Welches oder wessen Wissen zählt als gültiges Wissen in unserer Gesellschaft und wer hat die Macht, sein*ihr Wissen als das Wissen über die menschliche Geschichte und Gegenwart zu beanspruchen? Warum ist eine Neukonzipierung des Wissens, die sich vor allem aus einer Schwarzen feministischen Perspektive ableitet, notwendig? In ihrem Buch Sinnliches Wissen verdeutlicht Minna Salami, warum Feminismus dekolonisiert werden muss und umgekehrt die Dekolonisierung Feminismus braucht.
Rezension von Emma Lakkala
Eloquent, jedoch kein bisschen elitär, entlarvt Minna Salami, nigerianisch-finnische und schwedische Schriftstellerin, Sozialkritikerin und Gründerin des mehrfach ausgezeichneten Blogs MsAfropolitan, die Grundprämissen des europatriarchalischen, also normorientierten, hierarchischen, androzentrischen und elitär-weißen Wissenssystems und damit auch die der westlichen, von Dualismen geprägten Wissenschaften. Das Europa, das wir für die Wiege der rationalen Objektivität, des universellen Wissens und absoluten Fortschritts halten, erweist sich in Wirklichkeit als das eigentliche Gegenteil davon. Nicht zuletzt liefern seine Wissensparadigmen keine angemessenen Lösungen zu den drängendsten Problemen unserer Gegenwart: Klimakrise, Armut, Rassismus, Klassismus, Sexismus und Speziesismus. Es braucht, so Salami, einen neuen Zugang zum Wissen: wir sollten die vermeintliche Neutralität unseres Wissensbegriffs aufgeben und das, was wir unter ”Weisheit” verstehen, weniger über Mathematik, Technik, ewiges Wirtschaftswachstum und Bruttoinlandsprodukt definieren. Stattdessen muss emotionale Intelligenz – wie die Autorin es durch die alte Philosophie der Yoruba veranschaulicht – in die zentrale Bedeutung von Wissen integriert werden. Hier darf man Salami nicht falsch verstehen, sie behauptet nämlich nicht, dass wissenschaftlich und poetisch, quantitativ und qualitativ, männlich und weiblich oder rational und emotional sich gegenseitig ausschließen würden. Ganz im Gegenteil fordert sie ein radikales Umdenken von Wissen: ein sinnliches Wissen, das beides – ogbon-ori, das “Wissen des Kopfes”, und ogbon-inu, das “Wissen des Bauches” – gleichberechtigt vereint. Dies kann geschehen, schreibt sie, indem wir unseren Geist über die westlichen Narrative über das, was ist, war und sein wird, hinaus ausdehnen, indem wir zu den ältesten, protofeministischen Mythen unserer Zeit greifen, indem wir der Natur und den nicht-menschlichen Wesen ihre für das menschliche Leben existentielle Bedeutung zugestehen, indem wir Macht ohne jegliche Dominanz rekonzeptualisieren, und indem wir Emotionen, die im Westen als sinnlich, weiblich und damit als nicht wissenswert eingestuft werden, aufwerten und erleben.
Salami selbst bleibt ihrem Anspruch treu, denn das Wissen, auf das sie sich über das gesamte Buch hinweg bezieht, ist plural. Ihr Erzählen spiegelt ein erstaunlich breites und geschickt verwobenes Spektrum an Wissen: fesselnde Stimmen aus aller Welt und Zeit, Arbeiten, Performances und Literatur vor allem Schwarzer FeministInnen, PhilosophInnen, KünstlerInnen und AutorInnen, Weisheiten der alten Yoruba-Kultur, Geschichten über die Flüsse Niger, Nil oder Whanganui, afrikanische Schöpfungsmythen und darin enthaltene Mensch-Natur-Beziehungen, kreative Kommunikations- und Ausdrucksformen wie Tanz, Rituale, Nähen, Färben, Gesang, Masken und Geschichtenerzählen, das automatische Schreiben als Weg zur persönlichen Emanzipation, Musik als Quelle des kritischen Denkens, Erkenntnisse aus eigenen Tagebucheinträgen sowie scharfsinnige Analysen von inneren Konflikten zwischen der eigenen Wahrheit und der sozialen Indoktrination, die Welt als weiß, männlich und von Europäer*innen entdeckt zu verstehen.
