Im Jahr 1609 erschien eines der bahnbrechendsten Werke in der Geschichte der Astronomie: Johannes Keplers Astronomia Nova, mit dem er dem Kopernikanischen Weltbild endgültig zum Durchbruch verhalf.
Autorin: Mira Krall
Das Jahr 1609 ist für die Geschichte der Astronomie von zweifacher Bedeutung. Erstens, weil Galileo Galilei das erst kürzlich zuvor erfundene Fernrohr als vielleicht erster Forscher gegen den Nachthimmel richtete und eine Reihe von bahnbrechenden Entdeckungen machte. Zweitens, weil in diesem Jahr die Astronomia Nova des Johannes Kepler publiziert wurde. Der Titel „neue Astronomie“ ist in diesem Fall keine Übertreibung. Denn die Berechnungen und die daraus resultierenden Erkenntnisse, die Kepler in „mehrjährigem, beharrlichem Studium ausgearbeitet“ und in diesem Buch veröffentlicht hat, waren wahrlich revolutionär.
„Auf Geheiß Eurer Majestät führe ich endlich einmal den hochedlen Gefangenen zur öffentlichen Schaustellung vor, dessen ich mich schon vor einiger Zeit (…) in einem beschwerlichen und mühevollen Krieg bemächtigt habe.“1
So heißt es in der Widmungsrede an Kaiser Rudolf II., die der Astronomia Nova vorangestellt ist. In geradezu ausufernden Metaphern erzählt Kepler hier von den Schlachten, die die Wissenschaft gegen den übermächtigen Feind Mars auszufechten hatte, bevor er letztlich von ihm selbst, unter Mithilfe des „obersten Anführers in diesem Feldzug“, Tycho Brahe, bezwungen wurde.
Die Bewegungen der Planeten stellten die Menschheit bereits seit der Antike vor große Rätsel. Währende die sogenannten „Fixsterne“ in perfekter Regelmäßigkeit binnen 24 Stunden auf dem Himmelsgewölbe einmal die Erde umkreisten, zogen die Planeten (griech. astéres planḗtai = Irrsterne, Wandelsterne) allzu wirre, teils auch rückläufige Bahnen über das Firmament, die sich jeder Beschreibbarkeit zu widersetzen schienen.
Im 2. Jahrhundert n. Chr. versuchte Claudius Ptolemäus diese Bewegungen durch seine Epizykeltheorie zu erklären. Zu seiner Zeit war es unvorstellbar, dass die Bahnen der Planeten etwas anderes sein könnten als perfekte Kreise, in deren Mittelpunkt die Erde steht. Dieses Idealbild deckte sich jedoch leider nicht mit den Beobachtungen. Also behalf sich Ptolemäus mit den Epizykeln, und ließ die Planeten auf kleinen Kreisbahnen rotieren, die ihrerseits entlang der großen Kreisbahnen ihre Runden ziehen. Anhand dieses Modells ließen sich erstaunlich genaue Prognosen zu den Planetenbewegungen erstellen. Bis zum Ende des Mittelalters sollte das ptolemäische Weltbild als gängiges System erhalten bleiben.
1543 stellte Nikolaus Kopernikus mit seinem Hauptwerk De revolutionibus orbium coelestium dieses Weltbild gehörig auf den Kopf: Nicht die Erde, sondern die Sonne sei das Zentrum des Weltalls!2 Das Problem war nur, dass die Berechnungen anhand des neuen heliozentrischen Modells ungenauere Vorhersagen lieferten als jene auf der Grundlage des geozentrischen Systems. Dies war höchst unzufriedenstellend, konnte jedoch von Kopernikus selbst nicht mehr gelöst werden, da er kurz nach dem Druck seines Werkes verstarb.
Es dauerte weitere sechs Jahrzehnte, bis dem kopernikanischen Weltbild zum Durchbruch verholfen werden sollte. Im Jahr 1600 folgte Johannes Kepler der wiederholten Einladung Tycho Brahes auf das Schloss Benatek bei Prag3. Die Zusammenarbeit zwischen den beiden äußerst unterschiedlichen Charakteren mag alles andere als harmonisch verlaufen sein und mutet dennoch fast schicksalhaft an. Nur ein Jahr später stirbt Tycho Brahe und Kepler „erbt“ neben der Anstellung als Hofmathematicus von Rudolf II. auch dessen komplette und umfangreiche Sammlung von Beobachtungsdaten zu den Planetenbewegungen, insbesondere zum Mars.
