozialkritischen Roman „Karl und das 20. Jahrhundert“ (1933), George Saikos Zeit- und Gesellschaftspanorama „Der Mann im Schilf“ (1955) und Frederic Mortons Familiengeschichte „Ewigkeitsgasse“ („The Forever Street“, 1984) umfasst.
Ein Auszug aus Fritz Habecks Tagebuch kann noch bis zum 15. November 2020 im Prunksaal besichtigt werden.
Ein weiterer Tagebuchauszug vom Februar 1934 sowie Materialien zum Briefwechsel Habeck und Hemingway finden Sie in der » Dauerausstellung des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek.
Über die AutorInnen: Dr. Michael Hansel und Dr. Arnhilt Inguglia-Höfle sind wissenschaftliche MitarbeiterInnen des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek.
[1] Brief von Ernest Hemingway an Fritz Habeck vom 20. Dezember 1951, Nachlass Fritz Habeck, ÖNB, Literaturarchiv, Sign.: ÖLA 80/97.
[2] Ernest Hemingway übermittelte Fritz Habeck den englischen Text für das Vorwort im Brief vom 14. Oktober 1952: „Fritz Habeck is a former enemy of mine who has become my friend. He was a loyal and efficient enemy and a good soldier. He is the type of man who has fought and suffered and come through intact as a man and with no loss of dignity. If his writing in German is as good as his letters are in English it should be a pleasure to read him in his native tongue. He has the material to write a book of which good Germans will be proud. I do not know how long it will take him to write this book nor when it will be published. But it is one of the book[s] to be written that I look forward most to reading. Ernest Hemingway.“
Nachlass Fritz Habeck, ÖNB, Literaturarchiv, Sign.: ÖLA 80/97
[3] Vgl. zum Folgenden auch Andreas Weber: „Wir haben einen herrlichen Kriegsschauplatz“. Die Februarkämpfe in Wien 1934, nacherzählt aus den Tagebuchnotizen von Fritz Habeck und seinem Vater Karl. In: akten-kundig?. Literatur, Zeitgeschichte und Archiv. Hg. von Marcel Atze, Thomas Degener, Michael Hansel und Volker Kaukoreit. Wien: Praesens 2009 (= Sichtungen. Archiv – Bibliothek – Literaturwissenschaft 10/11), S. 57–63.
Der Schriftsteller und Filmemacher Andreas Weber hat sich intensiv mit Fritz Habeck auseinandergesetzt. 1995 erschien die Filmdokumentation „Dear Fritz-Ein Film über den Schriftsteller Fritz Habeck“. Im selben Jahr gab er den Erzählband „Fritz Habeck: Gedanken in der Nacht. Erzählungen (1948-1958)“ heraus. 1998 folgte das Buch „Dear Fritz – Texte und Gespräche über Fritz Habeck“, und 2019 gab Andreas Weber gemeinsam mit Helmut A. Niederle den ersten Band von Habecks Autobiographie heraus: „Meine Zeit vor dem Erwachen“.
[4] Tagebuch von Fritz Habeck, Nachlass Fritz Habeck, ÖLA 80/97. Sämtliche Zitate im weiteren Verlauf des Textes entstammen, sofern nicht anders ausgewiesen, diesem Tagebuch.
[5] Vgl. Kurt Peball: Die Kämpfe in Wien im Februar 1934. Hg. vom Heeresgeschichtlichen Museum. Wien 1978 (= Militärhistorische Schriftenreihe, Heft 25, 2. Aufl.), S. 31.
[6] Vgl. ebd., S. 32.
[7] Vgl. dazu das tagebuchähnliche gebundene Typoskript „ICH und DU 2.“ von Karl Habeck im Nachlass von Fritz Habeck sowie den Beitrag von Andreas Weber (Anmerkung 3).
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