Vor hundert Jahren wurde Hilde Kuhn, die erste weibliche Restauratorin an der Österreichischen Nationalbibliothek, geboren. Das Institut für Restaurierung würdigt die engagierte Pionierin mit diesem Beitrag und zeigt Einblicke in ihr Leben und ihre Arbeit.
Autor*innen: Theresia Burkheiser und Christa Hofmann
Hilde Kuhn wurde am 11. Oktober 1922 als Tochter des Metalldrehers Richard Kuhn und Albine Kuhn (geb. Grünzweig) geboren. Sie war das sechste von neun Kindern. Aufgewachsen im achten Bezirk in Wien schloss sie ihre Schulausbildung 1940 mit der Reifeprüfung ab und wurde im Anschluss als Schreibkraft bei der Reichsbahn dienstverpflichtet. Durch falsche Anschuldigungen geriet sie als Mitglied einer katholischen Jugendgruppe mit Ende 1943 in Schutz- und Untersuchungshaft und wurde in weiterer Folge wegen Hochverrats angeklagt. Im Zuge der Wirrnisse eines Fliegeralarms gelang ihr im April 1945 die Flucht.1
Bereits im selben Jahr fand sie eine Anstellung als Schreibkraft an der Österreichischen Nationalbibliothek.2 Auch wenn bereits in den ersten Wochen und Monaten nach Kriegsende viele der 1938 entlassenen Bibliotheksangehörigen wieder zum Dienst erschienen waren, gestaltete sich der Neubeginn der Nationalbibliothek in personeller Hinsicht als schwierig. So hatte die Restaurierungswerkstätte für Handschriften ihre Tätigkeit mit Kriegsende eingestellt.3 Die kleine Werkstätte war ab 1914 federführend von Alois Liska aufgebaut und nach dessen Ausscheiden 1939 durch Johann Spiegel weitergeführt worden.4 Seit Kriegsende galt Spiegel jedoch als verschollen.5
Nach Abschluss der Fachprüfung zum mittleren Dienst im Mai 1947 sollte Kuhn auf Initiative von Generaldirektor Josef Bick laut Personalakt vom 14.06.1947 als Restauratorin ausgebildet und mit dem Aufbau einer Restaurierwerkstätte betraut werden, nachdem sie bereits reges Interesse an der Pflege und Erhaltung von Bucheinbänden gezeigt hatte.6 Zu diesem Zweck besuchte sie 1947/1948 die Fachklasse für Buchbinder*innen an der Berufsschule für das Graphische Gewerbe, sowie einen Sommerlehrgang der Buchbinderwerkstatt der graphischen Lehr- und Versuchsanstalt. Da zu diesem Zeitpunkt keine Fachschule in Österreich die nötige Qualifikation anbot, erachtetet Generaldirektor Josef Bick eine Ausbildung im Ausland als unbedingt notwendig.7 Bick wollte eine neue Restaurierungsabteilung aufbauen, um die beständige Pflege sowie die fachgerechte Konservierung und Restaurierung der reichen Sammlungsbestände zu ermöglichen.8 Er dachte dabei an ein deutlich größeres Institut, das mehrere Restauratoren beschäftigen sollte.9 Hier war Kuhns zukünftige Position grundlegend; so schrieb Bick: „Besitzt Österreich einmal einen Restaurator für Bucheinbände, dann ist auch die Möglichkeit gegeben, für diesen wichtigen, bisher leider so sehr vernachlässigten Zweig des Bibliothekswesens weitere Kräfte heranzubilden, woraus nicht allein die Österreichische Nationalbibliothek, sondern auch alle übrigen österreichischen Bibliotheken mit historischen Bucheinbänden grössten Nutzen ziehen können.“10 Bezüglich Kuhns Weiterbildung im Ausland nahm Bick mit der Restaurierungswerkstätte der Vaticana Kontakt auf, doch wurde das Ansinnen mit dem Hinweis, dass nur männliche Personen tätig sein könnten, abgelehnt. Auch Verhandlungen Bicks mit dem British Museum scheiterten mit dem Hinweis auf angebliche Geschäftsgeheimnisse. Damit waren Kuhn Weiterbildungen an den laut Bick zu dieser Zeit besten Restaurierungswerkstätten verschlossen.11 Schließlich wurde die angehende Restauratorin mit 01.03.1950 für sechs Monate an die Bibliothèque nationale de France in Paris entsandt,12 um ihr – so Generaldirektor Josef Bick – „die letzte Politur“ zu geben und damit ihr „seltenes Talent“ und ihren „Eifer“ zu ergänzen.13 Daneben sollte Kuhns Tätigkeit auch zur Vertiefung der Beziehung der beiden Bibliotheken beitragen.14
