„Ich, Pekysios, der Graue“

Forschung

16.01.2020
Papyri und antike Schriftstücke
Papyrus

Bis zum 12. Jänner 2020 war im Papyrusmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek die Ausstellung » In vino veritas. Wein im alten Ägypten zu sehen. Gezeigt wurden 75 Objekte rund um das Thema Weinbau, Weinhandel und Weinkonsum.

Autorin: Claudia Kreuzsaler 

Die Sonderausstellungen des Papyrusmuseums bieten die willkommene Möglichkeit, sonst nicht gezeigte Objekte der Sammlung zu präsentieren und dabei auch weniger bekannte Texte in den Fokus zu rücken. Sie sind aber auch ein gegebener Anlass für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Sammlungsobjekten zu einem Themenkreis. Zwar werden die Ausstellungstexte fast ausschließlich aus dem Fundus der bereits entzifferten und publizierten Papyri der Sammlung rekrutiert (also nur aus einem kleinen Teil der über 180.000 Sammlungsobjekte), – doch auch für diese ist es lohnenswert, sie erneut unter die Lupe zu nehmen, um die bisherigen Lesungen der Originaltexte und die daraus resultierenden Interpretationen kritisch zu überprüfen. So ergaben sich anlässlich der Kommentierung der Objekte durch die AutorInnen des Ausstellungskataloges etliche Textkorrekturen, die bisweilen auch ein neues Licht auf längst bekannte Urkunden werfen.

Der Name des Flötenspielers

Eine dieser gut bekannten Quellen ist der Vertrag mit einem Flötenspieler (» Kat.-Nr. 11). Dieser verpflichtet sich in dem Papyrus, für die Dauer der Weinlese die Arbeiter mit seiner Musik zu unterhalten, insbesondere den Kelterern beim Treten der Trauben mit seinem Flötenspiel den Takt vorzugeben. Der Inhalt des Textes ist seit der ersten großen Papyrusausstellung im Jahre 1894 bekannt, bereits 1913 wurde er vollständig entziffert und publiziert. Während zahlreiche bildliche Darstellungen der Weinlese mit der Kelter bekannt sind, bei der die Traubentreter von einem Musikanten begleitet wurden, bietet der genannte Papyrus ein einzigartiges schriftliches Pendant dazu. Entsprechend häufig wurde der Text in der Literatur abgedruckt, zitiert und kommentiert. Die Überprüfung der Transkription am Original zeigte allerdings, dass die Lesung des Textes an einigen Stellen mehr spekulativ als sicher ist. Die Tinte ist in der linken Hälfte der Urkunde stark abgerieben. Bisweilen sind nur wenige Tintenspuren übrig, aus denen sich der Text eher erraten als lesen lässt. Davon betroffen ist insbesondere der Name des Flötenspielers, der sich in der Urkunde gleich dreimal findet: Am Beginn des Vertrages, in der Unterschrift am Ende und in der Inhaltsangabe auf der Rückseite des Blattes. Dennoch ist die Entzifferung schwierig, da alle drei Stellen schlecht erhalten sind. In der ersten Edition 1913 wurde die Lesung Aurelios Psenymis vorgeschlagen – ein in den Papyri einzigartiger Personenname. Obwohl schon seit längerem klar war, dass diese Lesung eigentlich unhaltbar ist, firmierte der Flötenspieler bis dato immer noch als Aurelios Ps...y..is, womit Psenymis weiterhin im Raum stand. Der Vergleich der wenigen Tintenreste an den fraglichen drei Stellen des Papyrus ließ jedoch erkennen, dass der Name des Flötenspielers weit weniger extravagant war: Er hieß wohl  einfach  Aurelios Phibis („der Ibis“) – ein durchaus alltäglicher Name im spätantiken Ägypten.