Das Buch ist in neun Essays unterteilt, die sich jeweils einem bestimmten Thema widmen. Durch sie erforscht Salami persönliche und kollektive Befreiung, Identität, Schwarzsein, Frausein oder – wie Salami es benennt – Schwarzefrau-Sein, Macht sowie die Bedeutung von Schwesternschaft im feministischen Denken und Handeln. Im Hinblick auf Dekolonisierung geht es ihr unter anderem um Sprache und Denken und um die Notwendigkeit, die soziale Geschichte der geschlechtsspezifischen Unterdrückung vor, während, nach und zusammen mit der Kolonisierung zu untersuchen. Darüber hinaus argumentiert sie, dass nicht-männliche Subjekte in den Mittelpunkt der Dekolonisierung gestellt werden müssen, weil es keine Befreiung für alle Schwarzen Subjekte gibt, solange Patriarchat und Schwarze Befreiungsbewegungen sich vereinen, etwa durch weitere Etablierung patriarchalischer Institutionen in Schwarzen und afrikanischen Kontexten. Nicht zuletzt setzt sich die Autorin mit Schönheit auseinander und fragt unter anderem: Was macht Schönheit politisch und was haben Weißheit und die biblische Erzählung zu Adam und Eva damit zu tun? Salami erkundet hier auch den männlichen Blick, indem sie das vergeschlechtlichte Subjekt-Objekt-Verhältnis umkehrt und die nur selten gestellte und schwer zu beantwortende Frage aufgreift: Was ist ein schöner Mann aus einer weiblichen Perspektive betrachtet und dargestellt?
Hierbei reduziert Salami die Funktionsweise des Europatriarchats nicht auf eine einfache UnterdrückerIn-Opfer-Beziehung, sondern es gelingt ihr durch die Einbeziehung diverser, oft marginalisierter und verdrängter Perspektiven und Wissensformen, race- und geschlechtsspezifische Unterdrückung als ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren mit vielfältigen Folgen darzustellen. Sie zeigt, welche sozialen und psychologischen Folgen die Verinnerlichung patriarchaler und rassistischer Sozialisation hat, und wie unterdrückte Subjekte auch selbst zu KomplizInnen ihrer eigenen Unterdrückung und dementsprechend jener der anderen werden können.
Sinnliches Wissen verzichtet zwar nicht gänzlich auf eine theoretische Terminologie, die für manche fremd oder neu sein mag, arbeitet aber auch nicht mit einer Sprache, die sich durch wissenschaftlichen Fachjargon und komplexe Bandwurmsätze charakterisieren lässt. Dies steht im Einklang mit dem Zweck des Buches, das nicht in erster Linie für ein akademisches Publikum geschrieben wurde: es bedient den Kampf für die Dekolonisierung des Denkens, die Salami in Anlehnung an bell hooks nur für möglich hält, wenn sie in einer für die Öffentlichkeit zugänglichen Sprache thematisiert wird. Feministische und antikoloniale Begriffe wie etwa Europatriarchat werden durch ihre direkte und lebendige Art zu schreiben und durch persönliche Erinnerungen, erleuchtende Beispiele aus dem Alltag und phantasieanregende Metaphern und Kurzgeschichten fassbar. Ein Grund mehr, es in die Hand zu nehmen.
Sinnliches Wissen hat die Kraft, unsere Sicht auf die heutigen kolonialen Kontinuitäten zu schärfen und neu zu gestalten, und zwar nicht als eine vereinfachte Beziehung zwischen Männern und Frauen oder weißen Menschen und Schwarzen Menschen, sondern als etwas, das die Art und Weise, wie wir die Welt kennengelernt haben und unsere eigene Beziehung zu ihr sehen, grundlegend beeinflusst und letztendlich verkehrt hat. Sinnliches Wissen fordert heraus, indem es die Unzulänglichkeit des westlichen, eurozentrischen Denkens vor Augen führt und dies unter Verwendung von Quellen tut, die für ein solches Denken unkonventionell sind. Das Buch schenkt den Lesenden zudem eine Vielzahl zärtlicher und anrührender Erzählungen, die es ebenfalls schaffen, Spuren zu hinterlassen.
Aufgrund einer gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsversammlung öffnen alle Benützungseinrichtungen der Österreichischen Nationalbibliothek (Lesesäle am Heldenplatz und Sammlungen) am Donnerstag, 21. November 2024, erst um 11.30 Uhr.
Bitte beachten Sie die Öffnungszeiten zu den Feiertagen.