Bericht über die 4. Internationale Arbeitstagung der Literaturarchive und Nachlassinstitutionen (KOOP-LITERA international), 27.-29. Jänner 2021
Autorin: Susanne Rettenwander
Wie kann die Zukunft der Archive beschaffen sein und wie müssen sich die Archive darauf vorbereiten? Nicht erst seit der herausfordernden Corona-Pandemie, die zweifellos die digitale Entwicklung beschleunigt hat, müssen sich Archive und Nachlassinstitutionen zunehmend an der Schnittstelle analog / digital positionieren und Strategien für fließende Übergänge entwickeln. Visionäre Konzepte für den zukünftigen Umgang mit Archivmaterialien in analoger wie digitaler Form bedürfen zunächst einer soliden Grundlage. Die Analyse der aktuellen Ausgangslage von Archiven, die Festlegung ihrer Leistungsansprüche, die Abwägung ihrer Möglichkeiten und die Förderung von richtungsweisenden Projekten kumulieren in der ambitionierten Forderung nach ihrer Neuerfindung im 21. Jahrhundert.
Die 4. Internationale Arbeitstagung der Literaturarchive und Nachlassinstitutionen des Netzwerks KOOP-LITERA international, die vom 27.-29. Jänner 2021 an der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien ausgetragen wurde (Konzept und Organisation: Bernhard Fetz, Arnhilt Inguglia-Höfle und Volker Kaukoreit, Literaturarchiv/ÖNB), nahm sich diesen Herausforderungen an. Das Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek ist Gründungsmitglied und langjähriger Partner von KOOP-LITERA international, einem Netzwerk von deutschen, luxemburgischen, österreichischen und schweizerischen Institutionen, die Nachlässe und Autografen erwerben, erschließen, bewahren und der Öffentlichkeit zugänglich machen.
Die Beiträge der Arbeitstagung werden hier in ihrer thematischen Einbettung für das Fachkollegium und Interessierte präsentiert.
Treffen der Archive
Das traditionell abgehaltene Treffen der Archive wurde in zwei Themenkomplexe strukturiert. Nach der Begrüßung durch Bernhard Fetz und Arnhilt Inguglia-Höfle widmete sich der erste Komplex dem Thema Film und Archiv und war auf die Problematiken einer adäquaten Erschließung und Archivierung von Filmbeständen und Speichermedien zentriert. Thomas Ballhausen (Literaturhaus Wien) moderierte das Panel.
Am Beginn der Tagung schilderte Ralf Breslau (Staatsbibliothek zu Berlin) in seinem Vortrag Der Nachlass Leni Riefenstahl – ein Werkstattbericht den Umgang mit dem problematischen Bestand der deutschen Filmemacherin und Fotografin.
Als nächstes führten Arno Rußegger (Universität Klagenfurt) und Michael Kraiger (Velden) mit ihrem Beitrag „Unser See hat keinen Gang!“ – Zum Firmenarchiv der Lisa-Filmproduktion durch das „Wörthersee-Universum“ und gaben Einblicke in ein Desiderat der österreichischen Popkultur.
In ihrem Vortrag „Und dabei ist mir wieder ganz bewußt geworden, daß ich ja nie nur ein blöder Sammler war“ – Das Archiv Günter Peter Straschek schlüsselte Sylvia Asmus (Deutsches Exilarchiv, Frankfurt/Main) den Nachlass des Filmwissenschaftlers und Exilforschers auf.
Hanna Prandstätter (Archiv der Zeitgenossen, Krems) zeichnete in ihrem Vortrag Filmplakate, VHS und Digibeta – Der Vorlass Peter Patzak die technische Entwicklung im professionellen Filmbereich und damit die Übergänge von analogen zu digitalen Speichermedien nach.
Der zweite Komplex, moderiert von Markus Ender (Brenner-Archiv, Innsbruck), nahm sich unterschiedlicher Modelle der digitalen Vermittlung an. Der zunehmende Wunsch, Wissensvermittlung in das Netz zu verlagern, erfordert den kreativen Umgang mit Sammlungsbeständen. Jeweils ein Modell aus Luxemburg und der Schweiz zeigten auf, wie Institutionen diesen Anforderungen gerecht werden können.
In ihrem Beitrag Facetten zeitgemäßer Literaturvermittlung in Luxemburgpräsentierte Nicole Sahl (Lëtzebuerger Literaturarchiv, Mersch) historisch gewachsene Einzelinitiativen von luxemburgischen Institutionen, die nun in einem übergeordneten Netzwerk miteinander verbunden werden. Ein Werkstattbericht über das geplante Michel-Rodange-Portal rundete den Ausblick ab.
Danach führte Moritz Wagner (Schweizerisches Literaturarchiv, Bern) in seinem Beitrag „Einmal an der Quelle sein“ – Annemarie Schwarzenbachs Reisefotografien online den urheberrechtsfreien fotografischen Nachlass der Schriftstellerin und Reisefotografin in einer Online-Applikation vor.
Abschließend behandelte Artur R. Boelderl in seinem Vortrag „Das stets parate Disparate“ – Herausforderungen und Chancen der digitalen Literaturvermittlung die Frage, wie die technische Entwicklung auf das menschliche Denken einwirkt.