Über ihre Eindrücke und Erfahrungen in Paris berichtete Hilde Kuhn fast monatlich an die Generaldirektion. Gleich nach ihrer Ankunft beschrieb sie das Atelier des reliures, das alleine räumlich größer als die gesamte Handschriftensammlung war und etwa 20 Mitarbeiter*innen beschäftigte.15 Mit der Zeit ließ der Leiter des Ateliers Kuhn immer mehr Einblicke in den organisatorischen Aufbau und die Administration der Restaurierungswerkstätte gewinnen und zeigte ihr unter anderem die moderne Heizanlage, die für den Feuchtigkeitsgehalt der Luft in den Magazinen von großer Bedeutung war.16 Aber es gab auch Widerstände, so schrieb sie am 16.05.1950 an die Generaldirektion: „Außerdem herrschte Anfangs eine ganz gegnerische Stimmung unter den Buchbindern, die fanden, daß das Restaurieren keine Arbeit für Mädchen sei und mich als Eindringling in ihre Domäne betrachteten. Inzwischen haben sie sich aber daran gewöhnt und die Tatsache, dass ich im Vergleich zu ihnen nicht viel kann hat ihr bedrohtes Selbstbewusstsein wieder gestärkt.“17 Weiteren Berichten ist zu entnehmen, dass sie in verschiedenen Techniken wie beispielsweise der Fleckenentfernung, der Ausbesserung von Wurmlöchern, dem Ergänzen von Fehlstellen oder dem Glätten von Pergament unterwiesen wurde.18 Auch berichtete sie über die Hilfsbereitschaft und Freundlichkeit ihres Lehrers M. Ronsselet, dem sie eine „Einführung in die physikalischen und mechanischen Gegebenheiten und Wirkungen der einzelnen Arbeitsgänge“19 verdankte, wodurch man nach ihrer Einschätzung eine „gute Beherrschung des Materials und eine breite Basis der Improvisation“20 gewinnt. Diese Ansätze setzte sie in weiterer Folge bei der Einbandrestaurierung und dem Vergolden um, welches ihr anfänglich noch Schwierigkeiten bereitete.21
Nach ihrer Rückkehr aus Paris wurde sie gegen Ende 1950 mit dem Aufbau und der Wiederherstellung der beschädigten Bestände der Handschriftensammlung betraut. (Abb. 2) Ab 1951 erfolgte erstmalig die Einrichtung einer restauratorischen Werkstätte in eigenen, dafür geeigneten Räumen.22 Bereits zu diesem Zeitpunkt war unübersehbar, dass die Arbeit an den schätzungsweise drei- bis viertausend dringend restaurierungsbedürftigen Bänden für eine einzelne Arbeitskraft nicht zu bewältigen war.23 Im Rahmen der personellen Erweiterung der Restaurierungsabteilung konnte der junge Bibliothekar Otto Wächter,24 der ab 1947 an der Österreichischen Nationalbibliothek beschäftigt war, als Mitarbeiter gewonnen werden. Ab 1951 wurde er für drei Vormittage pro Woche Hilde Kuhn zugeteilt um praktische Erfahrungen in der Restaurierung sammeln zu können.25 So wurden von Wächter unter Kuhns Aufsicht mehrere Restaurierungsarbeiten durchgeführt.26 In weiterer Folge wurde Otto Wächter aufgrund der Absolvierung einer akademischen Ausbildung an der Akademie der bildenden Künste Wien ab 1957 die Leitung der Werkstätte übertragen.27
