Zeit für Celan. Paul Celan zum 100. Geburtstag

Forschung

17.11.2020
Literatur
Portrait Paul Celan
Autorin: Susanne Zimmer

„Es ist Zeit.“

Mit dieser knappen Zeile endet ein Gedicht des Lyrikers Paul Celan, das 1948, im Jahr seiner Bekanntschaft mit Ingeborg Bachmann während der gemeinsamen Zeit in Wien entstanden ist und auch angesichts dieses Hintergrunds als Liebesgedicht verstanden wird; es ist das Gedicht, das im poetischen Dialog zwischen beiden eine besondere Rolle einnimmt und an welches Bachmann in ihren berühmtesten Arbeiten anknüpft; und es ist ein Gedicht, dessen Titel im Jahr 2020, in dem man Celans Geburtstag zum 100. und seines Todestags zum 50. Mal gedenkt, gänzlich andere Vorstellungen und Emotionen auslöst als im Jahr der Gedichtveröffentlichung. Das Gedicht heißt Corona.


Abb.1: Portrait Paul Celan © Wolfgang Oschatz/Suhrkamp Verlag

Zwischen Brautkranz und Pandemie: Celans Corona

Als Corona, das Virus, im Frühjahr 2020 die Medienlandschaft beherrschte und die Theater versperrte, wählte die Schauspielerin Caroline Peters im Rahmen der Initiative #MyHomeIsmyBurgtheater ausgerechnet Corona, das Gedicht, für ihre virtuelle Lesung und rückte dieses Wort für einen Moment von der Seuchen-Assoziation weg. Des kranzförmigen Aussehens wegen, aufgrund dessen man den in den 1960er-Jahren erstmals beschriebenen Coronaviren ihren Namen gab, wählte Celan als Gedichttitel das aus dem Lateinischen stammende Wort für Kranz oder Krone. (Siehe Duden Fremdwörter) Der Begriff knüpft an frühere Gedichte an, an den einen Totenkranz symbolisierenden Kranz „aus schwärzlichem Laub" (das Gedicht Ein Lied in der Wüste eröffnet den Gedichtband Mohn und Gedächtnis; Celan 2018: 33) oder an die „Schwarze Krone" (Celan 2018: 28), die Leid und Folter bedeutende Dornenkrone. (Vgl. Wiedemann 2002: 32) In Corona wird er als Brautkranz für die Geliebte verstanden. (Vgl. Corona, Celan und die Bachmann, Wiener Zeitung) Und schließlich gibt es noch den Hinweis auf das Sternbild namens Corona. (Vgl. Als Corona noch ein Himmelszeichen war, Die Welt. Der dem Sternbild zugrundeliegende antike Mythos wird hier in Verbindung mit der Beziehung zu Bachmann gebracht.)

Corona, der Kranz, bildet eine Erscheinung ab, die weder Anfang noch Ende hat; um den endlosen Kreis der Zeit, den fortlaufenden Kreislauf und um die einmalige Erfahrung der Liebenden zwischen Augenblick und Ewigkeit geht es auch in diesem Gedicht. (Vgl. Böttiger 2019: 57) Der Gedichtband, in dem Corona erstmals erschienen ist und der aufgrund zahlreicher sinnentstellender Druckfehler und zweier von Celan als unpassend befundener surrealistischer Illustrationen des Maler Edgar Jené sofort wieder zurückgezogen und eingestampft wurde, spiegelt schon im Titel Der Sand aus den Urnen den Verweis auf Zeit und Vergänglichkeit. In den 1952 erschienenen Band Mohn und Gedächtnis gingen die meisten Gedichte aus dem zurückgezogenen Band ein, darunter Corona, dessen Vers „wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis" namensgebend war. Auch diesem gegensätzlichen Begriffspaar ist die Zeit-Metaphorik eingeschrieben, zwei Pole stehen einander gegenüber und ziehen sich an, das rauschhafte, traumhafte Vergessen und die Realität und Erinnerung. Ingeborg Bachmann antwortete Celan, indem sie seine Verse „wir sagen uns Dunkles“ und „es ist Zeit, daß man weiß“ zum Vers „weiß ich nur Dunkles zu sagen“ verdichtete (Bachmann 1953: 11). Sie antwortete ihm auch in einem ihrer Briefe, in dem sie schrieb, dass sie Corona für sein schönstes Gedicht hält, es sei „die vollkommene Vorwegnahme eines Augenblicks, wo alles Marmor wird und für immer ist. Aber mir hier wird es nicht >>Zeit<<."


