Autoren: Bernhard Fetz, Thomas Huber Frischeis, Rainer Valenta, Alfred Schmidt
Am 1. November 2016 erschien der erste Artikel im Forschungsblog der Österreichischen Nationalbibliothek. Seither folgten im Abstand von 14 Tagen regelmäßig neue Beiträge, die über Forschungsprojekte, besondere Bestandsobjekte, wissenschaftliche Veranstaltungen, Ausstellungen u. ä. informierten. Der 100. Blogartikel versucht einen Überblick über die wichtigsten aktuellen Forschungsaktivitäten der Österreichischen Nationalbibliothek zu geben (eine detaillierte Darstellung finden Sie unter: » https://www.onb.ac.at/forschung/forschungsaktivitaeten).
Seit Inkrafttreten des Bundesmuseen-Gesetzes 2002 (BGBl. I, Nr. 14/2002) ist die Österreichische Nationalbibliothek als autonome „Wissenschaftliche Anstalt öffentlichen Rechts des Bundes“ definiert. Sie ist ihrem gesetzlichen Auftrag und auch ihrem traditionellen Selbstverständnis gemäß nicht nur Serviceeinrichtung für die Forschung, sondern betreibt in enger Kooperation mit anderen wissenschaftlichen Institutionen zugleich auch selbst wissenschaftliche Forschung. Sie ist dabei wesentlich auf projektbezogene Drittmittel angewiesen.
Institutionen wie die Österreichischen Nationalbibliothek verfügen aufgrund ihrer einzigartigen Sammlungsbestände über ein großes Forschungspotenzial. Ihre zu einem wesentlichen Teil historisch in der Habsburger-Monarchie verankerten Spezialsammlungen spiegeln die Geschichte von Sammlungen und Wissenschaftszweigen (wie etwa die Papyrussammlung oder die Kartensammlung mit historischen Karten und Globen), und sie erlauben Fragestellungen, die sehr viele der aktuellen Themen in den Kulturwissenschaften berühren: Nationale Identitäten, Migration, Wissenstransfer über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg, Sprachpolitik, Mediengeschichte (Bild und Text-Relationen), Archiv- und Wissenschaftsgeschichte, aber auch werkgenetische Untersuchungen literarischer und musikalischer Werke. Das in historischer und typologischer Hinsicht außerordentlich vielfältige Quellenmaterial bietet außerdem Forschungsperspektiven in Hinblick auf die Bibliotheks- und Provenienzgeschichte.
Im Zentrum steht dabei die wissenschaftliche Erschließung der vielfältigen, größtenteils unikalen Bestände in den acht Spezialsammlungen des Hauses. In ihrer Arbeitspraxis lässt sich die bibliothekarische und archivarische Erfassung der Bestände von einer wissenschaftlichen Bearbeitung nicht trennen, wie etwa bei der Erschließung von antiken Papyri, Handschriften und Nachlässen, von Partituren oder historischen Bilddokumenten. Weitere Forschungsschwerpunkte bilden die digitale Bibliothek, wo sich die Österreichischen Nationalbibliothek seit vielen Jahren erfolgreich im Rahmen von EU-Projekten und auch nationalen Projekten engagiert, außerdem der Bereich Frauen/Gender, in dem mit „Ariadne“ eine sehr aktive wissenschaftliche Dokumentations- und Forschungsstelle geschaffen wurde.
Bildarchiv und Grafiksammlung
Zwei vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Forschungsprojekte („Die Privatbiblithek Kaiser Franz' I. von Österreich‘ und ‚Die Habsburg-Lothringische Familien-Fideikommissbibliothek“) widmeten sich in den Jahren 2010 bis 2018 einer umfassenden wissenschaftlichen Rekonstruktion der Geschichte der Habsburg-Lothringischen Familien-Fideikommissbibliothek. Diese Sammlung stellt den historischen Kernbestand der Abteilung dar, ihre Erforschung ermöglichte zugleich die Aufarbeitung eines bedeutenden Teilbestandes der Österreichischen Nationalbibliothek. Die beiden Forschungsprojekte mit jeweils vierjähriger Laufzeit teilten sich in die beiden Hauptabschnitte: die Geschichte der Privatbibliothek Kaiser Franz' II./I. 1785–1835 und jene der Habsburg-Lothringischen Familien-Fideikommissbibliothek von 1835 bis 1918. Ein 2019 gestartetes Folgeprojekt thematisiert den anschließenden Zeitabschnitt nach 1918 mit der Umwandlung der Hofbibliothek in die Nationalbibliothek der Ersten Republik.