Nach einer ersten kleinen räumlichen Erweiterung 1956 erfolgte zehn Jahre später eine nochmalige Übersiedelung der Restaurierungswerkstätte in das frühere Zeitungsmagazin, der jetzigen Abteilung für Buchrestaurierung und damit verbunden eine personelle Aufstockung. In diesem Zeitraum waren in der Restaurierungsabteilung neben Wächter und Kuhn regelmäßig vier weitere Personen beschäftigt: die beiden als Restaurator*innen eingeschulten Buchbinder*innen Felix Pavlik und Alois Kilga sowie der Absolvent der graphischen Lehr- und Versuchsanstalt Franz Röckel und die Absolventin der Meisterklasse für Schrift und künstlerische Buchgestaltung der Hochschule für angewandte Kunst Gerda Mojesch.28 Ihren Kolleg*innen war Kuhn in herzlichem Kontakt verbunden, der auch nach ihrer Pensionierung 197729 anhielt.30 Im privaten Rahmen wurden Ausflüge gemacht und die Kinder der alleinerziehenden Kuhn unterhielten zu deren Arbeitskolleg*nnen ein freundschaftliches Verhältnis. Nachdem die Kinder ihre Mutter oftmals an ihrem Arbeitsplatz besucht und abgeholt hatten, fühlten sie den Respekt, der ihr von ihren Arbeitskolleg*innen entgegengebracht wurde. Sie berichten: „Wir Kinder waren in der Restaurierwerkstätte sehr herzlich aufgenommen, und bewunderten alles was uns erklärt wurde, die großen Maschinen usw… Bewundert haben wir auch das zeichnerische Geschick des immer fröhlichen „Onkel Fritz“ (Röckl), den Humor und die Liebenswürdigkeit von „Tante Gerda“ (Mojesch) […]“.31 Auch Wächters Schwester Hermine („Tante Hermi“) blieb den Kindern in lebhafter Erinnerung und wurde Taufpatin der jüngsten Tochter Gabriele.32
Arbeiten von Kuhn
Hilde Kuhn restaurierte viele Werk der Österreichischen Nationalbibliothek und baute das Institut für Restaurierung (IfR) auf.33 Sie betreute zahlreiche Praktikant*innen und bildete neue Mitarbeiter*innen aus. Ihre jüngeren Kolleg*innen Marieliese Schack und Helga Rosenberger erinnern sich an Hilde Kuhn als kompetente und menschliche Lehrerin.34 Im Rahmen der Bibliothekarsausbildung an der Nationalbibliothek hielt sie verschiedene Fachkurse hauptsächlich zum Thema Einbandkunde. Hilde Kuhn übersetzte fremdsprachige Artikel ins Deutsche35 und führte Redaktionsarbeiten für Publikationen des IfR durch.36
Als Publizistisch tätig wurde Hilde Kuhn 1969 durch die Herausgabe des Wörterbuchs der Handbuchbinderei und der Restaurierung von Einbänden, Papyri, Handschriften, Graphiken, Autographen, Urkunden und Globen in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache. Wächter schrieb hierzu im Jahresbericht für 1968: „Ein 4-sprachiges “Wörterbuch der Handbuchbinderei und der Restaurierung von Einbänden, Handschriften, Graphiken etc.“ wurde von AR Kuhn verfasst und wurde in Fortsetzungen in der „Einband- und Graphikpflege“, dem Beiblatt des „Allg. Anzeigers für Buchbindereien“ (Stuttgart) publiziert. Abschließend werden die Fortsetzungen zu einer Einzelpublikation zusammengefasst.“37 Im Jahre 1972 veröffentliche sie einen Artikel folgend dem Vortrag Goldschlägerhaut und synthetisches Collagen. Ihre Teilnahmen an Konferenzen und Weiterbildungsveranstaltungen rundeten Kuhns berufliches Profil ab.38
Zusätzlich arbeitete sie im Ausstellungsbereich mit und wurde auch für bibliothekarische Dienste herangezogen. Sie assistierte bei der Erstellung von Mikrofilmen, sowie bei Fotoaufnahmen von diversen Codices bei der Akademischen Druck- und Verlagsanstalt in Graz. Für die Fachklassen der graphischen Lehr- und Versuchsanstalt führte sie regelmäßig Führungen durch.39
Als Mitarbeiterin der Handschriftensammlung war Hilde Kuhn für die Restaurierung von Druckwerken und Handschriften verantwortlich. Herausragende Zimelien der Bibliothek wie der Wiener Dioskurides (Cod. Med. gr. 1), die Wiener Genesis (Cod. Theol. gr. 31), das schwarze Gebetbuch (Cod. 1856), der „goldene Psalter"40 auch der Dagulf-Psalter (Cod. 1861) wurden von Hilde Kuhn restauratorisch behandelt.
