Wissenschaftliche Forschung an der Österreichischen Nationalbibliothek, Teil 2

Forschung

28.05.2020
Bestände
handschriftliches Notenblatt
 

 

Der Überblick über die aktuellen Forschungsaktivitäten der Österreichischen Nationalbibliothek wird mit Beiträgen zur Musiksammlung, der Papyrussammlung sowie der Sammlung von Handschriften und alten Drucken fortgesetzt. Ein dritter und abschließender Teil wird den Forschungsaktivitäten im Bereich digitale Bibliothek und Frauen / Gender gewidmet sein

Autoren: Andreas Fingernagel, Thomas Leibnitz, Bernhard Palme

Musiksammlung 

Die Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt –  neben vielen anderen Kostbarkeiten – die weltweit bedeutendste Sammlung an Autographen zu Anton Bruckner.
Das Projekt Digitale Musikanalyse mit den XML‐Techniken der Music Encoding Initiative (MEI) am Beispiel der Kompositionsstudien Anton Bruckners im Rahmen von go!digital (gefördert von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften) beschäftigt sich mit einer 2013 von der erworbenen Originalhandschrift Anton Bruckners: dem sogenannten „Kitzler-Studienbuch“. Es enthält Bruckners Kompositionsstudien bei dem Linzer Kapellmeister Otto Kitzler im Zeitraum 1861 bis 1863 und gibt damit wichtige Aufschlüsse über sein frühes Schaffen. Die gebundene Handschrift besteht aus 163 querformatigen Blättern in verschiedenen Größen; die chronologisch geordnet sind und Datierungen von Weihnachten 1861 bis zum 10. Juni 1863 zeigen. Die chronologische Ordnung stammt von Bruckner selbst, der den gesamten Band auch eigenhändig durchnummerierte. Enthalten sind Studien zu Schlüssen, Modulationen und verschiedenen Formtypen, der Kopfsatz einer unvollendeten Klaviersonate in g-Moll, die gesamte Partitur des frühen Streichquartetts WAB 111, das Lied „Der Trompeter an der Katzbach“, Vier Fantasien für Klavier, die Instrumentation des 1. Satzes von Beethovens Klaviersonate „Pathétique“, die Orchesterkompositionen „Marsch in d-Moll“ WAB 96, „Drei Orchesterstücke“ WAB 97, Ouvertüre in g-Moll WAB 98 und Skizzen zur Symphonie f-Moll WAB 99. Es handelt sich daher mit einiger Sicherheit um die größte Bruckner-Originalhandschrift, die noch erwerbbar war. Sie befand sich bis zum Ankauf durch die Österreichische Nationalbibliothek in Privatbesitz in München.

Im Mittelpunkt des zweijährigen Forschungsprojekts steht die Übertragung des kompletten Inhalts des Studienbuches, zuerst mit dem Notensatzprogramm Sibelius, dann nach XML-MEI (XML-Music Encoding Initiative). Auf Basis der MEI-Daten wird zum einen versucht, eine automatisierte Harmonieerkennung durchzuführen. Zweiter Schwerpunkt ist die Visualisierung von Streichungen, Varianten etc. Die Ergebnisse werden auf www.bruckner-online.at publiziert. Bei der Music encoding initiative handelt es sich um einen gemeinsamen Standard zur Codierung von Musiknotation mit wissenschaftlichem Anspruch. MEI wurde bereits bei einer Vielzahl von musikwissenschaftlichen Projekten eingesetzt.

Papyrussammlung

Seit ihrer Gründung ist die Papyrussammlung der Österreichischen Nationalbibliothek Heimstätte intensiver Forschungsarbeit, die sich einerseits um die Erschließung und Publikation ihrer enormen Bestände, andererseits um inhaltliche Auswertung der Textquellen für ein breites Spektrum an Wissensgebieten bemüht. Viele Ergebnisse dieser Forschungen wurden bereits in den hauseigenen Reihen Corpus Papyrorum Raineri (für Editionen) und Mitteilungen der Papyrussammlung Erzherzog Rainer (für inhaltliche Analysen) veröffentlicht. Kooperationen mit der Universität Wien und der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) erweitern und koordinieren die Forschungsvorhaben, so dass die Papyrussammlung als eines der aktivsten und größten papyrologischen Forschungszentren weltweit gelten kann. Eine Vielzahl der Projekte wird durch den österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF) und zuletzt auch von die US-amerikanischen Andrew Mellon Foundation gefördert.

