Ingeborg Bachmanns spätes Gedicht "Böhmen liegt am Meer"

Forschung

12.09.2018
Geschichte der ÖNB, Literatur
Objekt des Monats September, Gedichttyposkript Böhmen liegt am Meer

Ingeborg Bachmanns berühmtes Gedicht wurde zum ersten Mal im November 1968 in der Zeitschrift "Kursbuch" abgedruckt. Das Originalmanuskript befindet sich zusammen mit dem gesamten Bachmann-Nachlass im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Unser Objekt des Monats im September.  

Autor: Bernhard Fetz

Abb. 1: Ingeborg Bachmann in Berlin, 1960er-Jahre. Fotograf unbekannt. Mit freundlicher Unterstützung durch Isolde Moser und Dr. Heinz Bachmann.

Das Gedicht Böhmen liegt am Meer steht im Kontext einer Winterreise nach Prag: Vom 16. bis 23. Jänner und vom 27. Februar bis 4. März 1964 unternahm Ingeborg Bachmann zwei Pragreisen zusammen mit dem jungen Schriftsteller und Filmemacher Adolf Opel, dem sie erst kurz zuvor in Berlin begegnet war – in jener Stadt, in der sie zwischen 1963 und 1965 im Zustand einer tiefgreifenden Verstörung nach der Trennung von Max Frisch lebte.

Der Titel des frühesten Entwurfs Grüne Häuser in Prag benennt den konkreten topographischen Bezug von Böhmen liegt am Meer; es steht im Kontext anderer Prag-Gedichte aus diesem Zeitraum, beginnend mit Auf der Reise nach Prag, aus dem zwei Jahre später das Gedicht Enigma wurde. Prag Jänner 64 weist mit den Versen „Unter den berstenden Blöcken / meines, auch meines Flusses / kam das befreite Wasser hervor. // Zu hören bis zum Ural.“ deutliche Bezüge auf das beginnende Tauwetter des Prager Frühlings auf. (Vgl. Höller, Larcati 2016,  S. 15 und 122 f) Auch die teilweise nur fragmentarisch überlieferten Gedichte Wenzelsplatz, Jüdischer Friedhof, Poliklinik Prag und Heimkehr über Prag, das die Heimkehr auf einem „Umweg“ in ein erträumtes, altösterreichisches Wunschland anspricht, gehören zur Entstehungsgeschichte. (Vgl. ebd., S. 25)

Böhmen liegt am Meer entwirft eine poetische Utopie, die nichts mit nostalgischer Verklärung zu tun hat. Angeregt durch Shakespeares falsche Situierung Böhmens in The Winter’s Tale / Ein Wintermärchen (1611) wird das Land Böhmen zur imaginären Heimstadt aller Heimat- und Sprachlosen. In der 3. Szene des 3. Aktes findet sich in der Schlegel-Tieck-Ausgabe die Ortsangabe: „Böhmen. Eine wüste Gegend am Meer“. Diese Traum-Geographie charakterisiert bereits bei Shakespeare die Geschichte als Märchenhandlung. Auch auf andere Shakespeare Stücke wie Love Labors Lost / Verlorne Liebesmüh (1593/94) – „Ist Liebesmüh in alle Zeit verloren, verlier ich sie hier gern.“ – spielt das Gedicht an, das zahlreiche intertextuelle Bezüge aufweist, ohne seinen völlig eigenständigen Charakter je zu verlieren. Die Shakespeare-Bezüge hängen auch mit einer schließlich nicht wahrgenommenen Einladung zusammen, anlässlich des 400. Geburtstages des Dichters 1964 zusammen mit anderen renommierten europäischen Autoren Gedichte zu verfassen. (Vgl. Höller / Larcati 2016, S. 38 f)

