„Wenn ich […] wahrhaft gute Kirchenmusik hören will, gehe ich stets in die St. Carlskirche.“

Forschung

15.07.2021
Musik
Reich verziertes Notenblatt

Der Nachlass des heute nahezu unbekannten Komponisten und Kapellmeisters Viktor Boschetti ist Teil des Kirchmusikarchivs der Karlskirche in der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek.

Autorin: Frau Dr. Andrea Harrandt

Am 23. August 1871 – vor 150 Jahren – wurde der heute weitgehend vergessene Musiker Viktor Boschetti geboren. Er war 36 Jahre lang Kapellmeister an der Karlskirche in Wien, sein musikalischer Nachlass ist Teil eines wichtigen Bestandes der Musiksammlung: des Kirchenmusikarchivs Karlskirche Wien.

Geboren in Frankfurt am Main als Sohn der Sängerin Therese Boschetti (1846-1919) studierte Viktor Boschetti zunächst Klavier in Prag, von 1886 bis 1890 am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien und bis 1888 Orgel und Gesang am Wiener Cäcilienverein. Ab 1886 war er als Organist tätig, zunächst an der Dominikanerkirche und ab 1888 an der Karlskirche. 1898 bis 1921 war er Domorganist zu St. Stephan und 1900 bis 1903 und 1914 bis 1932 Korrepetitor an der Wiener Hof- bzw. Staatsoper.

Neben seiner Organisten- und Kapellmeistertätigkeit komponierte er, abgesehen von zahlreichen kirchenmusikalischen Werke (Messen und Offertoriumsteile), auch zwei Opern („Die Druiden“ und „Die Brüder“), Symphonien sowie Kammermusik.

Abb. 1: Karlskirche FKB-Vues Österreich-Ungarn, Wien VIII, Wieden 09a oder Rudolf von Alt um 1850, Pk 124,31

Die 1716 bis 1739 von Johann Bernhard und Joseph Emanuel Fischer von Erlach erbaute Karlskirche auf der Wieden ist dem Mailänder Pestheiligen Carl Borromäus gewidmet. Bis 1952 wurde die Kirche vom Kreuzherrenorden mit dem roten Stern aus Prag betreut, von 1959 bis 1976 von Prämonstratensern des niederösterreichischen Stiftes Geras, anschließend von Opus Dei. Seit 2017 ist sie Rektoratskirche und wird wieder vom Kreuzherrenorden betreut.

In den 1820er Jahren wurden in Wien erste Kirchenmusikvereine gegründet, um das musikalische Niveau zu heben: 1822 an der Pfarre St. Laurenz am Schottenfeld und an St. Ulrich in Alt-Lerchenfeld und schließlich 1825 an St. Karl Borromäus. Erste prominente Mitglieder dieses Vereins waren u.a. Fürst Josef Schwarzenberg und der Historienmaler Ludwig Schnorr von Carolsfeld. Unter der Leitung von Ernst Edlem von Raymond (1792-1866) und Joseph Rupprecht (1799-1880) wurde die Karlskirche bald zu einem Zentrum der Wiener Kirchenmusik. Werke von KomponistInnen der Wiener Klassik und deren NachfolgerInnen, aber auch der Renaissance und des Barock wurden hier aufgeführt. So konnte im Vierzigsten Jahresberichts des Kirchenmusikvereins für das Jahr 1865 festgestellt werden, dass es „der Verein in kurzer Zeit zu einem bedeutenden Rufe in der Residenz gebracht“ habe, „mit wenigen Geldmitteln versehen hat der Verein die grössten Tonwerke der neuern sowohl als auch der alten classischen Kirchenmusik zur Aufführung gebracht; sein Wirken und Schaffen wurde auch im Auslande anerkannt […] Wenn ich […] wahrhaft gute Kirchenmusik hören will, gehe ich stets in die St. Carlskirche.“

Abb.2: Catalog für Messen … F115.St.Karl/Diverses.46, erste Seite
Abb.3: Catalog für Messen … F115.St.Karl/Diverses.46

Ein erster Katalog des Notenarchivs wurde 1846 von Joseph Rupprecht angelegt. „Jede einzelne Noten-Copiatur, jedes einzelne Blatt ist mittelst der Vereins-Stampiglie mit blauer Farbe als Vereins-Eigenthum bezeichnet, im Catalog eingeschrieben und der Catalog selbst im Vereins-Archiv hinterlegt worden.“ (Jahresbericht für 1865). Damals umfasste das Kirchenmusikarchiv 80 Messen, 84 Gradualien und Offertorien und weitere Musikalien verschiedener Gattungen sowie einige Musikinstrumente. Rupprecht war Sänger und wirkte von 1827 bis 1880 als Chorregent der Karlskirche, wo er ein umfangreiches Repertoire aufbaute. Zahlreiche Stimmensätze des Archivs tragen seine Handschrift.