     
Abb. 1a: Vertrag mit einem Flötenspieler (G 2077). Abb. 1b: Zeile 5 und 22 mit dem Namen des Flötenspielers

Auch inhaltlich blieb in den unzähligen Kommentaren ein wichtiges Detail bislang unbemerkt: Der Vertrag wurde am 20. Dezember des Jahres 321 n. Chr. geschlossen – also gut ein halbes Jahr vor der kommenden Ernte. Die Buchung des Musikers zu einem derart frühen Zeitpunkt mag durchaus wohlüberlegt gewesen sein. Der Weinbau war und ist zur Zeit der Weinlese äußerst arbeitsintensiv. In manchem Papyrus beklagen Winzer den Mangel an benötigten Erntearbeitern oder die von ihnen verlangten hohen Tageslöhne. Solche Engpässe mag es auch hinsichtlich der Musikbegleitung gegeben haben, weshalb es nicht schaden konnte, sich als Weinbauer rechtzeitig vertraglich abzusichern, dass sich der gewünschte Musiker für die gesamte Erntezeit zur Verfügung zu halten habe.

Puzzeln mit Papyri

Neben den herkömmlichen Pachtverträgen über Weinland ist der in der Ausstellung gezeigte Vertrag des Aurelius Silvanus (» Kat.-Nr. 6) ein Unikat. In dem Text pachtet nicht der Weinbauer einen Weingarten vom Eigentümer, sondern der Grundherr „pachtet“ die Arbeit des Winzers;  – inhaltlich steht der Vertrag damit eher einem Dienst- oder Werkvertrag nahe. Aurelius Silvanus übernimmt die fachmännische Winzerarbeit, etwa das Schneiden der Weinreben, beim Grundherrn verbleibt dagegen die arbeitsaufwändige Bewässerung der Reben. Gleichzeitig wird zwischen beiden noch eine gewöhnliche Pacht vereinbart: Silvanus pachtet den im Weinland gelegenen Obstgarten, für den er trotz seiner Arbeit im Weinland noch Pachtzins zu zahlen hat – zwar werden Lohn und Zins gegeneinander aufgerechnet, doch übersteigt der Pachtzins den Arbeitslohn um ganze 11 Talente.

Bei dem stark lädierten Papyrusblatt waren seit jeher ein paar Kleinstfragmente abgebrochen. Sie wurden, nachdem sie nicht zugeordnet werden konnten, lose zusammen mit dem Papyrus aufbewahrt. Bei der Textrevision im Zuge der Ausstellungsvorbereitung konnte ein kaum daumennagelgroßes Fragment an seinen richtigen Platz gesetzt werden: Das Fragment trägt nicht mehr als sechs Buchstaben, die alleinstehend nicht zu entziffern waren. Durch den gewonnenen Kontext war es nun möglich, sowohl die Schrift auf dem Fragment als auch die zuvor unlesbaren Stellen links und rechts des Fragmentes zu entschlüsseln: Der Weinbauer Aurelius Silvanus verpflichtet sich darin, den vereinbarten Pachtzins für den Obstgarten nicht nur pünktlich, sondern auch vollständig zu begleichen – ein Ausschluss von Ratenzahlungen, der sich bislang in einem kleinen losen Fragment verbarg.

      

Abb. 2a: „Pachtvertrag“ über die Arbeit des Winzers (G 39881). Abb 2b: Zeile 24–25 mit platziertem Fragment

Der völlig ergraute Weinhändler

Der Handel mit Wein wird in der Ausstellung durch etliche Lieferungskäufe illustriert. Solche Kaufverträge über große Weinmengen wurden meist im Herbst und Winter abgeschlossen, also noch bevor die Reben überhaupt austreiben. Der Kaufpreis wurde sofort bezahlt, die Lieferung des Wein(most)s für den Zeitpunkt der nächsten Ernte versprochen. Solche Verträge sind für Juristen besonders spannend, da in ihnen Güter verkauft werden, die noch gar nicht existieren und deren Entstehung und Qualität nicht nur vom menschlichen Zutun abhängt. Entsprechend waren in den Verträgen für diverse Eventualitäten rechtliche Vorkehrungen zu treffen: Was sollte passieren, wenn nach einer Missernte nicht genug Wein zur Verfügung steht? Oder nur Wein schlechter Qualität? Und was, wenn zwar der Weinmost noch gut ist, aber die Gärung nicht richtig einsetzt oder er gar zu Essig wird?