Böhmen ist von seiner Geschichte erlöst, „ans Meer begnadigt“; es liegt neben Utopia und Atlantis, ein Land des Friedens, der Freiheit und Schönheit. Im Wintermärchen unterliegt Leontes, König von Sizilien, dem Wahn, seine Gemahlin Hermione habe ihn mit seinem Jugendfreund Polixenes, dem König von Böhmen, betrogen. Er lässt seine neugeborene Tochter Perdita aussetzen, die an der Küste Böhmens von einem alten Schäfer gefunden und gerettet wird. Im Vers „Ich will nichts mehr für mich. Ich will zugrunde gehn.“ klingt der Name Perdita, und mit ihm der Bedeutungshorizont von „verloren“, „zugrunde gerichtet“ an, aber auch die Redensart „einer Sache auf den Grund gehen“. Die Umdeutung führt auf festen Grund; mit dem Wort „unverloren“, in dem eine Anspielung auf Paul Celans Rede bei der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen im Jahre 1958 steckt, verbindet sich die Hoffnung auf „Böhmen“: „Von Grund auf weiß ich jetzt, und ich bin unverloren.“ „Unverloren“ inmitten all der Verluste blieb für Paul Celan in der Bremer Rede allein die Sprache.

Der im Gedicht vorherrschende Alexandriner – 17 von insgesamt 24 Versen – mit der strengen Zäsur nach der 3. Hebung ermöglicht Antithesen innerhalb einer Verseinheit. Außerdem verleiht er Sätzen, die am Zeilenschluss stehen, einen harten, definitiven Charakter: „Ich will zugrunde gehn.“ Die Auflösung der strengen alexandrinischen Form durch eine freiere syntaktische Struktur sowie zugunsten eines hymnischen Sprechgestus entspricht der Grundhaltung von Böhmen liegt am Meer – dem Wechsel von Zugrundegehen und Unverlorensein.

Das hier abgebildete Korrekturblatt zeigt Bachmanns intensive Arbeit an dem für die Autorin so wichtigen Gedicht; in dieser Fassung finden die entscheidenden Umarbeitungen statt, der Text nähert sich seiner endgültigen Gestalt an. Die Gegensätze innerhalb der strengen Alexandriner-Struktur treten stärker hervor. Signifikant ist die Ersetzung des Adjektivs „alt“ durch „heil“ im zweiten Vers. Damit tritt der biografische Bedeutungshorizont von Krankheit und erhoffter Heilung deutlicher hervor (vgl. Höller in Bachmann 2009, S. 130), zugleich klingt ein innerweltliches „Heil“ an, das keiner religiösen Begründung bedarf. Auch die Wendung, wonach Böhmen „ans Meer begnadigt ist“ – von der Autorin, von Shakespeare, von der Geschichte? –, findet sich hier zum ersten Mal. Die Arbeit am Text spiegelt die komplexe intertextuelle, grammatische und syntaktische Verweisstruktur des fertigen Gedichtes wider, die in ein Wechselspiel mit der Bestimmtheit der Ich-Aussagen tritt.

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Abb. 2: Ingeborg Bachmann: Böhmen liegt am Meer. Korrekturfassung. Bl. Nr. 213 und 213a (Vorder- und Rückseite). Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, LIT 423/W3 /213 und 213 a.
Abb. 2: Ingeborg Bachmann: Böhmen liegt am Meer. Korrekturfassung. Bl. Nr. 213 und 213a (Vorder- und Rückseite). Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, LIT 423/W3 /213 und 213 a.

In einem letzten großen Fernseh-Interview vom Juni 1973 sagte Ingeborg Bachmann: „Und es ist für mich das Gedicht, zu dem ich immer stehen werde. […] Es ist das Gedicht meiner Heimkehr, nicht einer geographischen Heimkehr, sondern meiner geistigen Heimkehr […] Wie ich nach Prag gekommen bin, habe ich gewußt, doch, Shakespeare hat recht: Böhmen liegt am Meer. […] Wir alle sind Böhmen, und wir alle hoffen auf dieses Meer und dieses Land.“ (Haller 2004, S. 79 ff) Für die in Kärnten aufgewachsene Dichterin war der Hallraum der Habsburger Monarchie stets präsent. In der Erzählung Drei Wege zum See, die 1972 im Erzählband Simultan erschien, lässt Bachmann das altösterreichische Geschlecht der Trottas, das in Joseph Roths Romanen Radetzkymarsch und Kapuzinergruft eine tragende Rolle spielt, nach dem Zweiten Weltkrieg weiter leben. Die „geistige [] Heimkehr“ im Gedicht entwirft auch eine europäische Vision, die von den Erfahrungen im Nationalsozialismus und im Grenzland Kärnten geprägt ist.

