"Weil ich noch soviel Kontinuität vom Wien vor dem Krieg in mir habe" 

(1955, Briefe 25) 

Erich Fried kam am 6. Mai 1921 als einziges Kind des Speditions-Angestellten und späteren Heil-Hypnotiseurs Hugo Fried (1890–1938) und der (Mode-)Designerin Nellie Fried (geb. Stein, 1894–1982) in Wien zur Welt. Die Familie wohnte zusammen mit der Großmutter Malvine Stein (geb. Krakauer, 1866–1943) in der Alserbachstraße 11 im 9. Wiener Gemeindebezirk. 

A star is (almost) born

Aufgrund einer angeborenen Gehbehinderung konnte Erich Fried nicht mit anderen Kindern Fußball oder Fangen spielen. Das brachte ihn früh dazu, sich Geschichten auszudenken und diese im nahegelegenen Liechtensteinpark vorzutragen oder mit Kindern zu inszenieren. Mit fünf Jahren wurde er von einem arbeitslosen Schauspieler entdeckt und kam mit großem Erfolg auf die Bühne. Er erhielt sehr positive Kritiken für seinen Auftritt in Ferdinand Raimunds "Der Verschwender" in der Renaissance-Bühne in der Neubaugasse. Als der berühmte Theaterregisseur Max Reinhardt Erich Fried in sein Ensemble aufnehmen wollte, verbot das der Vater und verhinderte eine mögliche Schauspielerkarriere seines Sohns.

Erich Fried im Alter von ca. fünf Jahren (Quelle: PA Boswell)

Jüdische Identität vor und nach Hitler

Auf mein Judentum bin ich eigentlich erst mit sechs Jahren durch Mitschüler aufmerksam geworden, die uns zuriefen: "Jud, Jud / spuck in‘ Hut! / Sag der Mutter, das ist gut!" und durch schon seit einem Jahr an der Schule befindliche jüdische Mitschüler, die antworteten: "Christ, Christ / Spuck am Mist! / Sag der Mutter, daß sie’s frißt!" (worauf die Extremisten der beiden Gruppen sich natürlich prügelten). Danach interessierte mich lebhaft, was ich da eigentlich sei.

(1984, Leben 19) 

Wie in vielen Familien assimilierter Jüd*innen wurden bei den Frieds oft kaum die hohen Feiertage eingehalten. Erst durch den Antisemitismus seiner Mitschüler*innen wurde der junge Fried mit seinen Wurzeln konfrontiert. Er interessierte sich in der Folge zwar für den jüdischen Glauben, blieb aber bis zuletzt Atheist. Er verfügte übrigens auch über ein profundes Wissen zum Christentum. Seit 1931 war Fried Schüler am Wasagymnasium im 9. Wiener Gemeindebezirk. Den grassierenden Antisemitismus und das Erstarken des im austrofaschistischen Regime von Kurt Schuschnigg noch illegalen Nationalsozialismus bekam der jüdische Schüler ständig zu spüren. Unmittelbar nach dem "Anschluss" Österreichs an Hitlerdeutschland organisierte er für kurze Zeit eine Widerstandsgruppe und wäre beinahe aufgeflogen. Am 24. April 1938 wurden die Eltern zusammen mit einer größeren Gruppe von Jüd*innen bei einem Gespräch über Fluchtmöglichkeiten verhaftet. Hugo Fried starb einen Monat später am Tag seiner Entlassung an den Folgen der Folter – ein traumatisches Ereignis, das sich tief in die Biografie und das Werk von Erich Fried eingeschrieben hat.

Tagebucheintrag 1938 (Quelle: NL Fried. Foto: Martin Wedl)

Ohne Wurzeln. Neuanfang in der Emigration

Am 5. August 1938 kam ich als Flüchtling nach England. Ich habe mich immer gegen den Ausdruck Emigrant, Auswanderer, gewehrt, wenn diese Auswanderung nicht freiwillig erfolgte, sondern zur Rettung des Lebens notwendig war, und wenn der Flüchtling außerdem nicht die Absicht hatte, die Verbindung mit der Kultur seiner Heimat aufzugeben. Diese Absicht hatte ich nie.

(1974, Anfragen 118)

Erich Frieds Flucht nach England war unter überaus dramatischen Vorzeichen zustande gekommen. Der Vater war an den Folgen der Folter gestorben, die Mutter saß für ungewisse Zeit in Haft. Die Großmutter, inzwischen aus der Wohnung ausgewiesen, konnte Österreich aus gesundheitlichen Gründen nicht verlassen. Sie sollte 1942 nach Theresienstadt deportiert werden. Wie fast alle Verwandten Frieds fiel sie dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer – Malvine Stein wurde 1943 in Auschwitz ermordet. Der Mutter gelang die Flucht nach England nach großen Anstrengungen ihres Sohns erst kurz vor Kriegsausbruch. Solange die Ausreise aus Hitlerdeutschland noch möglich war, konnte Erich Fried von London aus insgesamt mehr als 70 Menschen zur Flucht verhelfen.

