Habe ich zuviel Negatives gesagt? Hoffentlich, denn das Negative darf nicht unter den Teppich gefegt werden.
(1987, Anfragen 242f.)
Im August 1938 gelang Erich Fried die Flucht nach England. Sein Vater war an den Misshandlungen durch einen Gestapo-Beamten gestorben, seine Mutter inhaftiert. Die Großmutter hatte aus gesundheitlichen Gründen in Wien zurückbleiben müssen. Nur wenige Monate nach der Ankunft in London blätterte Erich Fried in einem Familienalbum und traf nach den Geschehnissen der letzten Monate einen folgenschweren Entschluss: Er werde als Vorkämpfer dem Guten zum Sieg verhelfen. Ein Vorsatz, dem er bis zuletzt kompromisslos treu blieb.
Das kommt in meinem Fall einfach daher, daß ich, als kurz nach dem Einmarsch Hitlers in Österreich mein Vater (der gar nicht politisch war) daran gestorben war, daß ihm ein Gestapomann in der Haft den Magen eingetreten hatte, beschloß, wenn ich lebend aus dem Lande komme, gegen diese Barbarei und alles vom gleichen Schlag zu kämpfen, solange ich lebe.
(1972, Briefe 53)
Erich Fried arbeitete mehr als 16 Jahre für das "German Soviet Zone Programme" der BBC und kommentierte das (kultur-)politische Geschehen hinter dem "Eisernen Vorhang" für Hörer*innen in der DDR. Vom Stalinismus tief enttäuscht, hielt er weiter an der Vorstellung fest, dass die Idee des Kommunismus den Kapitalismus schließlich überwinden könne. Als 1985 Michail Gorbatschow zum Generalsekretär des Zentralkomitees der KPdSU ernannt wurde, fasste er wieder Mut. Die Hoffnung auf eine Entspannung zwischen "Ost" und "West" kam in einigen relativ überschwänglichen Gedichten wie "Brief nach Moskau (für Michail Gorbatschow)" zum Ausdruck.
Von 1951 bis 31. Januar 1968 war ich Mitarbeiter der deutschen Abteilung der BBC, vor allem politischer Kommentator. Ich versuchte einen Zweifrontenkampf zu führen, einerseits gegen Stalinismus, andererseits gegen Kalten Krieg. Die BBC machte mir dabei sehr wenig Schwierigkeiten. Aber, zum Teil, weil einige Kollegen weniger Freiheit hatten als ich, ging ich schließlich fort, gegen den Willen meiner Arbeitgeber.
(1974, Anfragen 119)
Wenn ich ein polnischer, tschechischer oder russischer Kommunist wäre, würde mich der neue Ton in der DDR mit Schrecken erfüllen. […] Wohin soll dieser Irrweg führen? Er ist verderblich, und er ist – immer noch – leicht zu vermeiden. Er hilft auf die Dauer nur den Feinden der DDR.
(1966, Anfragen 43)
Dass Erich Fried keineswegs ein dogmatischer Linker war, bewies er immer wieder mit sehr differenzierten Aussagen zum Kommunismus. In Gedichten wie "Konflikte zwischen Alleinerben" zeigte er zudem eine gehörige Portion (Selbst-)Ironie.
Hörbeispiel: Erich Fried liest 1972 von Min. 7:46 bis 8:17 „Konflikte zwischen Alleinerben“ (Österreichische Mediathek, 9-02879_b01_k02, mit freundlicher Genehmigung).
Aber Mut zu direkter politischer Betätigung haben mir die Studentenbewegung und der Vietnamkrieg gemacht.
