Autorin: Kerstin Putz
Der soeben erschienene Briefwechsel zwischen der Philosophin und politischen Theoretikerin Hannah Arendt und dem Philosophen und Schriftsteller Günther Anders dokumentiert eine wechselvolle persönliche und intellektuelle Beziehung. Nicht zuletzt erzählt er von der Flucht und Emigration zweier jüdischer Intellektueller aus Deutschland und Europa.
„SIND GERETTET“
Im Mai 1941 erreichte Hannah Arendt (1906-1975) per Schiff aus Lissabon die USA. Unmittelbar nach ihrer Ankunft in New York schickte sie ein Telegramm an ihren geschiedenen ersten Ehemann Günther Anders (1902-1992): „SIND GERETTET WOHNEN 317 WEST 95= / HANNAH“ (Arendt/Anders 2016: 23). Anders, der bereits 1936 in die USA emigriert war, hatte Arendt und ihre Familie bei der Flucht aus Europa mit Geldsendungen und den notwendigen Einreisepapieren unterstützt. Aus der gemeinsamen Ehe, die in jungen Jahren geschlossen und 1937 auf dem Postweg geschieden worden war, war inzwischen eine Freundschaft geworden.
Kennengelernt hatten sich Arendt und Anders Mitte der 1920er-Jahre an der Universität Marburg in einem Seminar Martin Heideggers. Zu letzterem unterhielt die jüdische Studentin Arendt ein diskretes Liebesverhältnis (vgl. Arendt/Heidegger 1999). 1929 schließlich heiratete sie Günther Anders, der damals noch seinen bürgerlichen Namen „Stern“ trug und eine universitäre Laufbahn als Philosoph anstrebte. Nachdem sich diese Pläne, auch aufgrund des aufkeimenden Antisemitismus jener Jahre, zerschlagen hatten, emigrierten Arendt und Anders 1933 nach Paris. Dort begannen jene Jahre der Emigration, die auch das spätere Werk der beiden deutsch-jüdischen Intellektuellen prägen sollten.
Arendts und Andersʼ gemeinsamer Briefwechsel ist nicht nur eine aufschlussreiche persönliche und ideengeschichtliche Quelle: Er dokumentiert auch die Vertreibung, Flucht und Emigration der jüdischen Bevölkerung aus Deutschland und Europa. So berichtet Hannah Arendt in einem Brief vom September 1939 aus Paris unter anderem über die Internierung von Günther Andersʼ Großcousin Walter Benjamin (1892-1940) (vgl. Arendt/Anders 2016: 11). Benjamin wurde, wie viele andere deutsche EmigrantInnen in Frankreich zu jener Zeit, als „feindlicher Ausländer“ in einem Internierungslager festgehalten. Später, im Mai 1940, sollte Arendt Ähnliches widerfahren: Sie verbrachte einige Wochen im südfranzösischen Internierungslager Gurs. Von dort aus gelang es ihr, über viele Stationen, Unwägbarkeiten und Monate der Wartezeit hinweg, nach New York auszureisen. In den USA setzten sich Arendt und Anders für die in Europa zurückgebliebenen FreundInnen und Bekannten ein (vgl. ebd., 33 f.). Walter Benjamin hatte sich damals, nach tragischer Flucht aus Frankreich über die Pyrenäen nach Spanien, bereits das Leben genommen. In ihren Briefen an Anders berichtet Arendt unter anderem über eine Begegnung mit Benjamin kurz vor seinem Tod, bei der er ihr das Manuskript seiner „Thesen zur Geschichte“ übergeben hatte (vgl. ebd.: 46 f.). Thema des Briefwechsels ist in diesem Zusammenhang auch Arendts und Andersʼ Verhältnis zu den Vertretern des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Friedrich Pollock. Es ist ein weitverzweigtes intellektuelles Netzwerk der Emigration, das anhand der Briefe Kontur gewinnt: Neben den Erwähnten zählen dazu Kurt Blumenfeld, Bertolt Brecht, Ernst Cassirer, Hans Jonas, Herbert Marcuse oder Paul Tillich.
Nach vierzehn Jahren in den USA, in denen Günther Anders im amerikanischen Wissenschaftsbetrieb nicht Fuß fassen konnte und wollte, kehrte er 1950 nach Europa zurück und ließ sich in Wien nieder. Hannah Arendt wiederum lebte zeit ihres Lebens in New York. „USA for good?“, will Anders in einem Brief vom September 1957 wissen (ebd.: 67). Dem Rückkehrer Anders fiel es zuweilen schwer, sich Arendt nicht länger als europäische Intellektuelle vorzustellen: „Ein eigentümliches Gefühl, Dich also nun endgültig als Amerikanerin zu denken“, schreibt er im Dezember 1959 (ebd.: 80). Arendt antwortet darauf in nonchalanter Manier: „[…] Du denkst doch nicht im Ernst, dass ich «Amerikanerin» bin. Ich habe den Pass (das schönste Buch, das ich kenne, nämlich ein Pass) und ich habe das Land ganz gern […]“ (ebd.: 82). Einen Pass zu besitzen, wusste Hannah Arendt zu schätzen: Seit 1937 war sie Staatenlose gewesen, 1951 erhielt sie die US-amerikanische Staatsbürgerschaft.
