Mehr als 3.000 Teilnehmer*innen aus über 40 verschiedenen Ländern trafen 1924 im Rahmen des 16. Esperanto-Weltkongresses in Wien zusammen.
Autor: Bernhard Tuider
Nachdem Ludwik Zamenhof (1859–1917) im Jahr 1887 das erste Lehrbuch für Esperanto veröffentlicht hatte, verbreitete sich die neu geschaffene Sprache schnell. Ab 1889 erschien mit „La Esperantisto“ die erste Zeitschrift in Esperanto und die Zahl belletristischer Übersetzungen sowie original in Esperanto verfasster Literatur stieg kontinuierlich an. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts kommunizierten Esperantosprecher*innen noch vorwiegend schriftlich, persönliche internationale Begegnungen waren dagegen noch beschränkt. Die mündliche Kommunikation wurde erst durch die Universalaj Kongresoj de Esperanto, die Esperanto-Weltkongresse, gefördert, deren Ursprung ein zweitägiges Treffen am Ärmelkanal bildete. Während sich am 7. und 8. August 1904 ca. 120 Esperantosprecher*innen zunächst in Calais und anschließend in Dover trafen, lud der Rechtsanwalt Alfred Michaux (1859–1937) zu einer noch größer geplanten Veranstaltung, die von 5. bis 12. August 1905 in seiner Heimatstadt Boulogne-sur-Mer stattfinden sollte. Zu diesem ersten Esperanto-Weltkongress kamen mehr als 600 Personen, darunter auch das Ehepaar Ludwik und Klara Zamenhof (1863–1924). Seitdem finden Universalaj Kongresoj de Esperanto jährlich an wechselnden Orten statt, unterbrochen nur durch die beiden Weltkriege.
Nach der Zäsur des Ersten Weltkrieges erlebte die internationale Esperanto-Bewegung in den 1920er Jahren – auch als Reaktion auf die Kriegserfahrungen – einen starken Aufschwung. Diese „Blütezeit des Esperanto“ zeigte sich insbesondere in der Esperanto-Literatur, in Reiseaktivitäten von Esperanto-Sprecher*innen und in zahlreichen internationalen Konferenzen über die praktische Anwendung des Esperanto in den Bereichen der Wirtschaft, des Tourismus, der Wissenschaften und des (Radio-)Rundfunks.1
Nach dem Esperanto-Weltkongress in Nürnberg 1923 begannen im Herbst desselben Jahres die Vorarbeiten für den 16. Esperanto-Weltkongress in Wien. In einem Unterstützungsaufruf wies das lokale Kongresskomitee nicht nur darauf hin, dass dieser Kongress die Gelegenheit biete, „sich davon zu überzeugen, was Esperanto ist, was es schon jetzt leistet und was man von ihm erwarten könnte“, sondern die Organisator*innen beabsichtigten auch „der ganzen Welt [zu] zeigen, dass Wien den nun neuerdings auflebenden guten Ruf, eine internationale Kongressmetropole ersten Ranges und eine Stätte vollen Verstehens für hohe, edle Kulturziele zu sein, mit Fug und Recht verdient.“2
Die Voraussetzungen für einen internationalen Esperanto-Kongress waren sehr gut in Wien, wo es bereits seit 1917 Esperanto-Lehrveranstaltungen an der Technischen Hochschule gab und allein im Jahr 1922 mehr als 70 Kurse für Esperanto stattgefunden hatten, was es zu einer der damals meistgelernten Fremdsprachen machte.
Am 16. Esperanto-Weltkongress nahmen von 6. bis 14. August 1924 rund 3.400 Personen aus mehr als 40 Ländern teil. Kongresszentrum war das Wiener Konzerthaus, in dem auch die feierliche Eröffnung und die Schlusssitzung stattfanden.