(1978, Freiheit 70)
Was sich bereits in den "Warngedichten" (1964) angekündigt hatte, wurde spätestens mit der Veröffentlichung des Gedichtbands "und VIETNAM und" offenbar: Erich Fried war ein politisch engagierter Schriftsteller. Und er scheute nicht davor zurück, noch so unangenehme oder verstörende Themen in seinen Gedichten anzusprechen. Die Proteste gegen den Vietnam-Krieg waren ein wichtiger Impuls für die Politisierung der Öffentlichkeit in Europa. Sie förderten das Erstarken der Student*innenbewegung und auch ihre teilweise Radikalisierung. Fried plante mit Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger ein literarisches Projekt gegen den Vietnamkrieg. Als es scheiterte, fand er nach längerer Suche im Berliner Verleger Klaus Wagenbach einen Interessierten. 1966 erschienen dann die gesammelten Vietnam-Gedichte unter dem Titel "und VIETNAM und". Von nun an kamen bis zu seinem Tod fast alle Bücher in dem Berliner Verlag heraus. 1968 nahm Fried am Internationalen Vietnamkongress in Berlin teil. Bei der großen Abschlussdemonstration mit 15.000 Teilnehmer*innen war er zeitweise zusammen mit dem Student*innenführer Rudi Dutschke und dem Schriftsteller Peter Weiss in der ersten Reihe zu finden.
17.–22. Mai 1966
Aus Da Nang
wurde fünf Tage hindurch
täglich berichtet:
Gelegentlich einzelne Schüsse
Am sechsten Tag wurde berichtet:
In den Kämpfen der letzten fünf Tage
in Da Nang
bisher etwa tausend Opfer
(1966, GW 1, 373)
Erich Fried erwies sich als strenger und kritischer Beobachter der Geschichte und ihrer Wiederholungen. In dem autobiografischen Prosaband "Mitunter sogar lachen" (1982) erinnerte er sich an den österreichischen Bürgerkrieg im Februar 1934. Damals schlug das austrofaschistische Regime unter Engelbert Dollfuß die Proteste der Arbeiterschaft gewaltsam nieder. Die offizielle Berichterstattung im Rundfunk weist erstaunliche Parallelen zu jener in dem Gedicht "17.–22. Mai 1966" auf.
Auch in sich selbst sind die Radionachrichten widersprüchlich: "Es muß ganz besonders betont werden, daß nur ein verschwindend kleiner Bruchteil der Arbeiterschaft sich den verbrecherischen marxistischen Elementen angeschlossen hat." Und fünf Minuten später: "Die Tapferkeit unserer braven Exekutive war umso bemerkenswerter, als wir uns überall einer vielfachen Übermacht gegenüber befanden."
(1986, GW 4, 540)
Ich finde, dass der Zionismus zwar ein menschlich sehr erklärlicher und in seiner Entstehung sehr verzeihlicher Fehler ist, aber in seinen Folgen nichtsdestoweniger verderblich, auch für die Juden in Israel.
(1975, Freiheit 44)
Höre, Israel
Als wir verfolgt wurden
war ich einer von euch
Wie kann ich das bleiben
wenn ihr Verfolger werdet?
Eure Sehnsucht war
wie die anderen Völker zu werden
die euch mordeten
Nun seid ihr geworden wie sie
Ihr habt überlebt
die zu euch grausam waren
Lebt ihre Grausamkeit
in euch jetzt weiter?
Den Geschlagenen habt ihr befohlen:
"Zieht eure Schuhe aus"
Wie den Sündenbock habt ihr sie
in die Wüste getrieben
in die große Moschee des Todes
deren Sandalen Sand sind
doch sie nahmen die Sünde nicht an
die ihr ihnen auflegen wolltet
Der Eindruck der nackten Füße
im Wüstensand
überdauert die Spur
eurer Bomben und Panzer
(1967, GW 1, 430)
Bereits 1967 hatte Erich Fried unter dem Eindruck des Sechstageskriegs das Gedicht "Höre, Israel" geschrieben, das in "Anfechtungen" erschien. Der Titel war bewusst gewählt und erinnert an "Schma Jisrael", eines der wichtigsten Gebete der jüdischen Liturgie. 1974 versammelte er unter dem Titel "Höre, Israel!" zahlreiche Gedichte, die sich kritisch mit Aspekten und Folgen des Zionismus und der israelischen Politik im Nahen Osten befassen. Dabei arbeitete er auch mit Fußnoten und Kommentaren und ließ in einem Kapitel Beteiligte in Originalaussagen zu Wort kommen. Diese sind lediglich in ihrer äußeren Form Gedichten nachempfunden, inhaltlich blieben sie unverändert. Die Veröffentlichung des Buchs hatte für Fried und seine Familie dramatische Folgen.