Die darauffolgenden Jahre studiert Kepler jene Aufzeichnungen beharrlich, wertet sie aus und rechnet und scheitert und rechnet weiter und scheitert erneut – doch er gibt nicht auf. 1605 vollendet er seine neue Astronomie, 1609 geht sie in Druck. Und selbst 400 Jahre später zählt dieses Werk noch zu den revolutionärsten Büchern der Wissenschaftsgeschichte. Blättert man heute durch die Astronomia Nova wirkt der Text allerdings wie ein Kuriosum. Angefangen bei der bereits erwähnten Widmungsrede an den Kaiser, die vor metaphorischen Ausschmückungen nur so strotzt, bis hin zu einer Übersichtstafel, die an Kompliziertheit einem habsburgischen Stammbaum um nichts nachsteht – Kepler selbst ächzt in der Einleitung:
„Es ist heutzutage ein sehr hartes Los, mathematische Bücher zu schreiben, zumal astronomische. (…) Ich selber, der ich als Mathematiker gelte, ermüde beim Wiederlesen meines Werkes mit den Kräften meines Gehirns (…)“4
Allein über die Rhetorik des Buches ließe sich ausführlich diskutieren.5 Stellenweise liest sich der Text wie ein Tagebuch, zum einen, weil Kepler immer wieder emotionale und persönliche Ausführungen einflicht und die Leserschaft direkt adressiert („Wenn du dieses mühseligen Verfahrens überdrüssig wirst, so magst du mit Recht Mitleid mit mir empfinden, der ich es mindestens siebzigmal mit sehr großem Zeitverlust durchlaufen habe (…)“6). Zum anderen, weil der komplette Weg zur Erkenntnis einschließlich seiner zahlreichen Fehlschläge festgehalten wird. Keplers erklärtes Ziel ist es, die astronomische Lehre in allen drei Astronomieschulen (nämlich der ptolemäischen, der kopernikanischen sowie der tychonischen7 Schule) zu verbessern und die Ursachen der Planetenbewegungen zu ergründen. Er führt also sämtliche seiner Betrachtungen jeweils für alle drei Theorien aus, wohl auch, um einen möglichst großen Teil seiner zeitgenössischen Leserschaft an ihrem jeweiligen Standpunkt „abzuholen“.8
Kepler selbst bekennt sich klar zur heliozentrischen Lehre des Kopernikus, doch deren Unstimmigkeiten sind noch nicht beseitigt. Er geht davon aus, dass die Planeten die reale Sonne umkreisen und nicht, wie bei Kopernikus, einen fiktiven Punkt ein Stück weit neben der Sonne. Zudem erkennt er bald, dass die immer noch geläufige Epizykeltheorie den Berechnungen nicht standhält. In Kapitel 58 schließlich beschreibt er seinen Durchbruch:
"Oh ich närrischer Kauz! Wie wenn die Schwankung auf dem Durchmesser uns nicht gerade auf die Ellipse hinführen konnte! (…) Daselbst wird auch der Beweis geführt werden, dass für den Planet keine andere Bahnfigur übrig bleibt als eine vollkommene Ellipse."9
Damit war also das berühmte Erste Keplersche Gesetz formuliert: Die Planeten bewegen sich in elliptischen Bahnen um die Sonne! Das zweite Gesetz, das Kepler eigentlich vor dem ersten beschrieben hat, besagt, dass eine von der Sonne zum Planeten gezogene Linie in gleichen Zeiten gleich große Flächen überstreicht. Das klingt komplizierter, als es ist, und bedeutet im Grunde, dass ein Planet sich auf seiner Bahn schneller bewegt, je näher er der Sonne kommt, und umso langsamer, je weiter er sich von ihr entfernt.10 Kepler vermutet die Ursache dieser bewegenden Kraft bereits in der Sonne, die „Entdeckung“ der Gravitation blieb jedoch Isaac Newton (1687) vorbehalten.
Was Johannes Kepler ebenfalls verwehrt blieb, waren detaillierte Objektbeobachtungen am Sternenhimmel, so wie sie seine Kollegen Tycho Brahe (noch mit freiem Auge) oder Galileo Galilei (durch das neu entdeckte Fernrohr) machen konnten. Aufgrund einer schweren Pockenerkrankung in Kindheitstagen war Keplers Sehkraft zeitlebens stark eingeschränkt. Nichtsdestotrotz vermochte er den Mars zu bezwingen, die seit der Antike etablierten Weltsysteme zu stürzen und diese durch seine neue Astronomie zu ersetzen.
Über die Autorin: Frau Mira Krall, MA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek.
1 Johannes Kepler, Widmung an Rudolf II. Deutsche Übersetzung in: Astronomia Nova. Neue, ursächlich begründete Astronomie, Wiesbaden: Matrix 2005, S. 5.
2 Genauer gesagt verschob Kopernikus den Mittelpunkt der Planetenbahnen ein wenig von der Sonne weg und ließ sie einen Punkt umkreisen, den er „mittlere Sonne“ nannte.
3 Er tat dies mehr aus Notwendigkeit als aus freiem Willen heraus, da er kurz zuvor aufgrund konfessioneller Zwistigkeiten in Graz nicht nur seine Anstellung an der evangelischen Stiftsschule verlor, sondern als Protestant schließlich auch die Stadt verlassen musste.
4 Johannes Kepler: Astronomia Nova, S. 19.
5 Vgl. dazu etwa: James Voelkel, The Composition of Kepler’s Astronomia Nova, Kapitel 9.
6 Johannes Kepler: Astronomia Nova, S. 210.
7 Tycho Brahe hatte sein eigenes Weltmodell entwickelt, das im Grunde eine Kompromisslösung zwischen dem ptolemäischen und dem kopernikanischen Weltbild darstellt: Die Erde steht weiterhin im Zentrum, die Sonne und der Mond umkreisen die Erde, die übrigen Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn) jedoch umkreisen die Sonne.
8 Vgl. Fritz Krafft, Einleitung. In: Johannes Kepler, Astronomia Nova. Neue, ursächlich begründete Astronomie, Wiesbaden: Matrix 2005, S. XXXVII.
9 Johannes Kepler: Astronomia Nova, S. 490.
10 Das Dritte Keplersche Gesetz, in welchem er das Verhältnis zwischen Umlaufzeiten und Entfernungen zweier Planeten zueinander regelt, findet sich erst im fünften Band seines 1619 veröffentlichten Werkes „Harmonices mundi“.
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