Abb.1: Porträt von Kaiser Franz I. mit Buch
Hervorgegangen ist die Fideikommissbibliothek aus der Privatbibliothek Kaiser Franz' II./I. (1768–1835), der bereits als Erzherzog im Jahr 1785 begann, Bücher und Grafiken zu sammeln. Diese Leidenschaft setzte sich während seines ganzen Lebens kontinuierlich fort und schuf eine der größten privaten Sammlungen des 19. Jahrhunderts. Sie umfasste neben gedruckten Büchern auch Handschriften, Inkunabeln (Frühdrucke), Landkarten, Münzen, Handzeichnungen und Druckgrafiken, darunter eine der umfangreichsten und bedeutendsten Sammlungen an Porträtgrafiken. Kurz vor seinem Tode am 2. März 1835 erklärte der Kaiser seine Bibliothek zu einem Fideikommiss, d.h. einem unveräußerlichen und unteilbaren Erbe der Herrscherdynastie, das jeweils von seinem ältesten lebenden männlichen Nachkommen verwaltet werden sollte. 1878 gelangte die Fideikommissbibliothek schließlich in den Besitz Kaiser Franz Josephs, unter dem sie sich zur Habsburg-lothringischen Familiensammlung entwickelte. Sie vereinigte nicht allein die Privatbibliotheken der Kaiser Franz II./I., Ferdinand I. und Franz Joseph, sondern erhielt durch Erbschaft, Ankauf und Schenkung auch Bestände aus dem Besitz zahlreicher weiterer Mitglieder des Herrscherhauses, u. a. die persönliche Büchersammlung des Kronprinzen Rudolf. Damit war die Fideikommissbibliothek zugleich eine der bedeutendsten Sammlungen an Habsburgica und an Werken zur Österreichisch-ungarischen Monarchie, vermehrt auch durch den Umstand, dass den Kaisern zahlreiche Werke von Autoren, Verlegern und Künstlern „zu Füßen gelegt“ wurden und anschließend in die Bibliothek gelangten. Der Untergang der Monarchie gegen Ende des Ersten Weltkrieges bedeutete auch für die Fideikommissbibliothek eine Zäsur: Sie wurde 1919 auf der Grundlage des Habsburgergesetzes verstaatlicht und 1921 der Nationalbibliothek angegliedert. Dort blieb sie jedoch als eigenständige historische Sammlung in Umfang und auch ihrer Aufstellung weitgehend bis heute erhalten.
Abb. 2: Franz-Saal der Fideikommissbibliothek
Die Basis für die Rekonstruktion bildete das Archiv der Fideikommissbibliothek, das für den Zeitraum von seiner Entstehung um 1810 bis 1919 vollständig durchgesehen, katalogisiert und ausgewertet wurde. Daneben wurden weitere Bestände der Sammlung (v. a. die historischen Kataloge) und umfangreiche Quellen aus nationalen und internationalen Archiven ausgewertet (Österreichisches Staatsarchiv, Wien; Archivo di Stato, Florenz; Státní ústřední Archiv, Prag). Synergieeffekte ergaben sich mit einem gleichzeitig laufenden Projekt zur Katalogisierung der Büchersammlung, da durch die beiden Forschungsprojekte die Provenienz des Großteils der Bestände geklärt werden konnte. War die Fideikommissbibliothek noch vor fünfzehn Jahren in der Öffentlichkeit kaum bekannt und genutzt, so kann sie nun als eine der am besten erforschten und erschlossenen historischen Sammlungen der Österreichischen Nationalbibliothek gelten.