Informationen zu den einzelnen Restaurierungen befinden sich in den Jahres- bzw. Monatsberichten der Handschriftensammlung, später der Restaurierungsabteilung sowie in den Statistikbüchern der Restaurierungswerkstatt. In den Statistikbüchern wurden die einzelnen Restaurierungen aufgelistet und dokumentiert. (Abb. 3) Zum Leidwesen heutiger Restaurator*innen enthalten diese aber nur wenige Informationen und waren im Gegensatz zu heutigen Dokumentationen sehr knapp. Beispielsweise finden sich kaum Hinweise zu verwendeten Klebstoffen oder anderen Behandlungsmethoden. Des Weiteren wurden einige der Objekte in den letzten 30 Jahren nochmals in der Restaurierungswerkstatt behandelt, weshalb eine genaue Zuordnung von Methoden zu einzelnen Personen schwierig ist. Aus diesem Grund können hier keine gesicherten Angaben gemacht werden. Es fanden sich jedoch vereinzelt an den Innenseiten der Hinterdeckel der Bücher Beschreibungen der vorgenommenen Restaurierung. (Abb. 4) Teilweise waren diese Ausführungen detaillierter als die Dokumentationen in den Statistikbüchern.
Ein wesentlicher Teil der Buchrestaurierung beinhaltet die Behandlung des Buchblocks, der Stabilisierung von geschwächtem Papier, Rissverklebungen sowie Ergänzungen von Fehlstellen.
Eine Methode, die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Verwendung war und auch von Hilde Kuhns Vorgänger Alois Liska durchgeführt wurde41 war jene der Stabilisierung mittels Gelatine und Seidengaze. Seidengaze eignete sich besonders gut, da sie sich der Materialbewegung des Papiers und des Pergamentes angleicht und keine Spannungen erzeugt, sowie auch die Lesbarkeit der Schrift wenig stört. Es handelt sich hierbei um ein Verfahren, das seit dem Ende der fünfziger Jahre nicht mehr in Gebrauch ist. Noch 1951 wurden 60 Meter Seidengaze zu „Restaurierungszwecken“ aus Paris an die Österreichische Nationalbibliothek gebracht.42 So finden sich Anfang der 1950er Jahre mehrere Objekte, die mit Seidengaze behandelt wurden. Als Beispiel sei hier Cod. 3515 genannt, eine Sammelhandschrift mit Werken aus dem 15. Jahrhundert, die Kuhn 1953 restauriert hatte. Die Seidengaze wurde hierbei recto und verso ganzseitig aufkaschiert, die Verwendung von Gelatine kann durch die glänzende Oberfläche belegt werden. (Abb. 5 und 6)
Ein nicht unwesentlicher Arbeitsbereich war die Restaurierung von Pergamenthandschriften „mit runzelig und brüchig gewordenen Blättern“.43 Wie Hilde Kuhn vor Ende der 1950er Jahre diese behandelt hat, ist nicht genau nachvollziehbar. Ende der 1950er wurde jedoch in der Österreichischen Nationalbibliothek eine Methode zum Regenerieren brüchiger und instabiler Pergamente entwickelt, die 1957 bei einem Kongress der ICOM diskutiert und durch das Istituto di patologia del libro in Rom geprüft wurde. Mittels eines aus neuem Pergament hergestellten Pergamentextrakts, einem sogenannten Pergamentleim, wurden die instabilen Blätter stabilisiert und anschließend in einem Spannrahmen gespannt und geglättet.44 (Abb. 7) Auch die Methode des Spannens welligen Pergaments mittels Spannrahmen wird heute in dieser Form nicht mehr durchgeführt.