Einer der gezeigten Weinlieferungskäufe, ein sehr knapp formulierter Vertrag aus dem Arsinoites (» Kat.-Nr. 23), ließ bislang dadurch aufmerken, dass der Weinlieferant darin als „Ich, Pekysios, der Salzhändler“ auftritt. Warum sollte gerade ein Salzhändler auch im Weinhandel tätig sein? Das im Papyrus gelesene griechische Wort halopolios wäre ein Kompositum aus hals – „das Salz“ und poles – „der Verkäufer“, freilich in einer sprachlich merkwürdigen und sonst nicht belegten Form. Die Neulesung des Textes ergab, dass auf dem Papyrus statt halopolios besser holopolios zu lesen ist; ein Adjektiv, das sich aus holos – „ganz“ und polios – „grau“ zusammensetzt. Die Anderslesung von nur einem Buchstaben – Omikron statt Alpha – veränderte deutlich den Textinhalt: Der Weinhändler Pekysios charakterisiert sich nicht durch eine Berufsbezeichnung, sondern durch seine Haarfarbe: „Ich, Pekysios, der Graue“.

 

     
Abb 3a: Weinlieferungskauf des Pekysios (G 2160). Abb 3b: Ausschnitt der Zeile 1: „völlig ergraut“

Bemerkenswert bleibt diese Selbstbeschreibung weiterhin. Schließlich war die Haarfarbe des Winzers für den Kaufvertrag gänzlich ohne Bedeutung. Üblicherweise wurden die Vertragsparteien in dieser Zeit des 6. oder 7. Jh. n. Chr. nur mit Namen, Vatersnamen und Herkunft ausreichend identifiziert. Interessanterweise ist aber gerade in Weinlieferungskäufen aus dem Arsinoites sporadisch solch eine zusätzliche Charakterisierung durch äußerliche Merkmale anzutreffen: Ein anderer Winzer beschreibt sich als oxytrix, was soviel wie „spitzhaarig, mit borstigem Haar“ bedeutet. Ein weiterer bezeichnet sich gar als spongokephalos, „der Schwammschädel“, womit vermutlich eine sichtbare Deformation des Kopfes gemeint war.

Alter Wein in neuen Schläuchen

Neue Lesungen in längst entzifferten Papyrusurkunden sind keine Seltenheit. Bereits 1913 wurde von Friedrich Preisigke eine erste Übersicht von Korrekturvorschlägen zu Papyruseditionen herausgegeben. Die damit begonnene „Berichtigungsliste der Griechischen Papyrusurkunden aus Ägypten“ füllt mittlerweile 13 Bücher. Die österreichische althistorische Zeitschrift „Tyche. Beiträge zur Alten Geschichte, Papyrologie und Epigraphik“ beinhaltet seit ihrem dritten Band eine eigene, ausschließlich solchen „Bemerkungen zu Papyri“ gewidmete Rubrik, die sogenannten „Korr. Tyche“, die bereits über 850 Textkorrekturen umfassen. Die Arbeit an den Ausstellungstexten resultierte in neun weiteren Einträgen.

Oft werden Berichtigungen älterer Lesungen durch zwischenzeitig edierte andere Papyrusurkunden veranlasst. Aber nicht nur das zur Verfügung stehende Vergleichsmaterial wächst stetig an. Die heute verfügbaren elektronischen Hilfsmittel und Suchmaschinen erleichtern und verbessern die papyrologische Arbeit zunehmend. Bisweilen entsteht eine Korrektur aber auch einfach nur durch eine neue Idee, einen neuen Blick auf einen bereits bekannten Text. Es ist entsprechend immer empfehlenswert, in der Arbeit mit den papyrologischen Quellen ganz am Anfang zu beginnen: am Originaltext des Papyrus.

Über die Autorin: Dr. Claudia Kreuzsaler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek

Literatur:

Diese und weitere Neulesungen von Ausstellungstexten werden im derzeit in Druck befindlichen Band der Zeitschrift Tyche als „Korr. Tyche“ veröffentlicht:

K. Stenzel, J. G. Schneider, C. Kreuzsaler, Bemerkungen zu Papyri rund um den Wein, Tyche 34 (2019).

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