Abb. 2: Ausschnitt aus dem Brief von Ingeborg Bachmann an Paul Celan vom 24. 06. 1949, Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Sign.: 423/B1974/128 LIT MAG. Auch nachzulesen im Briefwechsel „Herzzeit“, Badiou 2008: 11-12.


Abb. 3: Briefe Celans und Bachmanns und andere poetische Korrespondenzen sind in der Dauerausstellung des Literaturmuseums der Österreichischen Nationalbibliothek zu sehen. © ÖNB, Kapuy/ Novak/Rößl

Der 1920 in Czernowitz als Sohn deutschsprachiger jüdischer Eltern geborene Paul Antschel floh vor der zunehmenden Gefahr des Stalinismus und gelangte Ende 1947 nach Wien, wo er nur wenige Monate verbrachte, bevor er Mitte 1948 nach Paris weiterzog und dort bis zu einem Tod seinen Lebensmittelpunkt hatte. Dennoch war Wien für ihn eine entscheidende Station, hier knüpfte er Kontakte zur literarischen Szene (u.a. zum wegweisenden Publikationsorgan der jungen, engagierten Dichtergeneration, der Zeitschrift PLAN), lernte Ingeborg Bachmann kennen und schloss Freundschaften zu Milo Dor und Reinhard Federmann. Dank der Vermittlung der österreichischen DichterfreundInnen wurde Celan im Jahr 1952 zur Tagung der Gruppe 47 in Niendorf an der Ostsee eingeladen, wo er auch dem deutschen Publikum bekannt wurde.


Abb. 4: Österreichische DichterInnen in Deutschland (1952, v.l.n.r.): Reinhard Federmann, Milo Dor, Ingeborg Bachmann und Paul Celan. © Foto: Hans Müller, Hamburg

Zwischen Glanz und Goebbels: Celans Lesung in Niendorf

Die Teilnahme an dieser Tagung begründete Celans schriftstellerischen Ruhm, da der Cheflektor der Deutschen Verlags-Anstalt auf den bis dahin unbekannten Dichter aufmerksam wurde. Noch im selben Jahr brachte der Verlag den Gedichtband Mohn und Gedächtnis heraus – Celans Durchbruch als Lyriker. Die Teilnahme an dieser Tagung bedeutete für Celan aber auch das Erleiden herabwürdigender Reaktionen auf schriftstellerischer und verhöhnender Kränkungen auf persönlicher Ebene. Dass es dazu kam, vermutet Milo Dor einerseits in der Tatsache, dass Celan seine Gedichte „nicht besonders gut, ja elend vorlas“ (Dor 1988: 213) und andererseits die beiden ebenfalls debütierenden Österreicherinnen Ilse Aichinger und Ingeborg Bachmann durch das allgemeine Interesse der TagungsteilnehmerInnen eine „günstigere Startposition“ hatten. (Ebd.) Ausschlaggebend sei aber vermutlich die Eifersucht des Initiators der Gruppe 47, Hans Werner Richters, gewesen, der auch dem Charme Ingeborg Bachmanns verfallen war, „sonst hätte er über den Vortrag von Paul Celan nicht gesagt, er habe in einem Singsang vorgelesen wie in einer Synagoge. Das stimmte zwar im großen und ganzen, Paul hatte in seiner Beklemmung wirklich schlecht und beinahe singend seine Gedichte vorgelesen, aber die beiden Mädchen aus Wien hatten ihre eigenen Texte auch schüchtern und stotternd vorgetragen, ohne daß es jemandem eingefallen wäre, sie als Klosterschwestern zu bezeichnen.“ (Dor 1988: 214) Für seine pathetische Sprechmelodie wurde Celan kritisiert und belächelt, weit über Spott hinaus ging die Bemerkung: „>>Der liest ja wie Goebbels!<<, sagte einer.“ (Zit. nach: Arnold 2004: 76).

