JETZT & ALLES. Österreichische Literatur. Die letzten 50 Jahre

Forschung

16.05.2023
Literatur
Eine Feder und Stifte liegen auf einem Tisch.

Die vom Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek konzipierte Wechselausstellung, die im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek zu sehen ist, versammelt Positionen ausgewählter AutorInnen und erzählt die Entstehungsgeschichten ihrer Texte.

Autor*innen: Bernhard Fetz und Kerstin Putz

Streitbar und experimentierfreudig, formbewusst und vielstimmig – das ist die österreichische Literatur seit den 1970er Jahren bis in die Gegenwart. Die vom Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek konzipierte Wechselausstellung „JETZT & ALLES. Österreichische Literatur. Die letzten 50 Jahre“, die von 26. April 2023 bis 7. Jänner 2024 im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig zu sehen ist, versammelt Positionen ausgewählter Autor:innen und erzählt die Entstehungsgeschichten ihrer Texte. Manuskripte, Notizbücher, Zeichnungen und Skizzen, aber auch Wäscheklammern, Wanderschuhe, Audiokassetten und Twitter-Beiträge geben Einblick in die Arbeitsweisen von SchriftstellerInnen. Anschaulich werden so die Techniken, Medien und Initialzünder des Schreibens: Dazu gehören Bleistift und Schreibmaschine, unsere Sprechwerkzeuge Stimme und Mund, Träume, die auf Zettel notiert werden, Fotografien, die Erinnerungen hervorrufen, Objekte, die sich zu Geschichten verdichten – Gelesenes, Gehörtes, Gesehenes, Recherchiertes.

„JETZT“ steht dabei für die Aktualität und Zeitgenossenschaft der österreichischen Literatur, aber auch für den sich immer jetzt ereignenden Akt sinnlich-künstlerischer Welt-Wahrnehmung und jenen Moment, in dem eine Idee entsteht, ein Satz zu Papier gebracht wird. „ALLES“ bezieht sich auf die Bedeutung der österreichischen Literatur über die Landes- und Sprachgrenzen hinweg, auf nichts weniger als den Anspruch, alles in den Raum der Literatur aufzunehmen – jenen imaginären Raum, der weit über die Ränder des Nationalen oder die territorialen Grenzen Österreichs hinausreicht. „ALLES“ verweist schließlich auf die hohen künstlerischen wie moralischen Ansprüche jener AutorInnen, die seit den 1970er Jahren vehement auf Geschichtsvergessenheit und Erinnerungsverluste in der österreichischen Gesellschaft hingewiesen haben und hinweisen: „Achtung! Das Vergangene findet jetzt statt!“ (Elfriede Jelinek)1

JETZT

Das „Jetzt“ zu bannen zählt seit jeher zu den Hauptanliegen der Literatur: als Epiphanie in Momenten gesteigerter, ästhetisch vermittelter Wahrnehmung; als Vergegenwärtigung vergangener Ereignisse und Bewusstseinszustände; oder als momenthafte Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sinneseindrücke und Rezeptionsebenen (etwa wenn ein Lautgedicht zugleich als bildliches, sprachliches und akustisches Phänomen aufgefasst wird). Das „Jetzt“ wird an zentraler Stelle bei AutorInnen zum Thema, die ganz unterschiedliche ästhetische und weltanschauliche Positionen vertreten. Im Werk Gerhard Rühms (geb. 1930), Mitglied der legendären „Wiener Gruppe“, finden sich bereits in einem frühen Text programmatische Worte, ein Manifest des Gegenwärtigen, das bis heute gilt: „ich denke jetzt. immer ist jetzt“.2 Im Wort „jetzt“ schießen die Vorstellungsinhalte der abstrakten Begriffe Präsenz und Evidenz zusammen: „jetzt“ verheißt ein unmittelbares Erleben der Gegenwart, ein Dasein und Hiersein, meditatives Innehalten, aber auch Plötzlichkeit und Tempo.

Ernst Jandls (1925–2000) Sprech- und Lautgedichte leben von der Präsenz und Intensität des Augenblicks ihrer Realisierung, sei es durch den Autor selbst, dessen Stimme fortlebt in unzähligen Tonaufnahmen, oder durch die LeserInnen beim lauten oder inwendig leisen Lesen. Jandl war genialer Performer und Interpret seiner eigenen Texte, seine Leidenschaft für Musik prägte auch den Rhythmus und Sound seiner vielseitigen Lyrik. Tonträger und Aufnahmegeräte aus seinem Nachlass zeugen von Jandls Lust am Experiment mit der eigenen Stimme und den technischen Möglichkeiten ihrer Aufzeichnung: „I’m doing it / with my / VOICE“3.