Über den ganzen Zeitraum vom Vorabend der Französischen Revolution bis zum Ende des Ersten Weltkriegs hinweg ließ sich die zunehmende Institutionalisierung der Bibliothek verfolgen: von der vom Kaiser persönlich verwalteten Handbibliothek zu einer Sammlung mit eigenem Personal, Budget und Räumlichkeiten, die schließlich ihren fixen Platz in der Ämterhierarchie der habsburgischen Hofverwaltung finden sollte. Zwei Phänomene, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts damit einhergehen, wurden im Rahmen des zweiten Projektes detailliert untersucht: einerseits die zunehmende Nutzung der Bestände der Fideikommissbibliothek für öffentliche Zwecke, etwa für Recherche- und Forschungstätigkeiten oder für Ausstellungen. Andererseits wurde die Identität und Funktion der Bibliothek, die sich von ihrem ursprünglichen Charakter einer fürstlichen Privatsammlung immer mehr entfremdete, dadurch definiert, dass sie eine Art Erinnerungsraum des Hauses Habsburg darstellen sollte – eine Auffassung, die in Plänen zur Errichtung eines Habsburgermuseums gipfelte. Der Weg zur Musealisierung und Verklärung der Dynastie, die sich erst in der Zwischenkriegszeit voll entfalten sollten, war damit bereits beschritten.
Das Schicksal der Fideikommissbibliothek nach 1918 wird als Teilaspekt in einem weiteren vom FWF finanzierten Forschungsprojekt behandelt, das seit Mai 2019 durchgeführt wird („Imperiales Erbe und nationale Identität“). Dieses Forschungsvorhaben widmet sich der Transformation der Hofbibliothek des Habsburgerreiches in die Nationalbibliothek der Republik Österreich. Wichtige Themenschwerpunkte bilden dabei die Verteidigung des kulturellen Erbes der Monarchie gegen Ansprüche der aus ihr hervorgegangenen Nachfolgestaaten, die fundamentale Neu-Organisation der Hof- bzw. Nationalbibliothek im Rahmen des staatlichen Bibliotheks- und Bildungswesens der jungen Republik und die ideelle Bedeutung und praktische Funktion, die ihr unter den geänderten politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen zukamen. Durch ihre Eingliederung in die Nationalbibliothek (1921) und die Zusammenlegung von Teilbeständen im Rahmen der Bildung von Schwerpunktsammlungen wirkte sich dieser Erneuerungsprozess auch auf die Fideikommissbibliothek aus.
Abgesehen von rund zwanzig Aufsätzen wurden die Resultate der beiden bereits abgeschlossenen Forschungsprojekte umfassend in zwei Bänden der Reihe Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs publiziert:
Literaturarchiv
Das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek sammelt seit seiner Gründung (1996) literarische Vorlässe und Nachlässe österreichischer SchriftstellerInnen mit dem Schwerpunkt auf dem 20. und 21. Jahrhundert. Die archivalische Erfassung, die Bereitstellung für das Publikum und die wissenschaftliche Erschließung dieser Bestände bis hin zu analogen wie digitalen Editionen sind zentrale Aufgaben der Sammlung. Langfristige Editionsprojekte in Kooperation mit verwandten Institutionen und verschiedenen HerausgeberInnen betreffen aktuell Werke und Briefe von Albert Drach, Elfriede Gerstl, Ödön von Horváth, Peter Handke, Andreas Okopenko, sowie - in Zusammenarbeit mit dem Musil Institut Klagenfurt bzw. der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt - die digitale Edition des Musil-Nachlasses.
Nachfolgend ein Überblick (in Auswahl) über laufende bzw. kürzlich abgeschlossene Forschungs- und Editionsprojekte des Literaturarchivs.