Zudem gab es an verschiedenen Orten in der Stadt mehr als 20 Fach- und Arbeitssitzungen, in denen offizielle Institutionen ihre Berichte präsentierten und vor den Kongressteilnehmer*innen zur Diskussion stellten. Der Wiener Akademische Esperantisten-Verein organisierte eine internationale studentische Konferenz im kleinen Festsaal der Universität Wien. Im Bezirkshaus auf dem Alsergrund fand die Tagung der Arbeiteresperantisten statt, an der auch der spätere Bürgermeister von Wien und Österreichische Bundespräsident Franz Jonas (1899–1974) teilnahm. Im Festsaal der Bäckergenossenschaft begrüßte der Erzbischof von Wien, Kardinal Friedrich Gustav Piffl (1864–1932), die Esperanto sprechenden Katholik*innen, während die Fachsitzung der Ärzt*innen im Akademischen Gymnasium tagte. Über das umfangreiche Vortrags- und Veranstaltungsprogramm, die bedeutendsten Sehenswürdigkeiten Wiens, aber auch Exkursionen ins Umland, die während der Kongresswoche stattfanden, informierte das Kongressbuch sowie täglich das Kongresa Bulteno, das offizielle Organ des 16. Esperanto-Weltkongresses.
Neben Esperanto-Zeitschriften wie „Esperanto Triumfonta“ berichteten auch Österreichische Tageszeitungen wie das „Neue Wiener Tagblatt“, die „Neue Freie Presse“, die „Arbeiter-Zeitung“, die „Reichspost“ oder die „Illustrierte Kronen Zeitung“ ausführlich über den Kongress. Besondere Aufmerksamkeit bekam eine eigens für den Weltkongress gestaltete Inszenierung im Wiener Bürgertheater, wo an zwei Abenden „La Malŝparulo“ gegeben wurde – Ferdinand Raimunds Zaubermärchen „Der Verschwender“ in einer Esperanto-Übersetzung von Franz Zwach (1856–1928).
Unter der Regie von Hermann Wawra (1884–1963) spielten u.a. Darsteller*innen des Nürnberger Stadttheaters und des Wiener Burgtheaters, darunter Philipp Zeska (1896–1977) als Julius von Flottwell.
Die Theaterkritiken waren – trotz gewisser Vorbehalte gegenüber der Sprache Esperanto – sehr positiv. „Überraschend groß ist die Zahl bekannter Wiener Schauspieler, die das Esperanto vollkommen beherrschen. Der Erfolg war ein durchschlagender […]“3, berichtete „Der Tag“ am 12. August 1924. Auch die „Neue Freie Presse“ schwärmte über die Vorstellung:
„Der Wohlklang der vokalreichen Sprache kam in der Uebersetzung von F. Zwach, die auch dem Rhythmus der eingestreuten Gesänge nichts schuldig blieb, zu schöner Wirkung. Die Darsteller bestanden nicht nur ihre esperantistische Feuertaufe vortrefflich, sondern es gab auch sehr anerkennenswerte schauspielerische Leistungen.“4
Abseits der künstlerischen Höhepunkte des Kongresses informierten zahlreiche Tageszeitungen bereits vor der Veranstaltung über ein bemerkenswertes Angebot der Wiener Polizei. Details dazu finden sich etwa im „Neuen Wiener Tagblatt“ vom 2. August 1924:
„Da schon in den nächsten Tagen, von 6. bis 14. d., mehr als 3000 Ausländer, die zum Esperantokongreß kommen, sich in Wien aufhalten werden, hat die Polizeidirektion für diese Zeit sechzig Esperanto sprechende Wachleute und Polizeibeamte mit der Dienstleistung, Erteilung von Auskünften usw. betraut. Die betreffenden Polizisten werden auf den frequentiertesten Punkten den Dienst versehen und durch eine weiße Armbinde mit dem Esperantoabzeichen (fünfzackiger grüner Stern) als esperantokundig kenntlich sein.“5
Ein besonderer Programmpunkt war am 9. August die Enthüllung einer Gedenktafel für Ludwik Zamenhof an der Fassade des Hotels Hammerand (Ecke Florianigasse 8, Schlösselgasse 6), wo er während seiner Wien-Aufenthalte in den Jahren 1886 und 1897 gewohnt hatte. Unter den Teilnehmer*innen dieses Festaktes waren auch seine Witwe Klara und seine Tochter Lidia Zamenhof (1904–1942) sowie der Obmann des Esperanto-Weltbundes (Universala Esperanto-Asocio) und Mitglied der Persischen Delegation beim Völkerbund in Genf, Edmond Privat (1889–1962).