Eine wichtige Rolle nehmen dabei die Forschungen zu den Anfängen der Papyrussammlung ein, da sie wichtige Einsichten in Herkunft und Zusammensetzung der Bestände liefern und damit Grundlage für weitere Erschließungs- und Editionsprojekte sind. Noch vor den ersten großen Papyrusfunden um 1880 und der Gründung der Papyrussammlung Erzherzog Rainers gelangten einzelne Papyri in die Hofbibliothek. Unter diesen war beispielsweise ein besonders wichtiger Text, der als „Klage der Artemisia“ bekannt wurde. Im 4. Jh. v. Chr. entstanden, handelt es sich vielleicht um den ältesten überlieferten griechischen Papyrus. Auch sein Inhalt ist einzigartig: Artemisia, eine griechisch-stämmige Einwohnerin von Memphis, ruft den Stadtgott Oserapis an, weil der Vater ihrer Tochter dieser das rechte Begräbnis verwehrte.

Mehrere laufende Projekte haben den umfangreichen griechischen Bestand von über 60.000 Papyri zum Gegenstand. Ein FWF-Projekt widmet sich den hunderten originalen Prozessprotokollen aus dem römischen Ägypten, die herausragende Zeugnisse der Rechtsprechung im Imperium Romanum darstellen. Ziel des Projektes ist es, die Rechtspraxis in einer römischen Provinz erstmals systematisch zu untersuchen und darzustellen. Die oftmals fragmentarischen Prozessprotokolle werden kritisch revidiert und im Kontext erklärt. Die Ergebnisse haben unmittelbare Relevanz für die antike Rechtsgeschichte sowie für die Kenntnis und Bewertung der römischen Herrschaft, insbesondere der Kontakte zwischen Amtsträgern und indigener Bevölkerung.
Ein weiteres FWF-Projekt zum römischen Ägypten setzt sich mit dem Archiv des Strategen Apollonios auseinander. Erstmals sollen in einer Gesamtedition die etwa 230 in griechischer Sprache abgefassten Papyri vorgelegt werden, die das umfangreichste Dossier darstellen, das aus den ersten beiden Jahrhunderten n. Chr. überliefert ist. Apollonios entstammte der städtischen Elite von Hermupolis in Mittelägypten und amtierte zwischen ca. 113 und 120 n. Chr. als Verwaltungschef des oberägyptischen Bezirkes Apollonopolites Heptakomias. Seine Schriftstücke sind von eminenter Bedeutung für die Geschichte Ägyptens in der römischen Kaiserzeit, zumal einige Briefe Licht auf den Aufstand der jüdischen Diaspora (115–117 n. Chr.) und dessen Auswirkungen auf die Bevölkerung werfen.

Ein Schwerpunkt der griechischen Sammlungsbestände liegt auf den Texten der byzantinischen und früharabischen Zeit (4.–7. Jh. n. Chr.). Einem besonders interessanten Genre widmet sich ein FWF-Projekt zu den Geschäftsbriefen aus dem byzantinischen Ägypten. Jeder dieser Briefe ist ein einzigartiges, authentisches Dokument der antiken Briefkultur und Lebenswelt. Das Projekt hat sich vorgenommen, gut zwei Dutzend unpublizierte griechische Briefe zu edieren. Diese Editionen sollen Aus¬gangs¬punkt für eine generelle Untersuchung zu Sprache und Briefformular der byzantinischen Papyrusbriefe sein.