Das Glätten von besonders deformierten Pergamentblättern hat verschiedentliche Folgen. Als Beispiel sei hier die Handschrift Cod. 847 genannt. Eine recht aufwendige Restaurierung, die von 1966-1968 durchgeführt wurde. Hilde Kuhn schrieb hierzu im Statistikbuch lediglich: „geglättet ausgeflickt in alte Decke gebunden“45 Das Etikett auf der Innenseite des Hinterdeckels gibt mehr Informationen preis. Durch das Glätten der Pergamentblätter hatte sich die Stärke des Buchblocks verringert. Dies hatte zur Folge, dass der Buchblock für den originalen Rücken zu dünn war. Durch das Anfertigen neuer Lagen konnte Hilde Kuhn die Stärke des Buchblocks wieder angleichen und in den originalen Einband binden. (Abb. 8 und 9)
Bei Restaurierungen des Buchblocks wurden vorhandene Fehlstellen bei Einzel- oder Doppelblättern unter anderem angefasert. Das Ergänzen von Fehlstellen im Papier mit verschiedenen Papiersorten ist seit jeher eine gängige Restaurierungsmethode. Je nach Schaden muss auf die verwendete Papiersorte geachtet werden. Das Zusammenspiel von zwei verschiedenen Papiersorten mit unterschiedlichen Ausdehnungsverhalten und das Einbringen von Klebstoff birgt jedoch auch Risiken in sich. Ende der 1950er Jahre begannen erste Experimente fehlende Stellen mit in einem flüssigen Medium suspendierter Fasern zu füllen. Mit den 1960er Jahren konnten bereits erste entsprechende Geräte in Labors eingesetzt werden. Durch die Methode der Anfaserung konnten flexiblere und unauffälligere Übergänge zwischen dem Füllmaterial und dem Papier geschaffen werden. Zudem führten ähnliche Fasern wie die des Originalpapiers zu einer geringeren Verformung.46 Auch das Institut für Restaurierung wurde mit solchen Gerätschaften ausgestattet. Bereits 1966 wurde eine Maschine zu Herstellung von Papierbrei angeschafft, weiters folgte ein Umbau einer Papiergussmaschine. Bis letztlich 1975 die Installation einer eigenen Anfaserungsanlage erfolgen konnte, durfte das Institut für Restaurierung den Anfaserungsapparat der NÖ Landesbibliothek mitbenützen.47 Somit konnte Hilde Kuhn beispielsweise Mitte der 1970er Jahre den Cod. suppl. gr. 193, der besonders große Fehlstellen aufwies, mittels Anfaserung behandeln. (Abb. 10 und 11) Hierzu schrieb Hilde Kuhn „Papierbl. angefasert, zu einer Lage verbunden, mit Pappbd. versehen“.48
Ein weiterer wesentlicher Bereich der Buchrestaurierung liegt in der Behandlung der Einbände. Diese müssen den Buchblock fixieren sowie schützen und sollten gleichzeitig einer oftmaligen Verwendung durch den/die LeserIn standhalten. Das Material und die Technik müssen daher besonders berücksichtigt werden. In Kuhns Aufzeichnungen finden sich dazu kaum Beschreibungen, selten wird die Art des Leders oder des Klebstoffes angegeben, dazu lassen sich nur Vermutungen anstellen. Die zeitgemäße Restaurierungsethik versteht unter Einbandrestaurierung die Behebung der Schäden unter Beibehalten allen originalen Materials. So zeigten zum Beispiel die Deckel des Cod. Glaser 87 große Lederfehlstellen, die mit neuem, vermutlich Schafleder, unter Verwendung eines Kaltleimes unterlegt wurden.49 (Abb. 12 und 13) Dazu wird das originale Leder angehoben und mit neuem Leder unterlegt. Dieses Vorgehen zeigt, dass Hilde Kuhn in diesem Fall weitgehend nach unserer zeitgemäßen Restaurierungsethik gearbeitet hatte.