Finanzielle Unterstützung erhielt Erich Fried in der ersten Zeit in London unter anderem von Konsul Franz Kalina, einem Verwandten aus den Niederlanden. Anschluss fand Fried in Flüchtlingsorganisationen wie dem Jewish Refugee Committee, dem Austrian Centre und dem Freien Deutschen Kulturbund. Im Austrian Centre in der Westbourne Terrace arbeitete er als Bibliothekar, bestritt seinen Lebensunterhalt aber hauptsächlich mit Hilfsarbeiten in verschiedenen Fabriken der Glas- und Lebensmittelindustrie.

Erich Fried mit 18 Jahren in London (Quelle: PA Boswell).

Hörbeispiel: Erich Fried erinnert sich 1972 von Min. 15:09 bis 16:14 an die vielen Berufe, die er in den ersten Jahren im Londoner Exil ausübte (Österreichische Mediathek, 10-16487_a_k02, mit freundlicher Genehmigung).

Erich Frieds zahlreiche Kontakte zu geflohenen Schriftsteller*innen wie H. G. Adler, Elias Canetti, Hans Eichner, Hans Flesch oder Hilde Spiel hatten einen wesentlichen Einfluss auf seine künstlerische Entwicklung. Vor allem in dem Literaturagenten Joseph Kalmer fand er einen wichtigen Förderer, und auch von der Freundschaft mit dem Lyriker Theodor Kramer profitierte er sehr. Bald nach dem Krieg knüpfte er Kontakte zum Kontinent und lernte Ilse Aichinger, Paul Celan, Ernst Jandl, Elisabeth Langgässer und auch Ingeborg Bachmann kennen. Mit ihr trat er 1951 in der Anglo-Austrian Society auf. Ein literarisches Erweckungserlebnis hatte er bei der Lektüre von Ilse Aichingers Debüt-Roman "Die größere Hoffnung", der sein künstlerisches Selbstverständnis erschütterte.

Fünf alte Ausweise von Young Austria

Außer bei Kafka habe ich noch nie dieses Gefühl so stark erlebt, angesichts eines Kunstwerkes mein Leben ändern zu müssen. Und auch jetzt erlebe ich es gar nicht als Gebot, als Forderung, sondern – wenn auch die Verwirklichung noch schwer zu bezahlen sein wird! – mindestens in diesem Augenblick schon als Geschehenes, als Verwandlung, als Zauber… Nie wieder werde ich so schreiben können wie vor der Begegnung mit Deinem Buch. 

(1948, Briefe 16) 

Umschlag von llse Aichingers Roman "Die größere Hoffnung", der 1948 im Verlag Bermann-Fischer herauskam. Der Roman gilt als einer der wichtigsten Beiträge zur österreichischen Nachkriegsliteratur. Er schildert das Überleben im Nationalsozialismus aus der Perspektive eines jüdischen Mädchens. Wie Erich Fried hat auch Ilse Aichinger in ihrer langen Schriftstellerinnen-Karriere nur einen Roman geschrieben (Quelle: LITMUS. Foto: Martin Wedl).

Nach dem Krieg ist vor dem (Kalten) Krieg 

Aber nach und nach störten mich damals bei den Österreichern, zu denen ich dort die engste Verbindung hatte, einige Symptome der Stalin-Ära so sehr, daß ich nicht zurückkommen wollte, um mit ihnen zu arbeiten. Ich hatte aber auch keine Lust, zurückzukommen, um gegen sie zu arbeiten.

(1981, Anfragen 195) 

Eine Rückkehr nach Österreich kam für Erich Fried vorerst nicht infrage. Er versuchte als deutschsprachiger Autor so gut wie möglich in England Fuß zu fassen. Besonders wichtig dafür war die BBC, für die er seit 1950 als freier Mitarbeiter beim "German Service" arbeitete. Dieser war seit 1939 ein eigenständiger Auslandsdienst der BBC, der Nachrichten nach Hitlerdeutschland sendete. Nach dem Krieg blieb der Dienst noch Jahrzehnte bestehen und fokussierte nun auf die DDR. Obwohl Fried immer eindeutig dem linken politischen Spektrum zuzurechnen war, bekam er 1952 eine feste Anstellung. Als politischer Kommentator für das "German Soviet Zone Programme" hatte er bei der Auswahl seiner Themen freie Hand. Es waren denn auch eher die inneren Widerstände und Überzeugungen, die ihn 1968 dazu bewegten, die BBC zu verlassen und nur noch von der Schriftstellerei zu leben.

1953 besuchte Fried während einer Dienstreise erstmals West- und Ostdeutschland, doch bis zu einem Besuch in Österreich sollte noch fast ein Jahrzehnt vergehen. Wolfgang Kraus, der Leiter der Österreichischen Gesellschaft für Literatur, bemühte sich Anfang der 1960er-Jahre sehr um österreichische Schriftsteller in der Emigration; er lud unter anderen Elias Canetti, Erich Fried und Manès Sperber zu einem Besuch nach Wien ein. In den 1960er-Jahren intensivierte sich Frieds Reisetätigkeit, der bald rund die Hälfte des Jahres fern von London mit Lesungen, Diskussionen und politischen Aktivitäten verbrachte.