Abb.4: Jan Antonín Kozeluh, Offertorium Justorum animae, Vorsatzblatt, F115.St.Karl.XI/543/1

Eine endgültige Ordnung nach Gattungen wurde erst 1954 von Leopold Vobruba (†1975) in einem Katalog festgehalten. Theophil Antonicek (1937-2014) schließlich gab 1968 bzw. 1973 gedruckte Kataloge der Handschriften A-H bzw. der Drucke heraus.

Das Kirchenmusikarchiv umfasst Handschriften sowie Drucke. Unter den KomponistInnen sind bekannte wie die Brüder Joseph und Michael Haydn, Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert, Wiener Lokalgrößen wie Ignaz Assmayr, Anton Diabelli, Joseph Eybler, Joseph Preindl, Ludwig Rotter und Ignaz von Seyfried zu finden, aber auch heute weitgehend unbekannte. Die Notendrucke spiegeln das breitgefächerte Repertoire der Kirche, von Orlando di Lasso und Giovanni Pierluigi da Palestrina bis ins 20. Jahrhundert zu Rudolf Glickh wider.

Abb.5: Carl Czerny: Graduale Beati omnes, F115.St.Karl.XI/140-141

Bei den handschriftlich überlieferten Werken finden sich auch einige Autographe bekannter Wiener KomponistInnen: so vom Hoforganisten Simon Sechter (1788-1867), Carl Czerny (1791-1857), Schüler Beethovens, Pianist und Pädagoge, vom Theaterkapellmeister Franz Gläser (1798-1861) und Heinrich Proch (1809-1878), Mitglied der Hofkapelle und Kapellmeister an der Hofoper. Erwähnenswert sind auch zwei Kompositionen von Charles Gounod (1818-1893). Am 14. September 1841 wurde seine Messe aufgeführt, ein Jahr später sein Requiem: „Am 2. d. M., als dem Allerseelentage, ward in der Pfarrkirche des heil. Karl von Borromä auf der Wieden, Gounod’s neues Requiem aufgeführt […] Nach dem Anspruche tüchtiger Musiker kann sich auch dieses zweite kirchliche Werk dieses jungen Komponisten der allgemeinen Anerkennung erfreuen“, berichtet „Der Humorist“ am 4. 11. 1842. Gounod befand sich auf der Rückreise von Rom, wo er sich als Prix de Rome-Preisträger aufgehalten hatte. Während seines Wiener Aufenthaltes hatte Gounod dieses Werk komponiert und dem Protektor des Kirchenmusikvereins, k.k. Kämmerer Graf Ferdinand Stockhammer (1787-1845) gewidmet.

Abb.6: Charles Gounod, Requiem, Sopran-Solo-Stimme mit Unterschrift von Gounod, F115.St.Karl.XV/22

1829 wurde das Stabat mater von Giovanni Battista Pergolesi erstmals wieder aufgeführt. 1843 folgte die große Messe von Luigi Cherubini, die „mit vorzüglicher Präcision von den ausgezeichneten musikalischen Kräften zur Aufführung gebracht“ wurde, „so wie überhaupt dieses Kunstinstitut durch seine höchst gelungenen Leistungen immer mehr in der Achtung des hiesigen Musicpublicums steigt.“ (Wiener allg. Musik-Zeitung 10. 1. 1843).

Mozarts Requiem wurde oft zum Gedenken an Verstorbene gespielt, so etwa am 14. November 1837 „für den geschätzten, der Kunst zu früh entrissenen Tonmeister, J. N. Hummel“ (Wiener Theater-Zeitung 11. 11. 1837, S. 3). Am 6. Februar 1841 wurde eine Messe des Beethoven-Biographen Anton Schindler, der damals Musikdirektor in Aachen war, aufgeführt. „Keine Einheit des Gedankens, keine Klarheit der Ideen, drängt ein’s das andere und in diesem Gewirre geht so mancher einzelne Lichtmoment verloren.“ (Wiener allgemeine Musik-Zeitung 6. 2. 1841, S. 6)

