Autorinnen: Larissa Rasinger und Veronika Wöber
Diese Fragmente Mondseer Handschriften aus dem 8. bis 15. Jahrhundert, welche vor allem gegen Ende des Mittelalters als Makulatur wiederverwendet wurden, sind Gegenstand eines zweijährigen, an der Österreichischen Nationalbibliothek beheimateten » Projekts. Ziel der von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften geförderten Untersuchung ist es, die Fragmente des 1791 aufgehobenen Klosters zu beschreiben, zu digitalisieren und schließlich über die Schweizer Plattform » Fragmentarium (International Digital Research Lab for Medieval Manuscript Fragments) öffentlich zur Verfügung zu stellen.
Um die Textfragmente für die Forschung nutzbar zu machen, ist es notwendig, sozusagen ein verstreutes Puzzle zu lösen und es ohne Kleber dauerhaft zu erhalten. Zwar liegen die Mondseer Handschriften gesammelt in der Österreichischen Nationalbibliothek, Fragmente finden sich aber auch in Inkunabeln, die heute in der Oberösterreichischen Landesbibliothek, in Archivbänden im Oberösterreichischen Landesarchiv und vereinzelt auch in anderen Bibliotheken aufbewahrt werden. Zudem – und das bildet eine Hauptherausforderung der Arbeit – liegen die Fragmente heute in unterschiedlicher Überlieferungsform vor: ein Teil befindet sich nach wie vor als in situ-Fragmente in den Einbänden, ein anderer Teil wurde von früheren ForscherInnen seit Beginn des 19. Jahrhunderts abgelöst. In der Nationalbibliothek befinden sich diese abgelösten Stücke heute in der Fragmentensammlung. Waren von einer ursprünglichen Handschrift mehrere Blatt vorhanden, wurden diese aber teilweise auch von Restauratoren gebunden und unter einer neuen Kodexsignatur aufgestellt (Codices Series nova). Die Puzzelarbeit geht darüber aber noch weit hinaus, da in den seltensten Fällen die in der Buchbindung recycelten Blätter die gleiche Größe wie die vom Buchbinder bei seiner Arbeit benötigten Stücke aufwiesen, wurden diese zurechtgeschnitten bzw. zu vielen kleinen passenden Stücken zerschnitten. Der heutige Erhaltungszustand reicht daher von schmalen Längsstreifen eines Einzelblattes, über teilweise in mehreren einzelnen Bruchstücken oder auch unversehrt erhaltene Blätter, bis hin zu annähernd vollständig erhaltenen Lagen einer Ursprungshandschrift. Erst die moderne Digitalisierung macht es möglich, inhaltliche Zusammenhänge einfach zu erkennen und diese für weitere Forschungen dauerhaft abzubilden.
Herausforderungen und Möglichkeiten der Digitalisierung
Für die Digitalisierung der Fragmente wurden hauptsächlich der Auflichtscanner Zeutschel OS14000 der Abteilung Digitale Services und der Traveller's Conservation Copy Stand, eine Leihgabe des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, verwendet. Während bereits aus den Trägerhandschriften ausgelöste Fragmente meist rasch und mit wenig Aufwand digitalisierbar sind, bringt die Digitalisierung von in-situ Fragmenten zahlreiche Probleme mit sich. Verklebt und nur teilweise sichtbar in verschiedenen Teilen des Einbands der Handschriften machen sie aufwendige Vorbereitungs- und Positionierungsarbeiten vor der eigentlichen Aufnahme nötig. Eine besondere Herausforderung in der Bearbeitung wie Digitalisierung stellen dabei Falzstreifen aus Pergament dar, die in Papierhandschriften zur Verstärkung der Fälze gegen den Druck der Bindefäden mitgebunden wurden. Frühere Forscher lösten die Stücke für die Bearbeitung heraus, indem entweder die Bindung aufgelöst wurde oder der Falzstreifen durch kleine Einschnitte entnommen wurde. Dadurch gingen jedoch häufig die Zusammenhänge zwischen den Fragmenten und ihren Trägerbänden – und damit wichtige Informationen über die Bibliotheksgeschichte eines Klosters – verloren. In der modernen Fragmentenforschung können diese Streifen unter Verwendung eines Plexiglasprismas digitalisiert werden, welches von Manfred Meyer (Universitätsbibliothek Graz) entwickelt wurde. Mit drei Aufnahmen durch das Prisma hindurch können alle Seiten des V-förmig gebogenen Pergamentstreifens sichtbar gemacht werden. Nach einer digitalen Spiegelung der Aufnahmen ist es damit möglich, die Fragmente ohne Beschädigung und Auslösen aus den Trägerbänden zu rekonstruieren und zu bearbeiten.
