Transferprozesse in der Musikkultur Wiens, 1755–1780: Musikalienmarkt, Bearbeitungspraxis, neues Publikum

Forschung

07.11.2016
Musik
Notenblatt mit Text

Ein aktuelles FWF-Projekt in der Musiksammlung beschäftigt sich mit der von Wien ausgehenden Ausbreitung und Transformation von Musik in der Zeit zwischen 1755 und 1780.

Autor: Thomas Leibnitz

Das Konzept des Kulturtransfers wurde Mitte der 1980er-Jahre in Frankreich und Deutschland entwickelt. Was ist damit gemeint? Zunächst lag der Fokus auf kulturellen Austauschprozessen zwischen diesen beiden Ländern im 18. und 19. Jahrhundert, doch wurde der Forschungsrahmen inzwischen auf Transfers zwischen Konfessionen, Regionen, Schichten und Zentren erweitert und auch auf frühere und spätere Zeiträume angewandt. Das vorliegende Forschungsprojekt hat das Ziel, die Ausbreitung und Transformation von Musik in oder aus Wien zu erfassen, die zwischen 1755 und 1780 durch individuelle Vermittlung oder durch kommerzielle Verbreitung von einem geographischen oder sozialen Ort zum einem andern transferiert wurde. Es ist auf jene Transfers fokussiert, die aus neuen politischen, sozialgeschichtlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen resultieren: die Allianz zwischen Wien und Paris, das erwachende Interesse für deutsche Literatur, die zunehmende Aktivität der sogenannten Zweiten Gesellschaft im Bereich der Künste und der entsprechende Aufbau eines Konzertwesens und eines Marktes für Musikalien.

Den Schwerpunkt der Untersuchungen bilden vier Themenbereiche, die auf ausgewogene Weise einerseits durch Gemeinsamkeiten verbunden sind, andererseits einander komplementierend ergänzen: Die Opéra-Comique in Wien 1765–1780; Klöster als Konsumenten am Wiener Musikalienmarkt; Von der Hofkapelle ins Kärntnertortheater – eine sozialhistorische Topographie des Oratoriums; Wiener Instrumentalmusik auf dem Pariser Druckmarkt.

Diese Themenbereiche nehmen verschiedene Typen des Transfers in den Blick: sozialen Transfer zwischen höfischer Gesellschaft und Mittelstand; regionalen Transfer innerhalb der österreichischen Länder zwischen Zentrum und Peripherie; auf informeller Ebene laufenden gewinnorientierten Transfer nach Prinzipien des Marktes; auf höchster Ebene initiierten internationalen Transfer zwischen zwei Metropolen. Alle Schwerpunkte des Projekts beruhen wesentlich auf Primärquellen in Form von Musikalien. Die systematischen Untersuchung von Schreibern und Wasserzeichen als Grundlagenforschung, deren Ergebnisse online zugänglich sein werden, stellt eine philologische Basis bereit: Kopisten und Papiere in Wiener Opernpartituren 1766–1776. Im Folgenden werden von den Bereichsautoren die spezifischen Forschungsfelder im Detail definiert.

Die Opéra-Comique in Wien 1765–1780

In der Analyse der unterschiedlichen Arten der Transformation, die die Opéra comique in Wien erfuhr, versucht Julia Ackermann, unterschiedliche Stadien der Adaption zu identifizieren. Sie vergleicht alle zur Verfügung stehenden Libretti und Partituren – die Opéras comiques in ihrer Originalsprache, in deutschen Übersetzungen, die der französischen Musik angepasst wurden, wie auch Singspiele, die auf Opéras comiques basieren – mit den französischen Modellen. In vielen Fällen wurden die französischen Textversionen unverändert aus Paris übernommen, während Libretto-Drucke aus Frankfurt die deutschen Übersetzungen aufweisen, die in Wien verwendet wurden. Manche der deutschen Texte zeigen spezifisch Wienerische Adaptionen, womit sie sich als Fallstudien für die künftige Forschung anbieten. Die Veränderungen betreffen vor allem „moralische Standards“, die offensichtlich in Wien höher waren als in Paris. Darüber hinaus wurden Ensembles gestrichen, andererseits einzelne Arien und auch Charaktere hinzugefügt, was die Dramaturgie der Stücke wesentlich beeinflusste. Diese Tranformationen wurden zu den Aufführungsbedingungen in den 1760er- und 1770er-Jahren in Beziehung gesetzt. In einem nächsten Schritt wird Julia Ackermann den Fokus auf Bearbeitungen der Opéras comiques für Kammermusik- und Ariensammlungen erweitern, um damit in weitere soziale und kulturelle Praktiken Einsicht zu gewinnen, in denen die Opéra comique eine Rolle spielte.