Eine Zeitlang Mitte der siebziger Jahre war es uns allen streng verboten, eingetroffene Briefe oder Päckchen von der Fußmatte vor der Tür aufzuheben. Vielmehr ging Erich damit ans Ende des Gartens, und wir beobachteten durchs Küchenfenster, wie er seine Post mit einer selbstgebastelten Anti-Explosionsapparatur öffnete, indem er die Päckchen an eine Konstruktion hängte, die er an die Schaukel gebunden hatte und deren lange Drähte er vom anderen Ende des Gartens aus bediente. Nach der Veröffentlichung seines Buchs 'Höre, Israel' hatte er die Warnung erhalten, er sei als Anti-Zionist, schlimmer noch: als jüdischer Anti-Zionist, zur Zielscheibe deklariert worden.
(Kurz 51)
Ich wusste, dass Erich, der Andreas Baader verabscheute, gleichwohl mit Ulrike Meinhof befreundet war und ihre journalistische Arbeit vor der Gründung der RAF bewunderte.
(Kurz 61)
Die Anfrage
Mit Verleumdung und Unterdrückung
und Kommunistenverbot
und Todesschüssen in Notwehr
auf unbewaffnete Linke
gelang es den Herrschenden
eine Handvoll empörter Empörer
Ulrike Meinhof
Horst Mahler
und einige mehr
so weit zu treiben
daß sie den Sinn verloren
für das was in dieser Gesellschaft
verwirklichbar ist
Was weiter geschah
war eigentlich zu erwarten:
Wieder Menschenjagd
Wieder Todesschüsse in Notwehr
die bekannten Justizmethoden
die bekannten Zeitungsartikel
und die Urteile gegen Horst Mahler
und gegen Ulrike Meinhof
Aber Anfrage an die Justiz
betreffend die Länge der Strafen:
Wieviel Tausend Juden
muß ein Nazi ermordet haben
um heute verurteilt zu werden
zu so langer Haft?
(1977, GW 2, 260)
"Die Anfrage" ist eines von mehreren Gedichten, die Erich Fried nicht nur eine immer größere Zahl an (politisch linksstehenden) Leser*innen einbrachte, sondern zum Teil auch sehr harte Kritik seitens der Politik. Er setzte sich von Beginn an für einen differenzierten Blick auf den Terrorismus der Roten Armee Fraktion ein. Auch die "Gegenseite" mahnte er, Maß zu halten und die BRD nicht in einen autoritären Staat umzubauen. Seine Gegner warfen ihm eine zu große Nähe zu den Terrorist*innen vor. Tatsächlich verbanden ihn freundschaftliche Gefühle mit Ulrike Meinhof, die er in den 1960er-Jahren kennengelernt hatte, als er für "Konkret" schrieb. Meinhof war Redakteurin des Magazins, ehe sie sich 1970 der Gruppe um Andreas Baader anschloss, aus der die RAF hervorging. Fried distanzierte sich von den Taten der RAF, äußerte aber bis zuletzt Zweifel am Selbstmord Ulrike Meinhofs 1976 in der Justizvollzugsanstalt Stuttgart-Stammheim. 1977, mitten im "Deutschen Herbst", erschien Frieds Gedicht "Die Anfrage". Deutschland erlebte in diesen Monaten mehrere Attentate der RAF, die Entführung (und spätere Ermordung) des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer sowie die Entführung der Lufthansa-Maschine "Landshut". Als das Gedicht "Die Anfrage" in einer Bremer Schule im Deutschunterricht im Rahmen von "Literatur gegen Gewalt" besprochen wurde, kam das dem Bremer Fraktionsvorsitzenden der CDU zu Ohren. In einer Sitzung der Bremer Stadtbürgerschaft ließ sich Bernd Neumann zu der Äußerung hinreißen: "Ja, […], so etwas würde ich lieber verbrannt sehen, das will ich Ihnen einmal ganz eindeutig sagen!" (Brand 105) Fried sah sich in diesen Jahren immer wieder mit Versuchen konfrontiert, seine Gedichte aus Schulbüchern zu verbannen und ihn als Terrorsympathisanten zu diskreditieren.