Zwischen Form und Inhalt: Celans Todesfuge

Zwei Jahre nach dieser berühmt gewordenen Tagung kam es zu einer weiteren Celan verstörenden Missachtung beziehungsweise vielmehr -deutung seiner Todesfuge. Der damals sehr bedeutende Literaturkritiker Hans Egon Holthusen schrieb eine Rezension, die das Gedicht weder verlachte noch belächelte, aber von Grund auf verkannte. Celans Werk gilt bis dato als hermetisch, verschlossen, mysteriös und hier setzte Holthusen an, wenn er meinte, dass „[i]ndem der Autor eine absolute Freiheit des Phantasierens für sich in Anspruch nimmt, […] er dem Leser eine nicht weniger absolute Freiheit des Verstehens [einräumt].“ (Holthusen 1954: 386) Wie Bilder einer abstrakten Malerei, so solle man diese Gedichte lesen, das heißt, „sich mit dem Rhythmus ihrer Linien, Farben, Massen und Flächenteile in Einklang zu setzen“. (Ebd.) Und weiter: „Wo alles Metapher geworden ist, da scheint es nicht erlaubt zu sein, den „Sinn“ des Gedichts gleichsam hinter den Metaphern zu suchen.“ (Ebd.: 387)

Der Kritiker benannte dabei zwar ganz genau das verbrecherische Thema des Gedichts, „den massenhaften Verbrennungstod der Juden in deutschen Konzentrationslagern“, befand aber, dass der Autor dieses Thema bewältigen habe können, „indem er es ganz ‚leicht‘ gemacht, es in einer träumerischen, überwirklichen, gewissermaßen schon jenseitigen Sprache zum Transzendieren gebracht hat, so daß es der blutigen Schreckenskammer der Geschichte entfliegen kann, um aufzusteigen in den Äther der reinen Poesie“. (Ebd.: 390) Dass Holthusen die historische Schreckensgeschichte zwar ansprach, zugleich aber der Meinung war, dass diese durch die Schönheit des Gedichts entrückt und erhöht wird, verursacht eine „ganz eigene Dialektik […]: das Entfliehen vor dem Erkannten. Was er benennt, entrückt er sogleich >>in den Äther der reinen Poesie<<, ein Entfliegen und Aufsteigen.“ (Sparr 2020: 143) Dieses Entfliegen und Aufsteigen, das Wegrücken von der verbrecherischen Wirklichkeit, mit dem diese Kritiker – die ihr Urteil oft als Lob begriffen – das Gedicht „in seiner Substanz entwerteten und die Autorintention verfälschten“ (Emmerich 2000: 364), dieses Verständnis ist nicht mehr weit entfernt von der Auslegung als „poésie pure“, wogegen sich Celan immer gewehrt hat. Die Gedichte als reine, das heißt auch als realitätsreine, Poesie zu begreifen, würde für den Autor eine Ausblendung des Holocaust bedeuten. Celan schrieb als überlebender Jude, der in einem rumänischen Lager Zwangsarbeit leistete und dessen Eltern im KZ getötet wurden. Seine Lebensgeschichte ist untrennbar verflochten mit den traumatischen Erlebnissen des Jahrhunderts und damit sind es auch seine Gedichte. Schreiben war für ihn Totengedächtnis, insbesondere die Todesfuge war ein Grabmal für seine Mutter, das einzige Grab, das sie hatte, wie er betonte: „dass die Todesfuge auch dies für mich ist: eine Grabschrift und ein Grab. Wer über die Todesfuge das schreibt, was dieser Blöcker darüber geschrieben hat, der schändet die Gräber. Auch meine Mutter hat nur dieses Grab.“ (Brief an Ingeborg Bachmann am 12. November 1959. Badiou 2008: 127) Der Literaturkritiker Günther Blöcker hatte anlässlich des Erscheinens von Celans drittem Gedichtband Sprachgitter 1959 Celans Verse als „vorwiegend graphische Gebilde“ bezeichnet und über die Todesfuge gesagt, dass sie trotz ihrer Musikalität und der musikalischen Termini einer rein „optischen Partitur“ gleiche, deren Klang nicht „bis zu dem Punkt entwickelt [ist], wo er sinngebende Funktionen übernehmen kann.“ (Blöcker 1959: 39) Dass die Grablosigkeit, die er im Vers „man schaufelt ein Grab in den Lüften, da liegt man nicht eng" ausdrückte, kein konstruiertes Gebilde ist, ist unmissverständlich. „Das >Grab in der Luft<[…], das ist, in diesem Gedicht, weiß Gott weder Entlehnung noch Metapher", schrieb Celan in einem Brief. (Zit. nach: Emmerich 1999: 51) Er will die historische Wahrheit eindeutig verstanden wissen, weshalb dem Erstabdruck der Todesfuge eine Erläuterung des Titels hinzugefügt wurde (ursprünglich hieß das Gedicht Todestango, ein reales Musikstück, das die Nazis in den Vernichtungslagern unmittelbar vor den Hinrichtungen in grausam verhöhnender Art und Weise haben spielen und singen lassen).