Andreas Okopenko: Tagebücher aus dem Nachlass (Finanzierung: FWF, 2015-2018)
Andreas Okopenko (1930-2010) gehört mit seinem Werk und als Figur im literarischen Betrieb Österreichs nach 1945 zu den zu Unrecht unterschätzten Autoren, wie auch ein Blick in seinen Nachlass am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek zeigt. Er setzte mit Romanen wie Lexikon Roman (1970) oder Kindernazi (1984) innovative literarische Wegmarken und spielte als erst 21-jähriger Herausgeber der Literaturzeitschrift publikationen einer wiener gruppe junger autoren (1951-1953), in der auch H.C. Artmann, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker publizierten, eine wichtige Rolle. Okopenko ist ein in formaler Hinsicht höchst bewusster Autor, verfolgte aber gleichzeitig sozialkritische und politische Ansprüche und ist keiner bestimmten literarischen Strömung zuzuordnen.
Diese sich gängigen literarhistorischen Einordnungen entziehende, höchst originelle Position wurde durch eine kommentierte Edition der bisher unveröffentlichten frühen Tagebücher aus den Jahren 1949 bis 1954 – sowohl in Buchform als auch digital – einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Im Zentrum stehen die umfangreichen Tagebuchaufzeichnungen, die Okopenko zeit seines Lebens akribisch führte, und die Vorstufen zu zahlreichen seiner Werke sowie zugleich eine Vielzahl an Kommentaren zum österreichischen Literaturbetrieb und zur Zeitgeschichte enthalten. Die Tagebücher beleuchten den Literaturbetrieb der Nachkriegszeit und dokumentieren die zwiespältige Situation eines jungen Schriftstellers zwischen Studium, Brotberuf und literarischen Ambitionen. Die innenpolitischen Spannungen und die Angst vor einem dritten Weltkrieg werden nicht nur reflektiert, sondern durch Zeitungsartikel, ausgeschnittene Schlagzeilen und andere Materialien anschaulich.
Die technische Realisierung der digitalen Tagebuchedition erfolgte nach den Standards der Text Encoding Initiative (TEI): Sämtliche relevanten Dokumente wurden transkribiert, nach einem bestimmten Schema codiert und digital verwertbar gemacht. Somit konnte das Material zuverlässig erfasst, über das Projektportal in unterschiedlichen Ansichten (Faksimiles, diplomatische Transkriptionen, Quellcode) dargestellt und laufend durch zusätzliche Verlinkungen angereichert werden. In einem weiteren Schritt wurden die Digitalisate und die codierten Transkriptionen mit einem genetisch-kritischen Apparat und einem Kommentar versehen.
Die Ergebnisse des Kooperationsprojektes zwischen dem Literaturarchiv und dem Institut für Germanistik der Universität Wien sind unter » https://edition.onb.ac.at/okopenko/ online abrufbar. Eine Auswahledition in Druckform erscheint im Herbst 2020 im Wiener Klever-Verlag.
Abb. 3: Tagebucheintrag vom 9.9.1952, Digitale Edition der Tagebücher Okopenkos
Günther Anders: Medienästhetik und intellektuelle Netzwerke (Finanzierung: FWF, 2016-2020)
Das Projekt widmet sich der Erschließung, textkritischen Erfassung, Edition und Kontextualisierung der Schriften zur Medienästhetik sowie der Korrespondenzen aus dem Nachlass des Philosophen und Schriftstellers Günther Anders (1902–1992). Ziel ist es, diese für die Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts wichtigen Nachlassbestände für die Forschung aufzubereiten und für ein breites Publikum zugänglich zu machen.
