Autorin: Margot Werner
Vor genau 10 Jahren, am 29. April 2010, wurde mit dem Austriaca-Lesesaal der siebente Lesesaal im Bereich der Bibliothek am Heldenplatz eröffnet – für uns ein Anlass, auf die wechselvolle Nutzungsgeschichte dieses beliebten Leseraums zurückzublicken:
Heute präsentiert sich der 259 m2 umfassende Saal als moderner, mit zeitgemäßer technischer Infrastruktur ausgestatteter Bibliotheksraum. Sein nach wie vor geläufiger Beiname „Weißer Saal“ gibt einen ersten Hinweis auf dessen ungewöhnliche Vornutzung…
Der 1881 begonnene Bau des „Hofburgflügels gegen den Kaisergarten“ war im Jahr 1918 vollendet, der Innenausbau aber noch im Zustand einer Baustelle; lediglich Hauptwände, Decken und Fußböden waren konstruktiv fertig gestellt, mangels neuer Zweckwidmung nach dem Ende der Monarchie aber im Rohbau. Im ursprünglichen Konzept des „Kaiserforums“ von Gottfried Semper und Carl Hasenauer waren der Gartentrakt und damit auch der heutige Austriaca-Lesesaal für Wohnzwecke des Kaiserpaares vorgesehen.
Die Nutzung des gesamten burggartenseitigen Flügels der Neuen Burg blieb nach dem Ende des Ersten Weltkriegs für viele Jahre ungeklärt, erst Mitte der 1920er Jahre wurde eine grundsätzliche Widmung für museale Zwecke vorgesehen. Nach verschiedenen temporären Nutzungen des gartenseitigen Trakts, unter anderem als Lebensmittellager, zog 1928, entsprechend der geplanten musealen Widmung, das Völkerkundemuseum (heute Weltmuseum) in den sogenannten Corps de Logis, den ringstraßenseitigen Trakt der Neuen Burg, als Dauermieter ein. Auch der heutige Austriaca-Lesesaal war dem Völkerkundemuseum zugesprochen und von diesem bezogen worden.
Der „Weiße Saal“ – Gips und Ärztekittel in der Hofburg
Während des Zweiten Weltkriegs − die Zweckbestimmung der Neuen Burg war zu dieser Zeit nach wie vor weitgehend ungeklärt – war 1942 in den burggartenseitig gelegenen Räumen der Neuen Burg ein Kriegslazarett „für Muskelkontrakturen und Gelenkversteifungen“ untergebracht worden; eine Raumnutzung, die sich trotz völliger Uneignung der als kaiserliche Residenz und für Repräsentativzwecke konzipierten Räume noch viele Jahre hinziehen sollte. Das Lazarett wurde in Folge der näher rückenden Front im Februar 1945 geschlossen und die Räume trotz unhaltbarer Zustände für PatientInnen, ÄrztInnen und Pflegepersonal erneut als Spital genutzt: als Ausweichquartier des Orthopädischen Spitals, heute Orthopädisches Spital Speising.
Abb. 1: Eingang zum Orthopädischen Spital in der Hofburg, burggartenseitig. Der Zugang besteht noch heute unverändert, wird allerdings nur noch als Notausgang genutzt, um 1950 © mit freundlicher Genehmigung des Orthopädischen Spitals Speising
Das Orthopädische Spital in der Hofburg
Das Orthopädische Spital war 1915 gegründet worden – der akute Bedarf ergab sich durch die Kriegsinvaliden des Ersten Weltkriegs – und bezog das Gebäude einer ehemaligen Schule in der Gassergasse 44, Wien 5. Das Spital wuchs während des Kriegs zu immenser Größe an, auf 3.000 Betten mit angeschlossenen Prothesenwerkstätten und „Invalidenschulen“, in welchen Verwundete auf neue Berufe umgeschult werden sollten.
Nach mehreren Bombentreffern am 8., 13. und 15. Februar 1945 im Gebäude in der Gassergasse wurde erneut die Entscheidung getroffen, die Prunkräume der Neuen Burg im burggartenseitigen Trakt als Spital zu nutzen und den Betrieb des Orthopädischen Spitals als reines Kriegslazarett hier unterzubringen. Schon am 1. März bezog das Orthopädische Spital samt 600 Patienten sowie Personal einen Teil der Räume der heutigen Bibliothek am Heldenplatz, darunter den Austriaca-Lesesaal, der als Krankenzimmer diente, und den heutigen Informationsschalter, in welchem das Gipszimmer untergebracht war.
Abb. 2: Gipszimmer im Raum der heutigen Informationsservices, Erdgeschoß, um 1950 © mit freundlicher Genehmigung des Orthopädischen Spitals Speising
Abb. 3: Informationsschalter heute. Foto: Österreichische Nationalbibliothek
Zeitzeugenberichte wie jener eines damaligen Oberarztes illustrieren die katastrophalen Zustände im Ausweichquartier Hofburg:
„Was braucht man mehr zu sagen, als dass man sich eigentlich in Ausstellungsräumen befand. Ja, denn es handelte sich doch um einen Teil des Völkerkundemuseums. Wie sollte sich da ein Spitalsbetrieb einbauen lassen? Überlegen Sie, allein das Waschwasser mußte krugweise zu jedem Patienten gebracht werden, die sanitären Verhältnisse waren verheerend.“ (50 Jahre Orthopädisches Spital, Wien XIII, Speising, 1915-1965, S. 96.)