Nicht nur als „schönstes Buch“, sondern gar als „edelster Teil“ eines Menschen wird der Pass in Bertolt Brechts 1940 entstandenen Flüchtlingsgesprächen bezeichnet. Inmitten der europäischen Kriegswirren unterhalten sich darin zwei Männer – „der Große“ und „der Untersetzte“ – in einem skandinavischen Bahnhofsrestaurant. Dem „Untersetzten“ legt Brecht dabei Folgendes in den Mund:
„Der Paß ist der edelste Teil von einem Menschen. Er kommt auch nicht auf so einfache Weise zustand wie ein Mensch. Ein Mensch kann überall zustandkommen, auf die leichtsinnigste Art und ohne gescheiten Grund, aber ein Paß niemals. Dafür wird er auch anerkannt, wenn er gut ist, während ein Mensch noch so gut sein kann und doch nicht anerkannt wird.” (Brecht 1995: 197)
Was es bedeutete, als StaatsbürgerIn nicht mehr anerkannt zu werden, hatten Arendt und Anders am eigenen Leib erfahren. Beide waren ihrer jüdischen Herkunft wegen aus Deutschland ausgebürgert worden. Diese und andere Erfahrungen der Vertreibung, Flucht und Emigration gingen sowohl in Arendts politische Theorie und ihre Studien zu Totalitarismus und Antisemitismus ein, als auch in Andersʼ streitbare Technik- und Medienphilosophie. Gemeinsam ist ihrer beider Werk die Auseinandersetzung mit Konformismus, Massen- und Konsumkultur sowie eine Kritik der Technik und Automation. In seinem Hauptwerk Die Antiquiertheit des Menschen (1956) entwirft Günther Anders eine Anthropologie des technischen Zeitalters, in der der Mensch im Schatten seiner Produkte und als Anhängsel seiner Maschinen erscheint. – In diesem Sinn lässt der „Große“ aus Brechts Flüchtlingsgesprächen sein Gegenüber wissen: „Man kann sagen, der Mensch ist nur der mechanische Halter eines Passes.“ (ebd.)
Die Originalbriefe aus Arendts und Andersʼ Korrespondenz befinden sich im Nachlass von Günther Anders am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien und in den Hannah Arendt Papers der Library of Congress in Washington, D. C. Die Edition der Briefe entstand im Rahmen des vom Österreichischen Forschungsfond FWF geförderten Projekts „Günther Anders: Erschließung und Kontextualisierung ausgewählter Schriften aus dem Nachlass“ unter der Leitung von Konrad Paul Liessmann und Bernhard Fetz.
Gegenwärtig entstehen im Rahmen des ebenfalls vom Forschungsfond FWF geförderten Fortsetzungsprojekts „Günther Anders: Medienästhetik und intellektuelle Netzwerke“ (2016-2019) weitere Editionen aus dem Nachlass von Günther Anders.
Internationale Günther Anders-Gesellschaft
Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen 1. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C.H.Beck Verlag.
Arendt, Hannah; Günther Anders (2016): Schreib doch mal ‘hard factsʼ über Dich. Briefe 1939 bis 1975. Texte und Dokumente, Hrsg. v. Kerstin Putz, München: C.H.Beck Verlag.
Arendt, Hannah; Martin Heidegger (1999): Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse. Aus den Nachlässen hrsg. v. Ursula Ludz, 2. Aufl., Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann Verlag.
Brecht, Bertolt (1995): Flüchtlingsgespräche, in: Werke Bd. 18, Prosa 3. Sammlungen und Dialoge. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hrsg. v. Werner Hecht, Jan Knopf, Werner Mittenzwei, Klaus-Detlef Müller, Berlin, Weimar, Frankfurt am Main: Aufbau Verlag, Suhrkamp Verlag, S. 195-327.
Titel | |
Finanzierung | FWF |
Laufzeit | Januar 2016 bis Januar 2019 |
Projektleitung | Prof. Konrad Paul Liessmann (Universität Wien, Inst. f. Philosophie) |
Projektteam | Mag. Reinhard Ellensohn |
Projektpartner | Inst. f. Philosophie der Universität Wien |
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