All diese Miss- und Unverständnisse, die eine „windschiefe" Rezeption (Vgl. Emmerich 2000) des Gedichts bewirkt haben, haben schließlich dazu geführt, dass Celan die Todesfuge seit den 1960er-Jahren nicht mehr öffentlich vorgetragen hat. (Vgl. Sparr 2020: 188) Nach diesem frühen Gedicht entfernte sich Celan von einer „wohlklingenden“ Sprache, der für die Todesfuge so charakteristischen Musikalität und Bildlichkeit, und seine Gedichte wurden immer hermetischer und einer „graueren Sprache“ (Celan 2000: 167) zugewandt. „Es geht mir nicht um Wohllaut, es geht mir um Wahrheit“, schrieb Celan einmal. (Zit. nach: Firges 1962: 266-267)

Trotz späterer Distanzierung gilt die Todesfuge nach wie vor als sein Markenzeichen und steht seit Beginn seines dichterischen Wegs „fast synonym" für den Autor Paul Celan. (May 2008: 49) Erstmals gedruckt wurde das Gedicht in der Bukarester Zeitschrift „Contemporanul“ am 2. Mai 1947 unter dem Titel Tangoul morţii (in der Erstveröffentlichung im Rumänischen hieß es noch Todestango). Für diese erste Publikation eigener Gedichte verwendete der Autor das Anagramm der rumänischen Schreibweise seines Nachnamens Ancel: Celan. Hieraus lässt sich auch die Betonung seines anagrammatisch verwendeten Dichternamens ableiten, die nämlich „auf der ersten Silbe zu liegen habe (wohl in Anlehnung an seinen Geburtsnamen >Ántschel< bzw. >Áncel< in rumänisierter Form), jedoch ganz intuitiv auf der zweiten gesetzt sein will". (Eskin 2020: 13). Eine andere Eselsbrücke: man betont „Célan (gesprochen wie WLAN)“ und nicht „Celán, wie man Elan sagt“ (Eskin 2020: 14).