Günther Andersʼ Nachlass enthält umfangreiche, zum überwiegenden Teil unveröffentlichte Textbestände zur Medienästhetik und zur Medien-, Radio- und Filmtheorie aus den 1920er- bis in die 1950er-Jahre. Diese Texte, Abhandlungen, Entwürfe, Rezensionen und Rundfunkmanuskripte erlauben nicht nur einen neuen Blick auf Anders’ Gesamtwerk – insbesondere auf seine viel rezipierte spätere Medientheorie aus dem ersten Band der Antiquiertheit des Menschen (1956) –, sondern stellen auch eine neue Quelle für kulturhistorische und medientheoretische Forschungsfelder dar. Die Kontextualisierung der weitgehend unbekannten Schriften wird Anders neu positionieren: als Vertreter einer frühen Filmtheorie der 1920er- und 1930er- Jahre, als Vertreter eines „aisthetischen“ Medienbegriffs, wie er gerade von aktuellen Medientheorien vielfach formuliert wird. Als transnationaler Intellektueller war Günther Anders auch Teil eines internationalen intellektuellen Netzwerkes, zu dem zahlreiche bedeutende PhilosophInnen, SchriftstellerInnen, AktivistInnen und KünstlerInnen des 20. Jahrhunderts zählten. Dieses Netzwerk der Andersʼschen Korrespondenz wird ebenfalls zugänglich gemacht, seine ideengeschichtlichen Konstellationen und Kontexte werden analysiert.
Die textkritische Erfassung von Andersʼ medienästhetischen Schriften und des intellektuellen Netzwerks der Korrespondenz erfolgt nach rezenter editionswissenschaftlicher Methodik. Dies beinhaltet die Transkription, Kommentierung und Edition der ausgewählten Text- und Briefkorpora, vorerst in Buchform im Verlag C.H.Beck. Von der Kontextualisierung der edierten Textbestände sind eine Neupositionierung und Neubewertung des Werkes von Günther Anders zu erwarten, sowie neue Impulse für aktuelle Forschungsfelder (Ästhetik, Film- und Medientheorie).
Das Projekt erfolgt in interdisziplinärer Zusammenarbeit zwischen dem Institut für Philosophie der Universität Wien und dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
Abb. 4: Günther Anders in New York, 1945 (Literaturarchiv, ÖNB)
Briefwechsel zwischen den Germanisten August Sauer und Bernhard Seuffert (Finanzierung: DFG, FWF)
Der mehr als 1200 Briefe und Karten aus den Jahren zwischen 1880 und 1926 umfassende Briefwechsel gehört zu den bedeutenden Germanistenkorrespondenzen des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Sauer und Seuffert, beide Schüler Wilhelm Scherers, zählten in Deutschland und Österreich zu den einflussreichsten Germanisten ihrer Zeit: Ihre Arbeiten leisteten einen substantiellen Beitrag zur Herausbildung und eigenständigen Profilierung der Neueren deutschen Literaturgeschichte innerhalb der Germanistik und sie dokumentieren, in welch raschem Tempo und auf welche Weise sich die österreichische Germanistik von der reichsdeutschen selbständig zu entwickeln begann.
Die Korrespondenz informiert über den wissenschaftlichen und beruflichen Werdegang Sauers und Seufferts sowie über ihr akademisches Umfeld, insbesondere an den Universitäten in Würzburg, Lemberg, Graz und Prag. Sie dokumentiert die Zukunftspläne, Forschungsvorhaben, Editionen und Publikationen der beiden Gelehrten, berichtet über die Formen ihrer Zusammenarbeit und wechselseitigen Unterstützung und ist eine ergiebige Quelle für die Herausbildung und Entwicklung philologischer Praktiken im Bereich der neueren deutschen Literaturgeschichte. Sie bietet umfangreiche, bisher unbekannte Informationen über die Gründung von Buchreihen und Zeitschriften – darunter Sauers Euphorion – sowie über den Anteil Sauers und Seufferts an Projekten der germanistischen Großforschung, etwa der Weimarer Goethe-Ausgabe, der Grillparzer-Ausgabe der Stadt Wien sowie der Wieland-Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften. An der Korrespondenz Sauers und Seufferts lassen sich zum einen die unterschiedlichen Reaktionen auf die ‚Spaltung’ der geisteswissenschaftlichen Disziplin in ‚positivistische’ und ‚geistesgeschichtliche’ ablesen; zum anderen lässt sich am Werk beider Wissenschaftler die im Zuge der schnellen Differenzierung der Germanistik notwendig gewordene Spezialisierung dokumentieren.