Klöster als Konsumenten am Wiener Musikalienmarkt (Christiane Maria Hornbachner) 

Als Ergebnis der Forschungen Christiane Hornbachners erweist sich die Praxis der Erwerbung und Aufführung von Wiener Instrumentalmusik in österreichischen Klöstern zwischen 1755 und 1780 als Prozess konstanter Anpassungen und Veränderungen. Frühe Kopien von Symphonien Georg Christoph Wagenseils, die sich in klösterlichen Musikbeständen befinden, zeigen eine hohe Homogenität bei der Verbreitung der Originalversion. Zahlreiche Kopien aber von Instrumentalwerken Joseph Haydns, Carl Ditters von Ditterdorfs und Johann Baptist Vanhals enthalten Änderungen der originalen Textur wie die Streichung, die Neufassung oder den Austausch einzelner Sätze, neue Titelgebungen und die Reduktion der Instrumentation (z.B. Arrangements für Streichquartett). Da diese Änderungen auch in Kopien für Fürstenkapellen gefunden werden können, kann kaum von Kloster-typischen Transformationen gesprochen werden. Insgesamt scheinen die Gemeinsamkeiten zwischen höfischer und klösterlicher Praxis den Transfer von Wiener Instrumentalmusik stärker bestimmt zu haben als die Differenzen: Als ökonomisch und politisch einflussreiche Institutionen adaptierten die Klöster vielfach das höfische Zeremoniell und wurden daher zu wichtigen Rezipienten der jeweils neuesten Wiener Instrumentalmusik. In einem nächsten Schritt wird Christiane Hornbachner den Fokus auf das stilistische Spektrum in den Instrumentalkompositionen von Benediktinermönchen richten.

Von der Hofkapelle ins Kärntnertortheater – eine sozialhistorische Topographie des Oratoriums

In den letzten Monaten erarbeitete Marko Motnik eine detaillierte Studie zu den Transformationsprozessen von Oratorien. Er vergleicht eingehend die Partituren und Libretti der Werke, die in den Jahren 1750-1770 im „Theater nächst der Burg“ und ab 1770 im Kärntnertortheater aufgeführt wurden, mit den jeweiligen Referenzquellen. Bei den Libretti ist klar zu sehen, dass die Originaltexte (mit wenigen Ausnahmen) keine Änderungen erfuhren. Bei der Musik verhält es sich anders; sie wurde geändert und in vielfacher Weise adaptiert. Insbesondere die Stimmregister erfuhren zahlreiche Umstellungen von tiefen zu hohen Stimmlagen, Arien wurden in vielen Fällen durch Neukompositionen ersetzt. Motnik studierte auch den Kontext der Aufführungen und kam zu dem Ergebnis, dass kaum Unterschiede in der Aufführungspraxis von Oratorien und Opern bestanden. Darüber hinaus besuchte er zwei römische Bibliotheken (Conservatorio di Musica Santa Cecilia und Archivio della Congregazione di S. Filippo Neri), wo er Libretti und Partituren römischer Quellen mit Wiener Quellen verglich. Es erscheint als gesichert, dass zumindest zwei in Wien aufgeführte Oratorien direkt aus der Congregazione stammen: „Adamo ed Eva“ von Baldassare Galuppi, aufgeführt in Wien 1757 und 1758, und „Il ritorno di Tobia“ von Giovanni Battista Casali in einer Wiener Aufführung von 1761.

Wiener Instrumentalmusik auf dem Pariser Druckmarkt

Sarah Schulmeister untersuchte eingehend, in welcher Weise Werke Wiener Komponisten durch ihre Drucklegung in Paris transformiert wurden. Um sie den Bedürfnissen und Verhältnissen in der französischen Hauptstadt anzupassen, wurden von den Pariser Verlegern in vielen Fällen die Titel, Details der Instrumentation und die Satzreihenfolgen geändert. Der Bereich der Instrumentation erwies sich als besonders aufschlussreich. Es konnte ein starker Konnex zur Situation in den Pariser Orchestern festgestellt werden. I insbesondere in den Bläserpartien. Horn, Trompete und Klarinette wurden erst ab 1750 allmählich als Orchesterinstrumente etabliert. Diese Entwicklung stand in Verbindung mit dem neuen deutschen Konzertrepertoire, wie auch mit österreichischen, deutschen und böhmischen Musikern, die nach Paris emigrierten. Weiters zeigte sich, dass in Paris in besonders hohem Maß Werke fälschlich unter dem Namen berühmter Komponisten gedruckt wurden, um den Absatz zu erhöhen.

Kopisten und Papier in Wiener Opernpartituren, 1766-1776

Bisher wurden 22 Opernpartituren des Zeitraums zwischen 1771 und 1773 eingehend untersucht. Es konnten 42 professionelle Kopisten anhand ihrer Charakteristika definiert werden, weiters 32 unterschiedliche Papiere anhand der Wasserzeichen. Diese Untersuchungen werden auf das Jahr 1774 ausgeweitet.

 

Daten zum Forschungsprojekt der ÖNB

Titel

Transferprozesse in der Musikkultur Wiens, 1755–1780: Musikalienmarkt, Bearbeitungspraxis, neues Publikum

Finanzierung

FWF

Laufzeit

Juli 2014 bis Juni 2017

Projektleitung

Univ.-Prof. Dr. Martin Eybl, Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien

Projektteam

Julia Ackermann, Christiane Hornbachner, Marko Motnik, Sarah Schulmeister

Projektpartner (außer ÖNB)

Institut für Musikwissenschaft und Interpretationsforschung der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien
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