Zwischen Dialog und einem Datum: Celans poetologischer Standpunkt

Zeitlebens war die deutsche Sprache, seine Muttersprache, für Celan auch die Sprache der Poesie. Aufgewachsen in der Hauptstadt der Bukowina, die bis 1918 zum Habsburgerreich gehörte und nach dem Ersten Weltkrieg an Rumänien fiel, sprach Celan neben Deutsch und Rumänisch auch Französisch, Russisch und Englisch und war als Übersetzer und Lektor tätig (im Laufe seines Lebens übersetzt er 43 AutorInnen aus sieben Sprachen - vgl. Emmerich 1999: 112). Eigene Gedichte schrieb er aber nur auf Deutsch und „[o]bwohl es die Sprache der Mörder seiner Mutter war, beharrte er darauf, sich ihrer zu bedienen, um Dinge zu sagen, die für deutschsprachige Menschen höchst unangenehm waren. […] Paul Celan hätte in Frankreich, wo er schließlich gelandet war, sicherlich eine respektable Karriere gemacht, hätte er sich umgestellt und in französischer Sprache zu schreiben begonnen, wie Panait Istrati oder Eugène Ionesco, die ebenfalls aus Rumänien kamen, aber mit der deutschen Sprache nicht infiziert waren wie er.“ (Dor 1988: 210)

Die bei Celan schon bald einsetzende Sprachskepsis bezog sich weniger auf die deutsche Sprache an sich als auf die Grenze des Sagbaren im Zusammenhang mit der Shoah und auf das traditionelle Dichten in Reimen. In dem frühen, durchgängig gereimten Gedicht „Nähe der Gräber“ fragt er die ermordete Mutter: „Und duldest du, Mutter, wie einst, ach, daheim / den leisen, den deutschen, den schmerzlichen Reim?“ (Celan 2018: 17). Die vor wenigen Wochen verstorbene Ruth Klüger sah in dem Gedicht den Reim in Frage gestellt, der dann in der Todesfuge „hingerichtet [wird], denn da gibt es nur einen einzigen, und der ist im wahrsten Sinne des Wortes, tödlich: „der Tod ist ein Meister aus Deutschland sein Auge ist blau / er trifft dich mit bleierner Kugel er trifft dich genau." (» Klüger 2002)

Neben dieser Formulierung enthält die Todesfuge auch einen anderen der eindrucksvollsten Verse deutschsprachiger Lyrik nach 1945, das Oxymoron der „Schwarzen Milch der Frühe“. Unter anderem um diese eindringliche poetische Metapher drehte sich die 1960 den Höhepunkt der Diffamierungen erreichende Plagiatsaffäre. Die Witwe des Lyrikers Yvan Goll beschuldigte Celan, Gedichte ihres Mannes plagiiert zu haben. Dass die Vorwürfe unberechtigt waren, konnte nicht nur schnell, sondern auch mühelos aufgrund der Editionsgeschichte aufgedeckt werden, allerdings verbreitete sich die so vehement behauptete Anschuldigung rasch und blieb hartnäckig bestehen. Celan gab immer klar zu verstehen, dass Intertextualität in seinen Gedichten eine bedeutende Rolle spielt. Überlieferte Stoffe, Zitate, Motive und Personen sind für ihn essentielles Material geistiger und dichterischer Arbeit, seine Gedichte „monologisieren [nie], [wollen] vielmehr immer ein bestimmtes oder auch nicht näher definiertes Du erreichen“ (Emmerich 1999: 14). Wie Celan in seiner Rede, die er anlässlich der Entgegennahme des Büchnerpreises 1960 hielt, ausdrückte: das Gedicht ist „einsam und unterwegs. […] Das Gedicht will zu einem Anderen, es braucht dieses Andere, es braucht ein Gegenüber. Es sucht es auf, es spricht sich ihm zu.“ (Celan 2000: 198) Für ihn war der Dialog Quelle der Inspiration und darin fand er auch meist Zustimmung seitens seiner DichterkollegInnen. Das Bild der „Schwarzen Milch“ verwendete Rose Ausländer in einem 1939 veröffentlichten Gedicht mit dem Titel Ins Leben und dass Celan dieses für die Todesfuge gebraucht hat, erscheine ihr nur „selbstverständlich, denn der Dichter darf alles an Material für die eigene Dichtung verwenden. Es gereicht mir zur Ehre, dass ein großer Dichter in meinem bescheidenen Werk eine Anregung gefunden hat. Ich habe die Metapher so nebenhin gebraucht, er jedoch hat sie zur höchsten dichterischen Aussage erhoben. Sie ist ein Teil von ihm selbst geworden." (Zit. nach: Chalfen 1979: 133)