Elf Jahre wurde der Behelfsbetrieb in den heutigen Leseräumen aufrechterhalten (seit 1945 auch wieder für zivile PatientInnen), mit beeindruckenden Zahlen: bei einer Bettenstation von 260 Betten wurden zwischen 1945 und 1965 19.768 Operationen durchgeführt.
Abb. 4: Krankenzimmer im heutigen Austriaca-Lesesaal, um 1950 © mit freundlicher Genehmigung des Orthopädischen Spitals Speising
Abb. 5: Austriaca-Lesesaal mit eingezogener Galerie heute. Foto: Österreichische Nationalbibliothek
1965 schließlich, gingen die Räume nach dem Auszug des Orthopädischen Spitals und dessen Übersiedlung nach Speising wieder an das Völkerkundemuseum zurück, das sie bis zur Überlassung des Raumes an die benachbarte Österreichische Nationalbibliothek 2009, als Technikraum nutzte.
Erweiterung der Bibliothek am Heldenplatz
Stark steigende Leserzahlen und das eingeschränkte Raumangebot im denkmalgeschützten Umfeld legten die Erweiterung des Benützungsbereichs Heldenplatz nahe: Der ehemalige „Weiße Saal“ grenzte direkt an den Lesebereich, konkret die 2004 geschaffene Kommunikationslounge an, und war somit ideal in die bestehende Infrastruktur einzubinden. Als weiteres Plus erwies sich der barrierefreie Zugang direkt über den Haupteingang Heldenplatz, wodurch die Installation zusätzlicher Sicherheitsbarrieren entfallen konnte, die unmittelbare Nähe zu den bereits vorhandenen Servicebereichen und die Möglichkeit, den Saal ohne weitere Baumaßnahmen vom benachbarten Völkerkundemuseum (heute Weltmuseum) trennen zu können. Diese Voraussetzungen ermöglichten eine rasche Adaptierung ohne invasive bauliche Veränderungen. Die sofort nach Übergabe des Saals 2009 begonnene Planungsphase konzentrierte sich dementsprechend auf die Innenausstattung. Noch im selben Jahr wurde mit den Sanierungsmaßnahmen begonnen, mit dem Ziel, bereits im Frühjahr 2010 einen weiteren modernen Lesesaal zu eröffnen. Die Umbauarbeiten beinhalteten außerdem den Einbau einer Lüftungs- und Klimaanlage, die Sanierung des Parkettbodens und die Montage von Akustikpanelen an Wand und Decke, um Ruhe für die Lesenden zu gewährleisten. Das neu konzipierte Beleuchtungssystem schafft eine angenehme Arbeitsatmosphäre. Die akustische und klimatische Trennung zur angrenzenden Kommunikationslounge wurde durch den Einbau einer Glasschiebetüre und eines verglasten Eingangsbereichs realisiert.
Abb. 6: Bauphase Austriaca-Lesesaal, Einzug der Galerie, 2009. Foto: Österreichische Nationalbibliothek
Die reine Bauzeit für die Innenraumgestaltung und technische Infrastruktur betrug sechs Monate. Als Leitkonzept diente der 2004 generalsanierte, in unmittelbarer Nähe befindliche größte Lesesaal der Österreichischen Nationalbibliothek (Lesesaal 1). Ein Großteil der für den Betrieb des Lesesaals erforderlichen Technik, wie etwa die Klima- und Lüftungszentrale, befindet sich im direkt unter dem Saal liegenden Kellergeschoß der Hofburg. Sowohl Arbeiten an bestehenden historischen Bauteilen, als auch der Einbau von neuen Elementen im historischen Umfeld wurden in Absprache mit dem Bundesdenkmalamt vorgenommen: so erstrahlen z. B. die großflächigen Fenster zum Burggarten in neuem Glanz und die Glaswindfangkonstruktion im Eingangsbereich des Saals gliedert sich in die Mittelhalle der Hofburg ein.
Abb. 7: Austriaca-Lesesaal, Galerie, kurz vor der Eröffnung 2010. Foto: Österreichische Nationalbibliothek
Dort wo einst 64 Krankenbetten untergebracht waren, genießen heute – bei regulärem Betrieb – bis zu 67 LeserInnen auf zwei Ebenen ein ruhiges Arbeitsumfeld mit herrlichem Blick in den Burggarten – und vielleicht auch die geschichtsträchtige Atmosphäre.
Über die Autorin: Mag. Margot Werner ist Leiterin der Hauptabteilung Benützung und Information der Österreichischen Nationalbibliothek
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Weiterführende Literatur zum Thema Bau- und Nutzungsgeschichte des Hofburgareals findet sich unter anderem im Freihandbereich des Austriaca-Lesesaals bzw. kann online zur Benutzung in den Lesesälen bestellt werden:
Literatur zum Thema:
Zum Thema digital:
ANNO AustriaN Newspapers Online − digitalisierte Tageszeitungen
Wiener Kurier vom 15. Oktober 1945
» http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=wku&datum=19451015&query=%22Orthop%c3%a4disches%22+%22Spital%22&ref=anno-search
Weltpresse vom 26. April 1947
» http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dwp&datum=19470426&query=%22Orthop%c3%a4disches%22+%22Spital%22&ref=anno-search&seite=6
Illustrierte Kronenzeitung, 1.5.1940
» http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=krz&datum=19400501&query=%22Orthop%c3%a4disches%22+%22Spital%22&ref=anno-search&seite=4
Aufgrund einer gesetzlich vorgeschriebenen Betriebsversammlung öffnen alle Benützungseinrichtungen der Österreichischen Nationalbibliothek (Lesesäle am Heldenplatz und Sammlungen) am Donnerstag, 21. November 2024, erst um 11.30 Uhr.
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