1861 übernahm Josef Dobner (1825-1899) die Leitung des Kirchenmusikvereins und legte 1875 eine erste Geschichte des Vereins vor, die er mit folgenden Worten schloss: „Zugleich mit diesen Dankesäußerungen gelobt der Verein seinen Freunden und sich selbst, auf der Bahn des Fortschritts rüstig fortzuwandeln und sich der Pflege einer echten Kirchenmusik mit ungeschwächtem Eifer und unermüdlicher Ausdauer auch fortan zu weihen.“ 1888 wurde Dobner zum Kommandeur des Kreuzherrenordens und Pfarrverweser bei St. Karl ernannt.

Zu den Mitwirkenden zählten vor allem DilettantInnen, aber auch SängerInnen der Hofoper wie Joseph Staudigl, Franz Wild, Joseph Tichatschek, Joseph Erl, Alois Ander, Pauline Lucca oder Marianne Brandt. Zum 50 Jahr-Jubiläum des Vereins schrieb die Neue Freie Presse am 7. 11. 1875: „Die Kirchenmusik bei St. Karl gehört in Bezug auf künstlerische Auswahl und sorgfältige Auswahl zu den allerbesten in Wien, ihr wird von vielen Kennern der Rang unmittelbar nach der Hofburg-Capelle eingeräumt.“

Bis weit in das 20. Jahrhundert wurde ein fast gleichbleibendes Repertoire gepflegt. So wurden etwa 1894 Werke von Wenzel Horak, Karl Kempter, Anton Diabelli, Robert Führer, Michael Haydn, Carl Seyler, Caspar Ett, Simon Sechter, Sigismund Neukomm, Michael Bauer, Ludwig Rotter, Franz Schubert, Joseph Haydn, Mozart, Bernhard Hahn, Johann Nepomuk Wittasek und Johann Georg Vogler aufgeführt. Der Kirchenmusikverein schloss sich auch nicht der neuen cäcilianischen Richtung in Deutschland an, sondern hielt an seinem Repertoire fest: „Unser Verein theilt nicht die puritanische Ansicht und Bereitwilligkeit, alles über Bord zu werfen, was mozartisch und haydnisch ist […]“ (Jahres-Bericht für das Jahr 1893).

1900 wurde Viktor Boschetti Chordirektor an der Karlskirche. Bereits am 29. Juli 1899 begann er mit genauesten Aufzeichnungen über alle Aufführungen, die er bis 26. März 1933, wenige Tage vor seinem Tod, weiterführte. Es wurden nun auch vermehrt Werke von Boschetti selbst aufgeführt. Im Archiv sind ab 1894 aber auch weltliche Kompositionen von ihm enthalten, so eine Sonate und ein Menuetto für Streichorchester sowie das Vorspiel zu „Gauner’s Wittwerstand von Cervantes“.

Abb.7: Victor Boschetti, Die Kirchenmusik von St. Carl, Eintrag von November/Dezember 1916, F115.St.Karl/Diverses.41/2

1913 wurde Boschetti für seine 25-jährige Tätigkeit für den Verein das goldene Verdienstkreuz mit der Krone verliehen.

Seit 2019 sind die Werke des Kirchenmusikvereins St. Karl vollständig aufgenommen und über den Online-Katalog der Österreichischen Nationalbibliothek recherchierbar.

Über die Autorin: Frau Dr. Andrea Harrandt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek

Literatur

DobnerJosef P.: Geschichte des unter dem Protectorate Sr. Königlichen Hoheit des Hochgebornen Herrn Herrn Philipp, Herzogs von Württemberg stehenden Kirchen-Musik-Vereines an der k.k. Gelübde- und Pfarrkirche St. Carl Borromäus auf der Wieden in Wien. Wien 1875
Jahres-Bericht des …  Kirchen-Musik-Vereins an der k.k. Gelübde- und Pfarrkirche St. Carl Borromäus auf der Wieden in Wien. Wien 1862, 1865, 1893-1895, 1900-1915.
Antonicek, Theophil: Das Musikarchiv der Pfarrkirche St. Karl Borromäus in Wien. Die Drucke. (Tabulae Musicae Austriacae Band IV). Wien 1968
Antonicek ,Theophil: Das Musikarchiv der Pfarrkirche St. Karl Borromäus in Wien. Die Handschriften A-H. (Tabulae Musicae Austriacae Band VII). Wien 1973

Musiklexion

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