Was Celan in der Büchnerpreisrede, die als sein poetologisches Hauptwerk gilt, neben der dialogischen Anlage von Gedichten auch erwähnte, ist die unbedingte Verbindung von historischer Präzision und seiner Poesie. Er hielt fest, dass „jedem Gedicht sein >20. Jänner< eingeschrieben bleibt“ (Celan 2000: 196) und nannte damit ein Datum, mit dem er auf politischer Ebene das Datum der Wannseekonferenz meinte, als am 20. Jänner 1942 die NS-Machthaber die Auslöschung des jüdischen Volkes strategisch vorbereiteten. Auf persönlicher Ebene ist es das Todesdatum seiner Mutter, das nie genau zu ermitteln war. Seine Gedichte streben danach, „solcher Daten eingedenk zu bleiben“. (Ebd.)

Unter Wasser: Celans selbst gewählter Tod

Ob seinem Todesdatum, dem 20. April 1970, auch ein historisches Datum mit dem Geburtstag Adolf Hitlers zugrunde liegt, bleibt Spekulation. In seiner Wohnung fand man eine Biographie Friedrich Hölderlins aufgeschlagen an einer Stelle, in der ein Satz von Clemens Brentano unterstrichen war: „Manchmal wird dieser Genius dunkel und versinkt in den bitteren Brunnen seines Herzens." (Vgl. May 2008: 296. Der Satz findet sich in Wilhelm Michels Biographie Das Leben des Friedrich Hölderlin. Bremen: Schünemann 1940: 556) Ein klarer Abschiedsbrief ist dies zwar nicht, aber im Gedanken daran, dass der Brunnen in Celans Gedichten „ein Bild für das Vergangene“ ist, das Wasser des Brunnens „dem Menschen sein eigenes Antlitz zeigt, das Gegenbild, das andere Du, das Celan so oft im Gedicht anspricht“ (Schwerin 1981: 80), liegt es nahe, dass die Traumata der Vergangenheit eine Todesursache waren. Hans Weigel zitiert in seiner Erinnerung an Paul Celan Hilde Spiel, die ihre Rede Psychologie des Exils mit dem Satz „Das Exil ist eine Krankheit" eröffnet hat. Weigel bekennt, dass er dies geleugnet habe „oder, zumindest, die Krankheit als heilbar und mich als geheilt angesehen. Aber als Paul Celan im Frühjahr 1970 ins Wasser ging, hieß die Todesursache: Exil.“ (Weigel 1979: 37)

Seine vom ihm getrennt lebende Ehefrau Gisèle Celan-Lestrange schrieb am 10. Mai 1970 an Ingeborg Bachmann: „Il a choisi la mort la plus anonyme et la plus solitaire.“ Er habe den namenlosesten und einsamsten Tod gewählt. (Badiou 2008: 197) Sein Tod beschäftigte die SchriftstellerInnen, nicht nur Ingeborg Bachmann, die, nachdem sie die Nachricht erhielt, im Roman Malina das Traumkapitel um die Prinzessin von Kagran einfügte, wo es heißt: „Mein Leben ist zu Ende, denn er ist auf dem Transport im Fluß ertrunken, er war mein Leben. Ich habe ihn mehr geliebt als mein Leben." (Bachmann 2004: 194) Auch Milan Kundera fällt in seinem Roman Das Leben ist anderswo Celans Freitod in der Seine ein, wenn er Überlegungen anstellt, warum es kein Zufall sei, auf welche Art und Weise jemand stirbt: „[D]er Tod ist schließlich eine Botschaft; der Tod spricht; der Todesakt hat seine Semantik und es ist nicht gleichgültig, auf welche Art und Weise und in welchem Element der Mensch zugrunde geht." Undenkbar, wenn Shakespeares Ophelia den Feuertod stürbe, „sie musste im Wasser enden, denn die Tiefe des Wassers entspricht der Tiefe im Menschen; Wasser ist das todbringende Element für all jene, die sich in sich selbst verloren haben, in ihrer Liebe, ihren Gefühlen, ihrem Wahnsinn, in ihren Spiegeln und in ihren Wirbeln; ins Wasser gehen die Mädchen aus den Volksliedern, deren Liebste nicht aus dem Krieg zurückkehren; ins Wasser hat sich Harriet Shelley gestürzt; in der Seine hat sich Paul Celan ertränkt." (Kundera 1974: 342-343)

