Autorinnen: Katharina Manojlovic und Kerstin Putz
Wie lässt sich von der Zukunft erzählen? Welches Bild wollen wir uns ihr machen? Was sagen uns die Literatur und die Künste über unser Verhältnis zur Zukunft, über unsere Phantasien, untergründigen Sehnsüchte und Hoffnungen, über unsere teils kühnen, teils bescheidenen Vorstellungen und Pläne? Muss, wer hyperwach im Takt der sekundenaktuellen Nachrichten, Infos und Updates schlummert, gerade in den Künsten nach den großen Visionen suchen, die andernorts aus dem Blick geraten? Haben wir, lange genug geschult in den (vermeintlich alternativlosen) Fortschrittserzählungen und unter dem Eindruck mathematischer Plan- und Beherrschbarkeit von allem und allen, unsere Zukunftsvisionen ihrer Offenheit, ihrer Möglichkeit zur radikalen Andersartigkeit beraubt, ja das Utopische besagter Alternativlosigkeit geopfert? (Vgl. Macho 2011, 34) Wie hat nicht zuletzt die Corona-Krise unseren Blick auf die Zukunft verändert? Haben wir Visionen für eine Welt nach der Krise?
Abb. 1: Ausstellungsplakat „Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“
Visionen des Neuen
Utopien und Apokalypsen gehören zusammen, beide antizipieren Neues, beide erzählen von einer neuen Ordnung – und/oder dem Zusammenbruch einer althergebrachten: „Utopie zielt auf eine neue Gesellschaft, Apokalypse auf die Prognose vom Ende der Welt, wie wir sie kennen, auch auf die Erwartung einer ganz anderen, jedenfalls einer neuen.“ (Michler 2013, 339) Beide sind Phänomene für Zeiten des Übergangs, ja der Krise. Mit Blick auf die Gegenwart lässt sich ein solcher Zustand des Übergangs, der Unsicherheit und Ungewissheit zweifelsohne konstatieren. Angesichts einer weltumspannenden Pandemie dominieren einerseits apokalyptische Narrative, andererseits wird zugleich die Forderung nach radikalem Umdenken laut. Apokalyptische und utopische Vorstellungen koexistieren, im Zeichen nämlich jener Veränderungen, die wir mit Klimawandel, Digitalisierung und Robotik, mit harscher gewordenen Tönen in der Politik und anderswo, aber auch mit dem Wunsch nach „Utopien für Realisten“, nach gesellschaftspolitischem Umschwung und Erneuerung assoziieren. (Vgl. Bregman 2019)
Abb. 2: Ernst Jandl: „Apocalypse Soon“, 29. 8. 1991. – „Maunchmoe howe des gfüü / de wööd schded fuan untagaung / daun dafaunge me und sog ma / des gütt nua fia mii“.
Apocalypse Soon?!
Seit jeher faszinieren uns apokalyptische Erzählungen und Weltuntergangsszenarien: Von der Lust, sich den Untergang möglichst konkret auszumalen, dem Nervenkitzel allumfassender Zerstörung lieber zu frönen, als (allein) das gute Ende, die Vorstellung von einer besseren Gesellschaft, eine Welt, die in Ordnung ist, zu imaginieren, zeugt die Hochkonjunktur apokalyptischer Phantasien in Film und Literatur. Doch was meinen wir, wenn wir heute von Apokalypse(n) sprechen? Wie lässt sich die Attraktivität dieses Begriffs, seine Anwendung auf so vieles, auf Erdbeben, Überflutungen und Waldbrände, auf Seuchenausbrüche und atomare Unfälle ebenso wie auf Prophezeiungen des uns möglicherweise noch Bevorstehenden erklären? Das Apokalyptische verweist auf einen Kontrollverlust, auf ein ausuferndes, nicht mehr zu fassendes Ausmaß vernichtender Bedrohungen und, gerade wenn es darum geht, Klimakatastrophen ins Bild zu setzen, auf Szenarien, die in ihrer Zeichnung stark an die biblische Apokalypse erinnern: „Und es ward ein Hagel und Feuer, mit Blut gemengt, und fiel auf die Erde; und der dritte Teil der Erde verbrannte, und der dritte Teil der Bäume verbrannte, und alles grüne Gras verbrannte.“ (Offb. 8,7)
Während jedoch der biblischen Offenbarung Erlösung und Neubeginn innewohnen und die Vernichtung des Bösen mit der Hoffnung auf Erneuerung einhergeht, haben wir es bei heutigen Untergangsvorstellungen mit einer „kupierten Apokalypse“ (Vondung 2016, 52) zu tun, in der das Ende total und endgültig ist, auf den nackten Untergang nichts anderes mehr folgt; einer Vorstellung, die nicht zuletzt in den Erfahrungen der Atombombenabwürfe und eines drohenden Atomkriegs ihren psychologischen Ursprung hat, da der vom Menschen selbst herbeigeführte Untergang nun ein reales Bedrohungspotential im kollektiven Menschheitsbewusstsein darstellt. Obwohl die mit der unmittelbaren Auslöschung einhergehende atomare Bedrohung bestehen bleibt, hat sich, angesichts aktueller Klimadebatten, der Fokus hin auf eine schleichende Apokalypse verschoben, auf die Vision eines Weltuntergangs, der menschheitsgeschichtlich Generationen überspannen könnte, aber erdgeschichtlich lediglich ein Augenzwinkern ausmachen würde.