Abb. 1: Prisma zur Digitalisierung von Falzstreifen
Auch Papierfragmente, die mit der Textseite nach unten in den Deckel geklebt wurden, können nur mit einigem Aufwand lesbar gemacht werden. Unter Tageslicht ist meist nur der durch das Papier scheinende Schriftspiegel erkennbar, der Text jedoch nicht lesbar. Hier hilft in vielen Fällen eine Digitalisierung unter UV-Licht, welche die Tinte deutlicher lesbar macht. Nach anschließender digitaler Spiegelung des Bildes ist meist auch die Identifikation des Textes möglich.
Abb. 2: Normale Aufnahme und verspiegeltes UV-Licht-Digitalisat des Spiegelblattes von Cod. 3740
Projektarbeit und Digitalisierung: Cod. Ser. n. 2065
Bei der Projektarbeit in der Nationalbibliothek erleichtert die Digitalisierung also das Auffinden zusammengehöriger Stücke und macht eine Identifizierung zum Teil überhaupt erst möglich. Zudem hilft sie, Zusammenhänge auch in der Präsentation für BenutzerInnen übersichtlich darzustellen, ohne Neubindungen vorzunehmen und die Originale bestmöglich zu schonen. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn von einer ursprünglichen Handschrift nicht nur ein einzelnes Fragment erhalten ist, sondern eine größere Anzahl verschiedener Teilfragmente einer Ursprungshandschrift eine längere Bearbeitung erforderlich macht. Dies war beispielsweise bei einem Fragmentenkonvolut rund um Cod. Ser. n. 2065 der Fall, bei welchem es sich um eine in 211 Einzelfragmenten erhaltene Handschrift mit Paulusbriefen aus der Zeit um 800 handelt. Die Stücke wurden größtenteils bereits seit dem 19. Jahrhundert aus den Einbänden abgelöst, es konnten aber auch noch in situ befindliche Stücke ausfindig gemacht werden. Neben ganzen erhaltenen Doppelblättern, sind vor allem viele zur Verstärkung der Bindung verwendete Streifenfragmente vorhanden, die sich teilweise wiederrum zu größeren Teilstücken zusammensetzen lassen. Zum Beispiel lässt sich ein ursprüngliches Doppelblatt der Handschrift aus einem vollständig erhaltenen Einzelblatt, Stückchen in Briefmarkenformat sowie abgelösten und noch in situ in Cod. 2996 befindlichen Streifenfragmenten virtuell zusammensetzen.
Abb. 3: Virtuelle Rekonstruktion eines ursprünglichen Doppelblattes der Paulusbriefe, zusammengesetzt aus verschiedenen abgelösten Stücken und mit Hilfe des Prismas digitalisierten in situ-Falzstreifen (Cod. 2996)
Darüber hinaus lässt sich aufgrund der guten Überlieferungslage und einzelner erhaltener Doppelblätter sogar der ursprüngliche Lagenaufbau rekonstruieren. Auch hierfür bildet die Plattform Fragmentarium die ideale Lösung, da sich durch die Digitalisate nicht nur die Zusammensetzung der Einzelblätter und deren textlich richtige Abfolge, sondern auch das Zusammenspiel der Fragmente im ursprünglichen Lagenverbund inklusive der heute vollständig fehlenden Blätter virtuell abbilden lässt. Zudem bietet Fragmentarium die Möglichkeit, auch durch zukünftige Forschungen weitere Teile von heute nur mehr fragmentarisch erhaltenen Handschriften aufzuspüren und das mittelalterliche Puzzle so virtuell weiter zusammenzusetzen.
Zu den Autorinnen: Mag. Larissa Rasinger, MA und Ing. Veronika Wöber sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen am Forschungsprojekt „Die mittelalterlichen Fragmente des Klosters Mondsee“ der ÖAW.
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