Die Ergebnisse des 2018 abgeschlossenen Projektes liegen seit Kurzem in Form einer umfänglich kommentierten Auswahledition (Böhlau Verlag, Wien, Köln u.a. 2019) und als Web-Plattform Briefwechsel Sauer-Seuffert (http://sauer-seuffert.onb.ac.at/) vor. Alle überlieferten Korrespondenzstücke sind dort im Volltext durchsuchbar. Die Personendatenbank ist mit weiteren digital verfügbaren Datenbanken und Quellen verknüpft; eine Zeitleiste erleichtert die schnelle Orientierung.
Abb. 5: Zeitleiste, Digitale Edition des Briefwechsels zwischen August Sauer und Bernhard Seuffert
Peter Handke: Digitale Notizbuchedition (in Planung)
Die seit Beginn der 1970er-Jahre kontinuierlich geführten Notizbücher Peter Handkes stellen einen einzigartigen Bestand dar. Derzeit sind 75 Notizbücher mit einem Gesamtumfang von ungefähr 10.900 eng beschriebenen Seiten aus dem Zeitraum von 1971 bis 1990, samt den korrespondierenden Fassungen literarischer Werke und Begleitmaterialien wie Fotos, Korrespondenzen, Sammelstücke, im Deutschen Literaturarchiv in Marbach (DLA) und im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (ÖNB) zugänglich. Ihr zwischen Werknotiz, Aufzeichnung, Reisejournal, Lektürekommentar und Tagebuch changierender Charakter macht sie zum Quellenmaterial für eine Reihe von poetologischen und thematischen Fragestellungen; ihr intermedialer Charakter (Text-Bild-Relationen) macht sie zu eigenständigen Kunstwerken. Dieses Projekt ergänzt die bereits vorliegende umfassende digitale Werkchronik zu Peter Handke, das Portal Handke-Online (» http://handkeonline.onb.ac.at/).
Das geplante Projekt unternimmt philologische Grundlagenforschung. Ziel ist die Erarbeitung einer kommentierten digitalen Edition der Notizbücher durch die Projektpartner ÖNB und DLA; sie beabsichtigt ForscherInnen philologisch gesicherte, einfach les- und zitierbare sowie am Original (Faksimile) überprüfbare Texte mit einer knappen, aber informativen Kommentierung und biografischen Kontextualisierung zur Verfügung (open access) zu stellen. Alle Texte sollen modernen Standards gemäß in TEI (Text Encoding Initiative) codiert und für ein Register aller erwähnten Personen, Institutionen, Zeiten und Werke auswertbar gemacht werden; die Texte sollen sich darüber hinaus gezielt durchsuchen lassen. Das Projekt möchte durch individuelle grafische Lösungen und die Adaption neuer Tools bereits erprobte Lösungen modifizieren.
Die digitale Edition erleichtert und unterstützt eine Tiefenerschließung und Interpretation von Handkes Werk. Sie generiert neue Erkenntnisse zur Poetik, zum Einfluss von Lektüren auf sein Schreiben, zur biografischen Verortung bestimmter Motive oder zur spezifischen Arbeitsweise. Die Notizbücher bis November 1979 dokumentieren etwa die Entwicklung und „Recherchen“ für das in Handkes Gesamtwerk zentrale Großprojekt „Ins tiefe Österreich“ (die Tetralogie „Langsame Heimkehr“), in welchem er eine poetische Wende zu einer „modernen Klassik“ vollzieht.
Univ. Doz. Dr. Bernhard Fetz ist Direktor des Literaturarchivs, des Literaturmuseums und der Sammlung für Plansprachen der Österreichischen Nationalbibliothek. Dr. Thomas Huber Frischeis und Dr. Rainer Valenta sind wissenschaftliche Proejktmitarbeiter im Bildarchiv und Grafiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek. Dr. Alfred Schmidt ist wissenschaftlicher Assistent in der Generaldirektion der Österreichischen Nationalbibliothek.
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