Nach seinem Tod wächst der Ruhm des Lyrikers immer stärker, angesichts des heurigen Jubiläumsjahres sind wieder zahlreiche Publikationen erschienen (Die Zeit vom 16.4.2020 fasst diese zusammen), ein Celan-Jahrbuch widmet sich seit 1987 ausschließlich dem Werk des Autors, ein Archivgespräch zu Paul Celan ist im Dezember im Literaturmuseum geplant.
 


Abb. 5: Zusammenstellung von Zeitungsausschnitten und Kopien, teilweise in deutscher, teilweise in hebräischer Sprache, die die Vertraute Celans, die Schriftstellerin und Übersetzerin Ilana Shmueli bis zu ihrem Tod 2011 sammelte. Nachlass Ilana Shmueli, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Sign.: 401/S9/2-3 LIT MAG. 4.3.2.2 Zeitungsartikel [401/S9/2 bis S9/3]. Digitale Zeitungsartikel (ab 1990) zu Paul Celan können Sie via die Datenbank Wiso Wirtschaftspraxis Presse abrufen.

Mit nichts ließe sich der Kreis nun besser schließen als mit „Corona“ (Celan 2018: 45)

Corona
Aus der Hand frisst der Herbst mir sein Blatt: wir sind Freunde.
Wir schälen die Zeit aus den Nüssen und lehren sie gehn:
die Zeit kehrt zurück in die Schale.

Im Spiegel ist Sonntag,
im Traum wird geschlafen,
der Mund redet wahr.


Mein Aug steigt hinab zum Geschlecht der Geliebten:
wir sehen uns an,
wir sagen uns Dunkles,
wir lieben einander wie Mohn und Gedächtnis,
wir schlafen wie Wein in den Muscheln,
wie das Meer im Blutstrahl des Mondes.


Wir stehen umschlungen im Fenster, sie sehen uns zu von der Straße:
es ist Zeit, dass man weiß!
Es ist Zeit, dass der Stein sich zu blühen bequemt,
dass der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, dass es Zeit wird.


Es ist Zeit.
 

Es war viel Zeit, die der Biograph seiner Jugendjahre und seines Umfelds in Czernowitz, Israel Chalfen, der Lektüre von Celans Gedichten gewidmet hat. Und doch stellte er fest, dass auch nach jahrelangem Lesen „manches unverstanden und dunkel“ bleibt. Auf seine Bitte, ihm bei der Interpretation eines Gedichtes zu helfen, entgegnete Celan „sanft und melodisch: >>Lesen Sie! Immerzu nur lesen, das Verständnis kommt von selbst.<<“ (Chalfen 1979: 7)


Abb. 6: Diese Empfehlung gab Celan auch Bachmann: Ausschnitt aus einer Beilage eines Briefes von Paul Celan an Ingeborg Bachmann vermutlich vom 17. 10. 1957, Nachlass Ingeborg Bachmann, Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Sign.: 423/14 LIT MAG.