Erich Fried war insgesamt drei Mal verheiratet und hatte sechs Kinder. Mit der Künstlerin Catherine Boswell war er seit 1965 verheiratet, das Paar hatte drei Kinder. Nach Frieds Ankunft in London im August 1938 wechselte er häufig seinen Wohnsitz. 1969 fanden die Frieds schließlich ein Haus in 22 Dartmouth Road im Nordwesten Londons, wo Fried bis zu seinem Tod ein Refugium fand. Hier arbeitete er nach seinen langen und anstrengenden Reisen auf dem Kontinent an seinen Gedichten und Übersetzungen. Im selben Jahr zog auch seine Mutter Nellie in die Dartmouth Road und lebte bis zu ihrem Tod 1982 bei der Familie. Das Haus war ein pulsierender Ort der politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzung: Weil Erich Frieds Literatur zur Zeit der Student*innenbewegung einen enormen Stellenwert erlangt hatte, entwickelte sich sein Londoner Wohnsitz zu einem Anziehungspunkt für deutsche und französische Student*innen.

"So dringend ist es mir wieder nicht." Langsame Heimkehr nach Österreich

Erste ernsthafte Bemühungen um eine "Heimholung" Erich Frieds in den 1960er-Jahren gehen vermutlich auf Wolfgang Kraus zurück, der über ausgezeichnete Kontakte zu verschiedenen österreichischen Ministerien verfügte. Der Einbürgerungsprozess erwies sich als sehr bürokratisch und langwierig und schleppte sich bis 1982 hin. In diesem Jahr wurde Fried die österreichische Staatsbürgerschaft verliehen. Ein Zurücklegen der englischen Staatsbürgerschaft war rein aus finanziellen Überlegungen keine Option – die Ausbildung seiner Kinder in England wäre für ihn als österreichischer Staatsbürger enorm kostspielig gewesen.

Aus dem ganzen Verhalten der Behörden in Wien würde man annehmen, daß ich mich demütig und auf den Knien bittend um die Wiedererlangung meiner Staatsbürgerschaft bemüht habe. In Wirklichkeit ist man an mich herangetreten. Ich möchte meine österreichische Staatsbürgerschaft sehr gerne zurückhaben, schon um damit ein von Hitler geschaffenes Faktum aus der Welt zu schaffen. Ich habe aber bisher nichts als Ärger, Scherereien und Mißverständnisse davon gehabt. So dringend ist es mir wieder nicht.

(1964, Briefe 43) 

Hörbeispiel: Erich Fried spricht 1983 von Min. 54:30 bis 55:24 zur Doppelstaatsbürgerschaft (Österreichische Mediathek, jm-831205_k02, mit freundlicher Genehmigung des Österreichischen Rundfunks).

"Mein Gesicht […] straft mich Wahrheit". Ein langer Abschied (1987, GW 3, 233) 

Leben oder Leben?

Irgendwo  
lebt es noch 
bis es stirbt 
und atmet tief aus und ein 
und liebt und spielt und sieht Farben 
und arbeitet und ruht aus 
und ist traurig und lustig und altert 
Irgendwo 
lebt es noch 
bis es stirbt 

Aber hier 
in mir 
ist soviel 
Haß gegen das Sterben 
gegen das Sterben  
meiner Großmutter und meines Vaters 
unter den Händen der Mörder 
von gestern 
die noch nicht tot sind 
und gegen mein Sterben 
und gegen 
das Sterben meiner Kinder 
unter den Händen der Mörder 
von morgen 
die heute schon leben 
daß ich nur gegen dieses Sterben 
kämpfe 
und nur dieses Sterben 
fühle und denke 
und daß ich gar nicht mehr lebe 
wie irgendwo noch das 
was lebt 
bis es stirbt 

(1982, GW 2, 634f.) 

Nach einer ersten Krebsoperation im Jahr 1982 fand die Auseinandersetzung mit dem möglichen Tod vermehrt Eingang in die Gedichte, die nun öfter eine dunkle Färbung hatten. Anlässlich der Gedächtnisfeierlichkeiten zur 50. Wiederkehr der Novemberpogrome 1938 hielt sich Fried für einen Fernsehtermin beim Südwestfunk in Baden-Baden auf. Die Krankheit brach wieder aus und auch eine Notoperation konnte seinen Tod nur um Wochen hinauszögern. Am 22. November 1988 starb Erich Fried im Alter von 67 Jahren.

Erich Fried war bis zuletzt ein unermüdlich Reisender (Quelle: PA Boswell).

Erich hatte nie aufgehört zu arbeiten, nie aufgehört zu reisen, nur wiederholt Strahlen- und Chemotherapien über sich ergehen lassen und in seinem Arbeitsplan Pausen eingelegt, um sich im Krankenhaus immer noch ein Stück mehr Darm entfernen zu lassen. Er mochte Krankenhäuser.

(Kurz 112) 

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