 

Gegenwärtigkeit streben die großangelegten epischen Erzählungen Peter Handkes (geb. 1942) an. Eine intensivierte Wahrnehmung, das voraussetzungslose Aufnehmen und Nachvollziehen visueller, akustischer, gestischer und sprachlicher Phänomene der Außenwelt stehen im Zentrum seiner Poetik. Aus einzelnen, immer im konkreten Moment gemachten Beobachtungen und Eindrücken leitet das wahrnehmende Subjekt – und mit ihm der Autor – Muster, überindividuelle „Formen“ ab, die in einem nächsten Schritt in sprachliche Bilder übersetzt werden. Handkes ausführliche und detailgenaue Erzählungen in der Vergangenheitsform tragen die Anwesenheit der Dinge der Außenwelt, den stets gegenwärtigen Akt ihrer Aneignung und die Gegenwart des Erzählens in sich. Oft ist dabei das Unterwegssein, die Erfahrung des bevorzugt zu Fuß durchquerten Raums von entscheidender Bedeutung: Ihre Streifzüge unternehmen die Figuren und Erzähler in Handkes Werk innerhalb einer in viele Richtungen offenen Zeit.

Ernst Jandl: zungen. Zeichnung, ohne Datum
Wanderschuhe von Peter Handke

& ALLES

Nichts weniger als das Ganze unserer kreatürlichen und geistigen Existenz wird in den atemlosen Texten des Überbietungs- und Übertreibungskünstlers Thomas Bernhard (1931–1989) zum Thema. Buchstäblich alles, was gesagt werden kann, kann in seiner Suada-artigen Prosa auch zum Gegenstand der Negation und zur Zielscheibe der Kritik werden. Dabei unterlaufen sich Bernhards All-Sätze ständig selbst: „Alles Gesagte stellt sich über kurz oder lang als Unsinn heraus […].4 Im Wechselspiel von Behauptung und Verneinung, von Teil und Gegenteil entfaltet sich der Furor der Bernhard’schen Monologe, in denen die unentwegt Sprechenden lustvoll ihre eigenen Maximalansprüche konterkarieren – ihre Ansprüche an alles, an alles Mögliche, an ein allumfassendes Ganzes: „Die höchste Lust haben wir ja an den Fragmenten, wie wir am Leben ja auch dann die höchste Lust empfinden, wenn wir es als Fragment betrachten, und wie grauenhaft ist uns das Ganze und ist uns im Grunde das fertige Vollkommene.“5

Thomas Bernhard: Alte Meister. Komödie. Typoskriptauszug, ohne Datum

Auf das Ganze des Daseins zielt der Anspruch Friederike Mayröckers (1924–2021) an ihr dichterisches Lebenswerk: „nicht nur das Geschriebene auch die Existenz musz poetisch sein“, heißt es in cahier, poetischen Aufzeichnungen zwischen Prosa und Lyrik.6 Ihre Wiener Arbeits- und Wohnstätte verwandelte Mayröcker in ein allumfassendes Zetteluniversum: Eine riesengroße Menge an Papieren, Mappen, Fotos, Zeichnungen, Wäschekörben, Magnettonbändern, Plüschtieren, Schreibmaschinen, gewidmeten Gedichten und Bildwerken anderer KünstlerInnen bildete das Fundament für ihr einzigartiges Oeuvre. Nahezu alles wusste die Autorin darin zu poetisieren, in Literatur zu verwandeln. Ohne die physischen Dinge, die materiellen Schreib- und Lebensspuren, die in Mayröckers Zetteluniversum überdauerten, zum Teil von Staubschichten bedeckt wie Erze in einem Bergwerk, ist kein angemessenes Verständnis ihres Werkes, seiner Produktionsbedingungen und künstlerischen Verfahren (etwa der Collage und Montage) zu gewinnen. Mayröcker verfasste ihre Texte mit der Hand und an der Schreibmaschine, in ihrer Werkstatt als einem Raum visueller, taktiler und akustischer Phänomene – eine Arbeitsweise, die auf völlig anderen künstlerischen Produktionsvoraussetzungen basiert als etwa das digitale Schreiben am Computer-Schirm. „[M]ein ganzes bisheriges Leben scheint eine palimpsestische Form angenommen zu haben, muß ich das weiter ausführen?“, notierte Mayröcker einmal, den Überschreibungen und Schichtungen Rechnung tragend, die ihr Leben, ihre Lektüren und ihr Werk bestimmten.7

Friederike Mayröckers Wiener Schreibwohnung

Ablagerungen und (Erinnerungs-)Schichten ganz anderer Art legte jene Literatur frei, die einen entscheidenden Beitrag zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in Österreich leistete. Während der Großteil ihrer Familie von den Nationalsozialisten ermordet wurde, überlebten Ruth Klüger (1931–2019) und ihre Mutter die Konzentrationslager Theresienstadt, Auschwitz-Birkenau und Groß-Rosen. In ihrem autobiografischen Erfolgsbuch weiter leben. Eine Jugend erinnert sich Klüger an ihre Kindheit in Wien und legt ein einzigartiges Zeugnis einer weiblichen Holocaust-Überlebenden ab. Nach 1945 lebte sie als Autorin und feministisch engagierte Literaturwissenschaftlerin in den USA.