Gegen Ende ihrer beruflichen Laufbahn, 1975, restaurierte Hilde Kuhn die Wiener Genesis, Cod. Theol. gr. 31, und das Schwarze Gebetbuch, Cod. 1856. Die Folios der Wiener Genesis waren seit 1895 zwischen Glasplatten aufbewahrt worden. (Abb. 14) Man entschloss sich, die Purpurpergamentblätter nach einer vorherigen Restaurierung zwischen Acrylglasplatten umzubetten. Hilde Kuhn begann im Jänner 1975 mit der Reinigung der Folios. Im Statistikbuch vermerkte sie als Maßnahmen Regenerierung und Glätten.50 Dabei handelt es sich wahrscheinlich um die Behandlung des spätantiken Pergaments mit Pergamentleim und das anschließende Glätten unter Druck.51 Der schlechte Zustand der Silbertusche machte ein Spannen der Pergamentblätter zu riskant. Vermutlich schloss Hilde Kuhn Risse mit Brücken aus gedünntem Papier oder Selbstklebeband und füllte Fehlstellen in Rissen mit Papierfasern aus, wie z.B. auf Folio 1. (Abb. 15)
Bis Ende März 1975 hatte Hilde Kuhn alle 24 Folios zwischen je zwei Acrylglasplatten montiert, wobei je eine Platte mit Löchern versehen war, um einen Luftaustausch zu ermöglichen. Die Behandlung des schwarzen Gebetbuchs verlief nicht wie gewünscht. Die schwarze Färbung hat das Pergament stark geschädigt und sehr brüchig gemacht. Hilde Kuhn behandelte alle Folios mit Ammoniakgas, um sie zu neutralisieren. Die Anwendung von Pergamentleim oder anderer wässriger Methoden erwiesen sich als ungeeignet.52 Risse im Pergament wurden mit Brücken von Selbstklebebändern gesichert, in Ergänzung zu einer früheren Restaurierung mit schwarzer Seidengaze. Alle 154 Folios wurden zwischen Acrylglasplatten montiert, wobei wiederum die zweite Platte mit Luftlöchern versehen war.53 (Abb. 16) In dieser Form wird das schwarze Gebetbuch bis heute aufbewahrt. Die Fragen der langfristigen Erhaltung und der besten Aufbewahrungsmethode müssen noch gelöst werden.
Dank der Aussagen ihrer Kinder haben wir heute ein detailliertes Bild vom großen persönlichen Eifer, der die restauratorische Arbeit Hilde Kuhns geprägt hat. Neben ihrem beruflichen Engagement in der Restaurierungsabteilung der Österreichischen Nationalbibliothek hatte sie auch in ihrer Freizeit Bücher gefertigt und restauriert, sowie Papier gefärbt und marmoriert. Trotz der traumatischen Erlebnisse ihres frühen Erwachsenenlebens zur Zeit des nationalsozialistischen Regimes, die Hilde Kuhn nach Angaben ihrer Kinder bis zu ihrem Tod im 71. Lebensjahr nicht losgelassen haben, verbinden wir heute mit ihrem Namen ein Leben voller Leidenschaft für die Restaurierung. Mit ihren Restaurierungen hat Hilde Kuhn uns ein bleibendes Erbe hinterlassen. In unserer Tätigkeit am Institut für Restaurierung bauen wir auf ihrer Pionierarbeit auf und fühlen uns ihrem Engagement verpflichtet.
Über die Autor*innen: Mag. Theresia Burkheiser und Mag. Christa Hofmann sind Mitarbeiter*innen am Institut für Restaurierung der Österreichischen Nationalbibliothek.