Neben den griechischen Texten beherbergt die Papyrussammlung auch mehr als 20.000 Texte in Koptisch, der spätantiken Ausprägung der ägyptischen Sprache. Gegenstand des FWF-Projekts Documentary Fayumic Papyri in Vienna sind rund hundert dokumentarische Papyri, die zwischen ca. 400 und 800 n. Chr. im Fajum geschrieben wurden. Ein Großteil dieser Alltagstexte im faijumischen Dialekt wurde als Abschriften in einer Edition aus dem Jahre 1895 (Corpus Papyrorum Raineri II) publiziert und teilweise in einem weiteren Band aus dem Jahre 1958 (Corpus Papyrorum Raineri IV) nochmals abgedruckt, die jedoch nicht mehr den heutigen Standards entsprechen. Um diese für die Wissenschaft fruchtbar zu machen, wird eine moderne Edition mit Übersetzung und ausführlichem Kommentar zu linguistischen und historischen Fragen erarbeitet. 

Vor etwa 15 Jahren gelang ein sensationeller Fund in den unpublizierten Beständen der Papyrussammlung: Mehrere hundert Papyri wurden als zusammenhängende Gruppe von amtlichen Schreiben erkannt, die aus der offiziellen Korrespondenz zwischen byzantinischen Verwaltungsbeamten und arabischer Militärkommandantur stammen. Herausragendes Interesse dürfen diese Dokumente, deren zentrale Person ein hoher Amtsträger namens Senuthios ist, vor allem wegen ihrer Datierung beanspruchen: Die meisten Schriftstücke stammen aus dem Jahre 643, kaum zwei Jahre nach der arabischen Eroberung Ägyptens. In ihnen manifestiert sich, wie sich die arabischen Eroberer in der ehemaligen byzantinischen Provinz etablierten und die Interaktion zwischen den Militärs und der einheimischen Zivilbevölkerung gestaltete. Das FWF-Projekt Zwischen zwei Welten widmet sich der Edition griechische Papyri dieses Dossiers aus dem früharabischen Ägypten.

Der plötzliche Aufstieg der Araber zur führenden Macht des östlichen Mittelmeerraumes im 7.–8. Jh. n. Chr. war in Schlüsselereignis der Weltgeschichte. Die arabische Historiographie berichtet zwar ausführlich darüber, ist jedoch Jahrhunderte nach den Ereignissen entstanden und projiziert spätere Verhältnisse auf die Zeit der Expansion. Zeitgenössischen Dokumenten kommt deshalb höchste Bedeutung zu. Die Papyrussammlung beherbergt mit ca. 80.000 Schriftstücken die weltweit größte Sammlung arabischer Papyri, Pergamente und Papiere aus Ägypten, von denen viele aus den ersten Jahrhunderten der Herrschaft der Araber über das Land am Nil stammen. Die literarischen und dokumentarischen Texte enthalten vielfältige Informationen über den Alltag, das intellektuelle und religiöse Leben in der Frühzeit des Kalifats.

Die unveröffentlichten Texte der früharabischen Zeit sind Gegenstand des großen Forschungsprojektes Papyri of the Early Arab Period Online, das seit 2013 von der US-amerikanischen Andrew W. Mellon Foundation finanziert wird. Ziel ist es, 15.000 relevante Dokumente auszuwählen, zu digitalisiert, katalogisieren und online zugänglich zu machen. Der Focus liegt auf arabischen, griechischen und koptischen Texten aus der formativen Periode des Reiches unter den Omayyaden und Abbasiden (7.–10. Jh.). Zugleich werden damit jene historischen Prozesse erhellt, welche in langsamer, aber nachhaltiger Veränderung das christlich-byzantinische Ägypten schrittweise zum arabisch-islamischen Ägypten transformierten. Paradigmatisch wird dabei die Entwicklung eines integrativen Kernlandes des arabischen Reiches illustriert, wo dank der Papyri sowohl das Wirtschafts- und Rechtsleben als auch die mittleren und unteren Ebenen des staatlichen Apparates in einem Umfang dokumentiert sind, der für keinen anderen Teil des früharabischen Reiches vorliegt. Das Projekt ist mittlerweile in seiner vierte Förderperiode, deren Schwerpunkt auf der Erschließung von mehrsprachigen Dokumenten liegt.