Weitere bedeutende Teilnehmer*innen des Kongresses waren der Arzt Angelo Filippetti (1866–1936), Obmann der Federazione Esperantista Italiana und von 1920 bis 1922 Bürgermeister von Mailand, der Schriftsteller und Blindenpädagoge Wassili J. Jeroschenko (1890–1952), der an der Universität in Peking Esperanto und russische Literatur unterrichtete, sowie Teiso Esaki (1899–1957), ein Mitbegründer der Entomologie in Japan.6
Für die „Neue Freie Presse“ war der Philosoph und Politiker Yuanpei Cai (1868–1940) „einer der interessantesten Gäste des Esperantistenkongresses“7. Cai hatte bereits während seines Studiums an der Universität in Leipzig Esperanto gelernt. Als Unterrichtsminister der Republik China führte er 1912 Esperanto an pädagogischen Lehranstalten ein, um Lehrkräfte für die Sprache auszubilden. Nach seiner Ernennung zum Rektor der Universität in Peking 1917 wurde Esperanto an der Hochschule zu einem regulären Unterrichtsfach. Cai besuchte den 16. Esperanto-Weltkongress in Wien gemeinsam mit dem Schriftsteller Kenn Wong (1894–1990), der 1912 in Guangzhou Esperanto gelernt hatte.8
Durch den 16. Esperanto-Weltkongress und die Gründung des Esperantomuseums 1927, welches bereits ein Jahr später der Nationalbibliothek angegliedert wurde, entwickelte sich Wien in der Zwischenkriegszeit zu einem Zentrum der internationalen Esperanto-Bewegung und war bereits 1936 erneut Veranstaltungsort eines Esperanto-Weltkongresses.
Über den Autor: Mag. Bernhard Tuider ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek.
Eroshenko, Vasily (2023): The narrow cage and other modern fairy tales. New York: Columbia University Press.
Lederhofer, Claudia (1993): Die Esperanto-Bewegung in China bis zur Gründung der Volksrepublik. Chinesische Intellektuelle und ihre Stellungnahme zu Esperanto. Universität Wien Diplomarbeit.
Lins, Ulrich (2016): Dangerous language – Esperanto under Hitler and Stalin. Basingstoke: Palgrave Macmillan UK.
Raimund, Ferdinand (1924): La Malŝparulo. Originala sorĉfabelo en tri aktoj. Leipzig: Ferdinand Hirt & Sohn.
1 Lins, Ulrich (2016), 69 f.
2 Orts-Ausschuss für den 16. Esperanto-Weltkongress in Wien: Rundschreiben. Oktober 1923. Signatur: ÖNB 701.635-C.Esp-16,5,17.
3 Die Homunkulussprache. „La Malŝparulo“ im Bürgertheater, in: Der Tag, 12.08.1924, 3.
4 Esperantistische Aufführung des „Verschwender“, in: Neue Freie Presse (Abendblatt), 13.08.1924, 1.
5 Esperanto-Polizeidienst, in: Neues Wiener Tagblatt, 02.08.1924, 6.
6 Eroshenko, Vasiliy (2023), XXIX f.
7 Chinas Geistesleben. Gespräch mit dem Pekinger Universitätsrektor Yuanpeitsai, in: Neue Freie Presse (Abendblatt), 09.08.1924, 3.
8 Lederhofer, Claudia (1993), 27–35.
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