Öffentliches Symposium über den Umgang mit born-digital-Materialien
Am zweiten Tag der Arbeitstagung begrüßten Generaldirektorin Johanna Rachinger und der Leiter des Literaturarchivs Bernhard Fetz zum öffentlichen Symposium, das den Umgang mit born-digital-Materialien in das Zentrum der Diskussion rückte. Das originär digitale Archivmaterial leitet zweifellos einen Paradigmenwechsel ein. Es prägt und verändert die Infrastruktur von Archiven und Nachlassinstitutionen gleichermaßen wie die Tätigkeit von ArchivarInnen und WissenschaftlerInnen. Die Frage, was künftig überhaupt gesammelt wird, stellt sich dabei ebenso, wie die nach den Erwerbungskosten, nach den rechtlichen wie technischen Grundlagen oder nach den Möglichkeiten der digitalen Aufbereitung und Archivierung.
In ihrem Vortrag Archivempirie und digitale Literatur – Was sammeln wir künftig? verband Sandra Richter (Deutsches Literaturarchiv Marbach) die Frage nach der Beschaffenheit von born-digital Materialien mit der Notwendigkeit ihrer inhaltlichen Auswertung. Richter forderte von Archiven und Nachlassinstitutionen nicht nur die Entwicklung von digitaler Infrastruktur, sondern ebenso Ansätze zur inhaltlichen Interpretation von digital gespeicherter Literatur.
Im Anschluss eröffnete Jürgen Thaler (Franz-Michael-Felder-Archiv, Bregenz) die Podiumsdiskussion Der materielle und ideelle Wert von born-digital Archivalien zusammen mit Rudolf Probst (Schweizerisches Literaturarchiv, Bern) und Gabriele Radecke (Literaturarchiv, Akademie der Künste, Berlin).
Nach seinem Vortrag Rechtliche Aspekte der Archivierung digitaler Archivalien, in dem er die urheber-, archiv- und datenschutzrechtlichen Grundlagen der Digitalisierung entwickelte, trat Nikolaus Forgó (Universität Wien) in ein Arbeitsgespräch mit Christian Recht (Rechtsabteilung, Österreichische Nationalbibliothek).
Michael Days (British Library, London) langjährige Erfahrung mit born-digital Materialien schlug sich in seinem Vortrag On the practical and technical aspects of preserving born-digital content – Lessons from the British Library nieder. Christiane Fritze (Abteilung für Forschung und Entwicklung, Österreichische Nationalbibliothek) führte durch den Programmpunkt.
Gerhard Tieber (Zentraler Informatikdienst, Österreichische Nationalbibliothek) übernahm die Moderation eines Panels mit technischem Schwerpunkt. Zunächst präsentierten Mona Ulrich (Deutsches Literaturarchiv Marbach) und Gabriel Viehhauser (Universität Stuttgart) in ihrem Beitrag SDC4Lit – ein Science Data Center für digitale Literatur ein Kooperationsprojekt, das die Etablierung eines nachhaltigen Datenlebenszyklus zum Ziel hat.
Sodann veranschaulichte Thomas Stern (SLUB, Dresden) in seinem Beitrag Archivierung originär digitaler Materialien im Nachlass des Gastronomiekritikers Wolfram Siebeck (1928-2016) den Workflow eines Digitalisierungsprojekts von der Migration der Daten bis zur adäquaten Aufbereitung.
Das letzte Panel des Symposiums, moderiert von Arnhilt Inguglia-Höfle (Literaturarchiv, Österreichische Nationalbibliothek) widmete sich der AutorInnenperspektive. Zunächst hielten Renate Giacomuzzi (Innsbrucker Zeitungsarchiv) und Lina Maria Zangerl (Literaturarchiv Salzburg) zwei Impulsreferate, die in eine Podiumsdiskussion mit der österreichischen Autorin Raphaela Edelbauer mündeten. In ihrem Referat Digitale Paratexte als Herausforderung für Literaturwissenschaft und Archive – Zur Dokumentation und Archivierung von Autorenhomepages stellte Giacomuzzi ein Webarchiv vor, das Literaturmagazine, Webblogs und Autorenhomepages sammelt.
In ihrem Referat Everything not saved will be lost – Zur Bedeutung persönlicher digitaler Archive verdeutlichte Lina Maria Zangerl die Wichtigkeit von persönlichen, von den AutorInnen selbst angelegten digitalen Archiven für die anschließende wissenschaftliche Auswertung in Kultur-, Gedächtnis-, und Forschungsinstitutionen.
Im fließenden Übergang wurde die Autorin Raphaela Edelbauer in ein Gespräch mit Renate Giacomuzzi, Lina Maria Zangerl und Arnhilt Inguglia-Höfle einbezogen. Edelbauer reicherte die theoretischen Überlegungen mit Schilderungen ihrer persönlichen Erfahrungen als junge zeitgenössische Autorin und Philosophin an.
Die Arbeitstagung fand ihren Abschluss im Hands-on Workshop Einführung in die Arbeit mit digitalen Archivalien („Digitale Forensik“). Thorsten Ries (University of Texas, Austin) erklärte die Methodologie und die Praxis im Umgang mit digitalen Archivmaterialien.
Susanne Rettenwander, BA BA ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek.
Ein ausführlicher Tagungsbericht wird in editio. Internationales Jahrbuch für Editionswissenschaft 35 (2021), hrg. Rüdiger Nutt-Kofoth, Bodo Plachta einsehbar sein.
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