Aus dem spätantiken Ägypten sind dank der klimatischen Bedingungen auch zahlreiche Textilien erhalten geblieben, welche wichtige Aufschlüsse über die verwendeten Materialien und Farben sowie die Produktionsmethoden und den Handel geben. Aus demselben Zeitraum (ca. 300–800 n. Chr.) und geographischen Kontext überliefern uns Papyri eine Fülle von Schriftstücken aus dem  Alltag, die mit differenzierter Terminologie über die Produktion von Gewändern und Gebrauchstextilien, ihre Machart und ihr Design sprechen. Diese einzigartige Überlieferung bietet ideale Voraussetzungen für eine interdisziplinäre Untersuchung zu den spätantiken Textilien. 
Nachdem die antiken Textilien der Papyrussammlung im Rahmen eines forMuse-Projektes des BMWF aufgearbeitet worden sind, hat sich das FWF-Projekt Texte und Textilien im spätantiken Ägypten eine Auswertung der papyrologischen Evidenz zur spätantiken Textilproduktion und eine systematische Konfrontation dieser Nachrichten mit den Befunden der originalen Textilien zum Ziel gesetzt. Damit ist ein Brückenschlag zwischen der text-orientierten Papyrologie und der material-orientierten Textilkunde erfolgt, welcher die unterschiedlichen Zugänge und Methoden bei der Erforschung dieses wichtigen Aspektes der materiellen Kultur verbindet. 

Auf diesen Ergebnissen setzt das vom FWF geförderte Top Citizen Science-Projekt Ancient Textiles – Modern Hands auf, das die Erkenntnisse der historischen Textilforschung einer interessierten Öffentlichkeit nahebringen und zugleich die wertvolle praktische Expertise von professionellen und privaten Webern sowie Textilkünstlern für die Erforschung antiker Textilien fruchtbar machen möchte. Über ein online-Forum werden Textilkünstler aus aller Welt eingeladen, sich mit antiken Webmustern und Techniken kreativ auseinanderzusetzen. Die zu hunderten eingelangten, faszinierenden Werkstücke wurden in einer Wanderausstellung bereits in mehreren europäischen Städten gezeigt. 

Sammlung von Handschriften und alten Drucken

Die Forschungsschwerpunkte der Sammlung für das Jahr 2020 liegen im Bereich der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Handschriften und Drucke, deren wissenschaftliche Aufarbeitung jeweils in Kooperation mit in- und ausländischen Forschungseinrichtungen durchgeführt wird. Im Mittelpunkt steht die Erschließung der kostbaren Handschriften aus dem Besitz des ungarischen Königs Matthias Covinus (1443–15490), die in der Österreichischen Nationalbibliothek verwahrt werden. Die Forschungsergebnisse werden in einem Symposium vorgestellt.

Eine Fortsetzung findet das in Zusammenarbeit mit der ÖAW laufende Projekt zur Erschließung der illuminierten, d.h. mit aufwändigem Buchschmuck, versehenen Handschriften, für die ein weiterer Band der spätmittelalterlichen Codices und Inkunabeln aus Böhmen, Mähren und Schlesien fertiggestellt werden konnte.

Einem anderen Kernbestand der Sammlung widmet sich das Forschungsprojekt zu den Handschriften des Augerius Busbeck (1522–1592), dem die Bibliothek die Erwerbung von bedeutenden griechischen Handschriften verdankt. Aus dem Bereich der neuzeitlichen Handschriften und Nachlässe ist das Forschungsprojekt zu Ludwig Wittgenstein (1889–1951) hervorzuheben, das durch wichtige Neuerwerbungen weitere Materialien berücksichtigen kann. Aus dem Bereich der historischen Drucke ist das Erschließungsprojekt zu den Erzeugnissen des Johannes Winterburger (gest. 1519) hervorzuheben, der als Wiener Erstdrucker für die Stadtgeschichte von großer Bedeutung erlangt hat.

Theologische Sammelhandschrift aus der Bibliothek des Matthias Corvinus; Cod. 930, Florenz 1488

Über die Autoren: Dr. Andreas Fingernagel ist Direktor der Sammlung von Handschriften und alten Drucken der Österreichischen Nationalbibliothek, Dr. Thomas Leibnitz Direktor der Musiksammlung der Österreichischen Nationalbibliothek und Univ.-Prof. Dr. Bernhard Palme ist Direktor der Papyrussammlung und des Papyrusmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek sowie Professor für Alte Geschichte und Papyrologie an der Universität Wien.

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