Zum Thema aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek

Primärliteratur:

Celan, Paul (Hg. v. Barbara Wiedemann 2018): Die Gedichte. Neue kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Berlin: Suhrkamp. Sign.: 2129771-B NEU MAG

Celan, Paul (Hg. v. Beda Allemann und Stefan Reichert 2000): Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band. Gedichte III. Prosa. Reden. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sign.: 1646345-B.3 NEU MAG

Sekundärliteratur:

Arnold, Heinz Ludwig (2004): Die Gruppe 47. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. Sign.: 1758373-B NEU MAG

Bachmann, Ingeborg (1953): Die gestundete Zeit: Gedichte. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlags-Anstalt. Sign.: 869524-A.12 NEU PER

Bachmann, Ingeborg (1971, Ausgabe von 2004): Malina. Roman. [Text und Kommentar] Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sign.: 1763621-B NEU MAG

Badiou, Bertrand u.a. (2008): Herzzeit: Ingeborg Bachmann - Paul Celan, der Briefwechsel; mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch, sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sign.: 1884554-B NEU MAG

Blöcker, Günther (1959): Gedichte als graphische Gebilde. Rezension im Berliner Tagespiegel am 11. Oktober 1959. Sign.: 827505-F.1959 NEU PER

Böttiger, Helmut (2019): Wir sagen uns Dunkles: die Liebesgeschichte zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan. München: Pantheon. Sign.: 2157926-B NEU MAG

Chalfen, Israel (1979): Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt/Main: Insel Verlag. Sign.: 1159462-B NEU MAG

Dor, Milo (1988): Auf dem falschen Dampfer: Fragmente einer Autobiographie. Wien [u.a.]: Zsolnay. Sign.: 1283764-B NEU MAG

Emmerich, Wolfgang (1999): Paul Celan. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt. Sign.: 1612347-B NEU MAG

Emmerich, Wolfgang (2000): Paul Celans Weg vom „schönen Gedicht“ zur „graueren Sprache“. Die windschiefe Rezeption der „Todesfuge“ und ihre Folgen. In: Hahn, Hans Henning Hahn und Jens Stüben (Hg.):Jüdische Autoren Ostmitteleuropas im 20. Jahrhundert. Frankfurt/Main u.a.: Lang, S. 359-383. Sign.: 1606852- B NEU MAG

Eskin, Michael u.a. (2020): "Schwerer werden. Leichter sein": Gespräche um Paul Celan. Göttingen: Wallstein Verlag. Sign.: 2162874-B NEU MAG

Firges, Jean (1962): Sprache und Sein in der Dichtung Paul Celans. In: Muttersprache 72 (1962), Heft 9, S.261-269. Sign.: 540324-B.72.1962 NEU PER

Holthusen, Hans Egon: Fünf junge Lyriker. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken. VIII. Jahrgang 1954, S. 284-294 und fortgesetzt auf S. 378-390. Sign.: 779879-B.8.1954 NEU PER

Kilcher, Andreas (Hg. 2012): Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur: jüdische Autorinnen und Autoren deutscher Sprache von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Stuttgart [u.a.]: Metzler. Sign.: 2014181-B NEU L (Lesesaalsystematik: GER38-21)

Klüger, Ruth (2002): Tabu für Gedichte? Zu Paul Celans "Todesfuge". In: Der Standard vom 14.9.2002

Kundera, Milan (1974): Das Leben ist anderswo. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sign.: 1116910-B NEU MAG

May, Markus u.a. (Hg. 2008): Celan-Handbuch: Leben - Werk - Wirkung. Stuttgart [u.a.]: Metzler. Sign. 1871988-C NEU MAG

Schwerin, Christoph (1981): Bitterer Brunnen des Herzens. Erinnerungen an Paul Celan. In: Der Monat. Sign.: 794557-C.33.1981 NEU PER, S. 73-81

Sparr, Thomas (2020): Todesfuge. Biographie eines Gedichts. München: Deutsche Verlags-Anstalt. Sign.: 2162937-B NEU MAG

Wiedemann, Barbara (2002): Corona. In: Speier, Hans-Michael (Hg.): Gedichte von Paul Celan. Stuttgart: Philipp Reclam jun., S. 28-41. Sign.: 410411-A.17518 NEU PER

Digitale Inhalte:

Datenbankinhalte:

Veranstaltung:

Archivgespräch zu Paul Celan am 7.12.2020 im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek

Über die Autorin: Susanne Zimmer ist Mitarbeiterin der Abteilung Bereitstellungsservices und Magazine in der Hauptabteilung Benützung und Information

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