Die Aufgabe der Gegenwart, so meint die feministische Theoretikerin Donna Haraway, bestehe nun darin, sich von jedem Apokalypse- und Erlösungsdenken zu befreien, „sich entlang erfinderischer Verbindungslinien verwandt zu machen und eine Praxis des Lernens zu entwickeln, die es uns ermöglicht, in einer dichten Gegenwart und miteinander gut zu leben und zu sterben“. (Haraway 2018, 9) Der Schlüssel dazu sei in den Begriffen der „Gegenwärtigkeit“ und des „Unruhig-Bleibens“ sowie im gemeinsamen Leben aller „Wesen der Erde“ zu finden. (Ebd., 9 ff.) Haraway wirbt wider den apokalyptischen Zynismus der Gegenwart für solidarische Gemeinschaften und leitet zu einem Aktionismus an, der weder aus der vorgeblichen Berechen- und Beherrschbarkeit der Zukunft noch aus ideologischen Heilsversprechungen, sondern aus den Verwandtschaftsbeziehungen aller Wesen zueinander Kraft und Orientierung gewinnt.
Abb. 3: Der Maschinenmensch Sabor des Schweizer Ingenieurs Peter Steurer bei einer Vorführung in Linz. United States Information Service (USIS) 1952
Inseln der Seligen
Die Ausstellung „Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“ im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek zeigt ein reichhaltiges Panorama: Es reicht von poetischen Erkundungen der Zukunft und dem Nachdenken über Utopie und Möglichkeitssinn in der Literatur, der Essayistik und Theorie, über literarische Technikphantasien, Maschinenwelten und politische Dystopien à la George Orwells Nineteen Eighty-Four (1949) bis hin zu Weltuntergangsszenarien und Katastrophenerzählungen unterschiedlicher Façon. Eine „Zukunftsbibliothek“ präsentiert internationale, klassisch gewordene und vielleicht noch neu zu entdeckende Zukunftsliteratur vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart: Ein Schwerpunkt liegt hier auf feministischer Science-Fiction und literarischen Utopien von Christine de Pizan über Mary Shelley bis Ursula K. Le Guin. Dabei werden immer auch (Seiten-)Blicke hin zu anderen Künsten und Genres, zu Film, Oper, Puppenspiel und Popkultur geworfen – von Metropolis über Perry Rhodan bis Star Wars und zurück.
Abb. 4: Die Insel Utopia. Aus: Thomas Morus: „De optimo reip(ublicae) statu deque nova insula Utopia“ („Vom besten Zustand des Staates und von der neuen Insel Utopia“). Basler Ausgabe 1518
Abb. 5: Ausstellungsansicht, im Bild: Klaus Wankers Kunstinstallation „Inseln der Seligen (GIER)“. Mischtechnik (Bitumen, Kunststoff, Gräser, UV-aktive Farbe), Dimension variabel, 2019
Das Insel-Motiv, wie es die großen klassischen Utopien, allen voran Thomas Morus’ Inselstaat „Utopia“, charakterisiert, greift Klaus Wankers im Eingangsbereich der Ausstellung präsentierte Installation Inseln der Seligen (GIER) auf: Sie zeigt leuchtende Miniaturwelten, die gleichsam im Schwerelosen zu schweben scheinen, ihrem Titel nach auf einen paradiesischen, aus Zeit und Raum gefallenen Ort verweisen, dabei gewohnte Größenverhältnisse auf den Kopf stellen, sich als umgekehrte Welten deuten lassen, auf eine Art invertierte Wendewelt verweisen, angesichts der sich etwas verwandeln kann, in sein Gegenteil umschlägt. Man kann mit ihnen die Differenz von Natur und Kultur ebenso assoziieren wie die Verquickung von Organischem und Artefakt: die Natur als Menschengemachtes, das Künstliche als Natur. Um wessen „Gier“ geht es hier und wonach? Nach natürlichen Ressourcen vielleicht, wie es die in dieser Arbeit verwendeten Materialien nahelegen? Nach der großen Utopie? Oder doch danach, die Welt umzuwenden?
Die Ausstellung ist noch bis 25. April 2021 im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, Johannesgasse 6, 1010 Wien zu sehen. Öffnungszeiten: Dienstag bis Sonntag von 10 bis 18 Uhr; Donnerstag von 10 bis 21 Uhr.
Zur Ausstellung ist folgendes Begleitbuch erschienen: „Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“ im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek, hrsg. von Katharina Manojlovic und Kerstin Putz. Wien: Zsolnay Verlag 2020, 222 Seiten, zahlreiche Abbildungen in Farbe.
Über die Autorinnen: Mag. Katharina Manojlovic und Dr. Kerstin Putz sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek und die Kuratorinnen der Ausstellung „Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“.
Literatur:
Die Bibel. Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift. Stuttgart: Katholische Bibelanstalt 2016.
Bregman, Rutger (2019): Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedingungslose Grundeinkommen. Aus dem Englischen von Stephan Gebauer. Reinbek: Rowohlt.
Haraway, Donna J. (2018): Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Aus dem Englischen von Karin Harrasser. Frankfurt, New York: Campus Verlag.
Macho, Thomas (2011): Vorbilder. München: Wilhelm Fink (vgl. darin v.a. den Abschnitt „Bilder der Zukunft“, S. 17–36).
Michler, Werner (2013): Träume der Vernunft. Utopien und Apokalypsen von der Spätaufklärung bis zum Ersten Weltkrieg. In: Abendländische Apokalyptik. Kompendium zur Genealogie der Endzeit. Hg. von Veronika Wieser, Christian Zolles, Catherine Feik, Martin Zolles, Leopold Schlöndorff. Berlin: Akademie Verlag, S. 339–367.
Orwell, George (1949): Nineteen Eighty-Four: A Novel. London: Secker & Warburg.
Vondung, Klaus (2016): Utopische Entwürfe – apokalyptische Visionen: Träume vom besseren Leben? In: Zukunftsvisionen zwischen Apokalypse und Utopie. Hg. v. Katharina Martin und Christian Sieg. Würzburg: Ergon Verlag, S. 45–59.
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