Hörbeispiel: Erich Fried spricht in den 1980er-Jahren von Min. 24:35 bis 24:52 zur "Feindesliebe" sowie von Min. 26:04 bis 27:14 zu ihrer aktiven Anwendung auf Adolf Hitler (Österreichische Mediathek, ja-881123_k02, mit freundlicher Genehmigung des Österreichischen Rundfunks).
Ich bin alles andere als erbarmungslos, ich habe mich auch gegen die lange Haftstrafe für einen prominenten jungen Neonazi in Deutschland eingesetzt, habe in meiner Rede auch gesagt, daß auch Hitler kein geborener Teufel, sondern zunächst das Opfer einer unmenschlichen Erziehung war, deren Grausamkeit ihn kaputt gemacht hat.
(1987, Briefe 104)
Sein Glaube, dass die Menschen nicht von Grund auf schlecht sind und immer Hoffnung besteht, sie vom falschen Weg abzubringen, war unerschütterlich. Und so kam Erich Fried 1983 mit einem der führenden deutschen Neonazis jener Jahre in näheren Kontakt. Als Michael Kühnen kurzfristig von der Teilnahme an der Talksendung "III nach 9" von Radio Bremen ausgeladen wurde, protestierte Fried, der ebenfalls eingeladen war. Er trat entschieden für die Freiheit der Meinungsäußerung ein. Es kam in weiterer Folge zu einem Treffen der beiden, woraus ein längerer Briefwechsel entstand. Die Veröffentlichung dieser Briefe zu Beginn 2021 sorgte aufgrund des vertraulichen Tonfalls für Aufsehen und Irritation.
Erich Fried hat im Lauf seines Lebens viele Preise und Auszeichnungen erhalten wie beispielsweise die Fördergabe des Schiller-Gedächtnispreises (1965), den Österreichischen Würdigungspreis für Literatur 1972 (1973) oder den Prix International des Editeurs (1977). In den 1980er-Jahren häuften sich die Ehrungen, und auch ihr Prestige nahm zu. So bekam Fried den Bremer Literaturpreis (1983), das Goldene Ehrenzeichen für Verdienste um das Land Wien (1985), die Carl von Ossietzky-Medaille (1986) und den Österreichischen Staatspreis für Verdienste um die österreichische Kultur im Ausland (1986).
1987 wurde ihm schließlich mit dem Georg-Büchner-Preis der wichtigste deutsche Literaturpreis verliehen. In seiner Preisrede vor den Festgästen in Darmstadt ging Fried mit der Kommunalpolitik hart ins Gericht. Er äußerte unter anderem in einer Anspielung auf die Ausweisung mehrerer Roma-Familien, von der er zuvor erfahren hatte, dass die Stadt nun "roma-rein" sei. Die Ähnlichkeit zum nationalsozialistischen Diktum der "Judenreinheit" war nicht zufällig. Beim anschließenden Festbankett kam es zu einer Auseinandersetzung mit dem Oberbürgermeister Günther Metzger, der Fried Heuchelei vorwarf. Wie könne er den Preis einer Stadt annehmen, die er so scharf kritisiere? Fried verließ daraufhin empört mit einem Großteil der Gäste den Saal. Erst nach einer Entschuldigung von Metzger – die er später wieder zurücknahm – kehrte Fried mit seiner Gefolgschaft zurück zu den Feierlichkeiten.
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