Burkheiser, Theresia (2022): Der Buchrestaurator Alois Liska. Ein ungewöhnliches Leben im Dienste der Bestandserhaltung, ÖNB Forschungsblog, [online] https://www.onb.ac.at/forschung/forschungsblog/artikel/der-buchrestaurator-alois-liska-ein-ungewoehnliches-leben-im-dienste-der-bestandserhaltung [abgerufen am 03.12.2022]
Burkheiser, Theresia (2021): „Ein Beitrag zur Geschichte der Buchrestaurierung: Die k.k. Hof-, sowie Nationalbibliothek (Wien) in der Zeit von 1899-1939“, Diplomarbeit, Akademie der bildenden Künste Wien
Cod.Ser.N.14434 – Jahresberichte der Handschriftensammlung.
DÖW, Sammlung Erzählte Geschichte, Interview 341.
Futernick, Robert (1983): Leaf casting on the suction table, in: Journal of the American Institute for Conservation, Vol. 22, Nr. 2, S. 82-91.
Hofmann, Christa (Hrsg.) und Rabitsch, Sophie (2020): The history of the Vienna Genesis and former interventions since 1664, in: The Vienna Genesis, Material analysis and conservation of a Late Antique illuminated manuscript on purple parchment, Wien: Böhlau Verlag, S.11 – 33.
Karadana, Cahit (2001): Restaurierbericht für Cod. Glaser 87.
Kuhn, Hilde (1972).: Goldschlägerhaut und synthetisches Collagen. In: Stummvoll, Josef (Hrsg.), Biblos-Schriften. Tagungsbericht 2. Internationaler Graphischer Restauratorentag 1971, Bd. 69, S. 111–114.
Kuhn, H (1969).: Wörterbuch der Handbuchbinderei und der Restaurierung von Einbänden, Papyri, Handschriften, Graphiken, Autographen, Urkunden und Globen in deutscher, englischer, französischer und italienischer Sprache = Dictionary of bookbinding and restauration of papyri, manuscripts, engravings, autographs, documents, bindings and globes in German, English, French and Italian = Dictionnaire de la reliure et de la restauration des papyri, manuscrits, estampes, autographes, documents, reliures et globes en allemand, anglais, francais et italien = Dizionario della legatura e del restauro dei papiri, manoscritti, opere grafiche, autografi, docmenti, legature e globi nelle linigue tedesca, inglese, francese ed italiana, 1.Aufl., Stuttgart: Hettler Verlag.
Kuhn, Hilde: Personalakt der Österreichischen Nationalbibliothek.
Kuhn, Hilde (1975): interner Restaurierbericht vom 8. Juli 1975.
Schack, Marieliese (2003): HR Prof. Otto Wächters Wirken für die Österreichische Nationalbibliothek. In: Schreiner, Manfred Schreiner ed al. (Hrsg.), Biblos Schriften. 50 Jahre Papierrestaurierung in Österreich – 80 Jahre Hofrat Prof. Mag. Otto Wächter, Bd. 178 , S.14-24.
Statistikbuch des Instituts für Restaurierung 1964-1968.
Statistikbuch des Instituts für Restaurierung 1969-1978.
Trenkler, Ernst (1973): Geschichte der Österreichischen Nationalbibliothek. Zweiter Teil. Die Nationalbibliothek (1923-1967), Stummvoll, Josef (Hrsg.), Wien: Prachner Verlag.
1 DÖW, Sammlung Erzählte Geschichte, Interview 341.
2 Trenkler 1973: S.169; Personalakt Hilde Kuhn: Brief von Generaldirektor Bick an das Bundesministerium für Unterricht am 06.09.1948.
3 Trenkler 1973: S.168, 220.
4 Burkheiser 2022
5 Trenkler 1973: S.220; Cod.Ser.N.14434: 1938-1947 fol.200.
6Personalakt Hilde Kuhn: Brief von Generaldirektor Bick an den Stadtschulrat für Wien, Abt.III am 14.06.1947; Brief von Generaldirektor Bick an das Bundesministerium für Unterricht am 06.09.1948; Schack 2003: S.18.
7 Personalakt Hilde Kuhn: Brief von Generaldirektor Bick an das Bundesministerium für Unterricht am 06.09.1948.
8 Cod.Ser.N.14434: 1948-1958 fol.640.
9 Trenkler 1973: S.220.
10 Personalakt Hilde Kuhn: Brief von Generaldirektor Bick an das Bundesministerium für Unterricht am 06.09.1948.
11 Personalakt Hilde Kuhn: Generaldirektor Bick an Gottfried Lang (Österreichisches Kulturinstitut in Rom) am 15.02.1949.