In diesem Zusammenhang steht auch das fiktive Interview der Ich-Figur mit einem Herrn Mühlbauer im Roman Malina. Die Sätze, die hier fallen, können als poetisches Manifest eines Österreich-Bewusstseins gelten, in dem Prag mit dem „böhmischen“ Gedicht einen zentralen Platz einnimmt: „Am liebsten war mir immer der Ausdruck ‚das Haus Österreich‘, denn er hat mir besser erklärt, was mich bindet, als alle Ausdrücke, die man mir anzubieten hatte. Ich muß gelebt haben in diesem Haus zu verschiedenen Zeiten, denn ich erinnre mich sofort, in den Gassen von Prag und im Hafen von Triest, ich träume auf böhmisch, auf windisch, auf bosnisch, ich war immer zu Hause in diesem Haus [...] ohne die geringste Lust, es noch einmal zu bewohnen, in seinen Besitz zu gelangen, einen Anspruch zu erheben […].“ (Bachmann 1973, S. 99) Es ist plausibel, „all die Varianten des Entstehungsprozesses als literarische Arbeit an ihrem Begriff von ‚Heimat‘ zu verstehen“ (Höller in Bachmann 1998, S. 125).

Nach Ingeborg Bachmanns dreißigstem Lebensjahr, 1956, sind nur mehr etwa 20 Gedichte entstanden, die jedoch zu ihren eindringlichsten zählen. Der Absolutheitsanspruch an das Gedicht und die Zweifel, die sich mit dem Schreiben poetischer Texte verbinden, sind in den Entwurfsblättern zu einem der letzten Gedichte mit dem Titel Keine Delikatessen ausgedrückt. Sie zeigen einen auch physisch geführten Kampf um die Sprache der Lyrik: „Soll ich / eine Metapher ausstaffieren / mit einer Mandelblüte? / die Syntax kreuzigen / auf einen Lichteffekt? / Wer wird sich den Schädel zerbrechen / über so überflüssige Dinge –“. (Bachmann 2009, S. 77)

In Thomas Bernhards Roman Auslöschung findet sich eine der schönsten Hommagen an die Dichterin Ingeborg Bachmann. Als literarische Figur mit Namen Maria ist sie für den Protagonisten Franz-Josef Murau eine seiner wenigen, wichtigen Gesprächspartnerinnen: „[Ich] hatte mich mit ihr da getroffen, um ihre Gedichte zu besprechen, besonders das sogenannte böhmische, das inzwischen weltberühmt geworden ist und sicher eines der besten, gleichzeitig schönsten Gedichte unserer Literatur ist […] Ich habe die Gedichte Marias immer geliebt, weil sie so österreichisch, gleichzeitig aber so von der ganzen Welt und von der Umwelt dieser Welt durchdrungen sind, wie keine zweiten.“ (Bernhard 2009, S. 400) 

Über den Autor: Priv.Doz. Dr. Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs und des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek

Literatur:

Bachmann, Ingeborg (1973): Malina. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bachmann, Ingeborg (1998): Letzte, unveröffentlichte Gedichte, Entwürfe und Fassungen. Edition und Kommentar v. Hans Höller. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Bachmann, Ingeborg (2004): Ein Tag wird kommen. Gespräche in Rom. Ein Porträt von Gerda Haller. Mit einem Nachwort von Hans Höller. Salzburg und Wien Jung und Jung: 2004.

Bernhard, Thomas (2009): Auslöschung. Hg. v. Hans Höller. Frankfurt am Main: Suhrkamp [= Thomas Bernhard Werke, Bd. 9].

Höller, Hans / Larcati, Arturo (2016): Ingeborg Bachmanns Winterreise nach Prag. Die Geschichte von „Böhmen liegt am Meer“. München, Berlin: Piper.

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