Ruth Klüger im Esterházypark in Wien, um 1936

Ilse Aichinger (1921–2016) überlebte die NS-Zeit als Jugendliche in Wien. In ihren späten Erinnerungen an die Eindrücke jener Jahre, den „Blitzlichtern auf ein Leben“, berichtet Aichinger von der Deportation und Ermordung ihrer Verwandten im Vernichtungslager Minsk. Der Schatten, den diese ungeheuerliche Tatsache auf das Leben der Überlebenden wirft, ist auch Jahrzehnte später nicht verschwunden, er stellt die eigene Existenz nachhaltig in Frage: „Wir, jedenfalls meine Mutter und ich, kamen davon. Aber kamen wir davon? Ich weiß es bis heute nicht.“8

Der Stoff, aus dem Literatur gemacht ist

„ALLES“ über die österreichische Literatur der letzten fünfzig Jahre zu sagen, ist unmöglich. Der Notwendigkeit einer Auswahl, der Unmöglichkeit, „alles“ zu sagen und zu zeigen, stellt sich die Ausstellung „JETZT & ALLES“ mit ausgewählten Positionen, die sich zu einem vielstimmigen Chor zusammenfinden. Ein Großteil der dafür zusammengetragenen Objekte stammt aus Vor- und Nachlässen, die zu den Beständen des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek zählen; ergänzt wurden sie um einzelne Leihgaben von AutorInnen. Ob Bleistiftmanuskripte, eine Vogelfeder oder Notizbücher von Peter Handke, eine Schreibmaschine, ein Mantel oder eine Schildkappe von Friederike Mayröcker, eine Schweinchen-Sammlung, die Recherchebibliothek oder der Bauplan zu einem Roman von Robert Menasse: Unbestreitbar ist die Aura, die solchen physischen Objekten innewohnt, der „magische Wert“9, den wir ihnen zumessen. Es sind Objekte, die jenen (Alltags-)Stoff anschaulich machen, aus dem Literatur gemacht ist.

 

um ein gedicht zu machen
habe ich nichts

eine ganze sprache
ein ganzes leben
ein ganzes denken
ein ganzes erinnern

um ein gedicht zu machen
habe ich nichts

Ernst Jandl, „inhalt“10

 

Über die Autor*innen:

Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs, des Literaturmuseums, der Sammlung für Plansprachen und des Esperantomuseums der Österreichischen Nationalbibliothek. Er ist Co-Kurator der Ausstellung „JETZT & ALLES. Österreichische Literatur. Die letzten 50 Jahre“.

Kerstin Putz ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und Co-Kuratorin der Ausstellung „JETZT & ALLES. Österreichische Literatur. Die letzten 50 Jahre“.

Das Begleitbuch zur Ausstellung ist im Residenz Verlag erschienen und am Servicedesk des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek erhältlich.    

Zur Ausstellung finden Begleitveranstaltungen im Deutschen Buch- und Schriftmuseum der Deutschen Nationalbibliothek in Leipzig statt.

 

Fußnoten:

1 Elfriede Jelinek: „Es ist Sprechen und aus“. Grußbotschaft zum Jubiläumskongress „125 Jahre Wiener Burgtheater“, 2013; https://www.elfriedejelinek.com/fachtung.html (abgerufen: 5.4.2023).

Gerhard Rühm: fenster. texte. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1968, 128.

3 Ernst Jandl: „teeth & voice“, Konzeptblatt, Manuskript, ohne Datum [ca. Anfang der 1990er Jahre]. Nachlass Ernst Jandl, Literaturarchiv der Österreichische Nationalbibliothek.

4 Ebd., 116.

5 Ebd., 27.

6 Friederike Mayröcker: cahier. Berlin: Suhrkamp 2014, 132.

7Friederike Mayröcker: Lection. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994, 120.

8 Ilse Aichinger: Film und Verhängnis. Blitzlichter auf ein Leben. Frankfurt am Main: S. Fischer 2003, 54 f.

9 Vgl. Philip Larkins Unterscheidung zwischen dem „magical“ und „meaningful value“, der Manuskripten zukommt: Philip Larkin: A neglected Responsibility: Contemporary Literary Manuscripts. In: ders.: Required writing: miscellaneous pieces 1955–1982. Ann Arbor: University of Michigan Press 1999, 99.

10 Ernst Jandl: inhalt. In: ders.: werke in 6 bänden, Bd. 3. Hg. v. Klaus Siblewski. München: Luchterhand 2016, 159.

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