12 Personalakt Hilde Kuhn: Generaldirektor Stlv. an das Bundesministerium für Unterricht, Sektion III am 05.05.1950.
13 Personalakt Hilde Kuhn: Generaldirektor Bick an Gottfried Lang (Österreichisches Kulturinstitut in Rom) am 15.02.1949.
14 Personalakt Hilde Kuhn: Generaldirektor Stummvoll an M. Rieunier am 23.02.1950.
15 Personalakt Hilde Kuhn: Brief von Hilde Kuhn an Generaldirektor Stummvoll am 09.03.1950.
16 Personalakt Hilde Kuhn: Hilde Kuhn an Generaldirektor Stummvoll am 16.05.1950 und 15.06.1950.
17 Personalakt Hilde Kuhn: Hilde Kuhn an Generaldirektor Stummvoll am 16.05.1950.
18 Personalakt Hilde Kuhn: Hilde Kuhn an Generaldirektor Stummvoll am 10.04.1950.
19 Personalakt Hilde Kuhn: Hilde Kuhn an Generaldirektor Stummvoll am 15.06.1950.
20 Ebd.
21 Ebd.
22 Schack 2003: S.18.
23 Cod.Ser.N.14434: 1951 fol.285.
24 Schack 2003: S.18; Trenkler 1973: S.169.
25 Cod.Ser.N.14434: 1951 fol.275.
26 Cod.Ser.N.14434: 1951 fol.304-308.
27 Trenkler 1973: S.220.
28 Schack 2003: S.18f.
29 Personalakt Hilde Kuhn: Hilde Kuhn an die Generaldirektion am 31.08.1977.
30Kuhn, Christian: Mail vom 21.09.2022.
31 Ebd.
32 Ebd.
33 1950 tätigte sie die Einkäufe für die Werkstatt. So wurden eine eiserne Platte, Aluminiumbleche und verschiedene kleinere Werkzeuge gekauft (Cod.Ser.N.14434 1950: fol.268, 273v.)
34 Persönliche Mitteilungen von Marieliese Schack und Helga Rosenberger.
35 Cod.Ser.N.14434: 1957 fol.495; 1965 fol.1057; 1966 fol.1140; 1951 fol.294; 1950 fol.250; Statistikbuch des IfR 1969-1978: 1972 Nr. 496.
36 Statistikbuch des IfR 1969-1978: 1972 Nr.247.
37Statistikbuch des IfR 1964-1968: Jahresbericht für das Jahr 1968.
38 Ebd.
39 Cod.Ser.N.14434: 1949 fol.230; 1950 fol.250, 273v; 1950-1951 Generaldirektor am 13.04.1950; 1951 fol.284, 300; 1956 fol.465; 1957 fol.526; 1960 fol.777; 1966 fol.1140; 1967 fol.1210,1221.
40 Cod.Ser.N.14434: 1951 fol.346.
41 Burkheiser 2022
42 Cod.Ser.N.14434: 1951 fol.287.
43 Cod.Ser.N.14434: 1951 fol.285.
44 Cod.Ser.N.14434: 1957 fol.483,485.
45 Statistikbuch des IfR 1964-1968: 1968 Nr. 739.
47 Cod.Ser.N.14434: 1966 fol.1112; 1969 fol.1328, 1343; 1975 fol.1897; Statistikbuch des IfR 1969-1978: Jahresbericht für das Jahr 1970.
48 Statistikbuch des IfR 1969-1978: 1974 Nr.440.
49 Cod.Ser.N.14434: 1949 fol. 224; Karadana 2001: interner Restaurierbericht.
50 Statistikbuch des IfR 1969 – 1978: 1975 Nr. 85, 142, 187.
51 Hofmann und Rabitsch 2020: S.11 – 33.
52 Kuhn 1975: interner Restaurierbericht vom 8. Juli 1975.
53 Statistikbuch des IfR 1969 – 1978: Nr. 188, 229.
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