8. Oktober 2020 – 25. April 2021
Was sagt uns die Literatur über die Zukunft? Wie stellen sich SchrifstellerInnen zukünftiges Leben auf der Erde vor? Die neue Sonderausstellung im Literaturmuseum der Österreichischen Nationalbibliothek heißt „Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“ und könnte angesichts der Corona-Krise nicht aktueller sein.
Im Zentrum der Schau stehen die in Literatur gefassten Hoffnungen und Ängste der Menschen: poetische Entwürfe einer besseren Welt treffen düstere Zukunftsvisionen, Maschinenwelten und Weltuntergangsszenarien stehen neben satirischen Idyllen, wie sie nur in der Literatur entworfen werden können. Neben deutschsprachigen Texten von so unterschiedlichen AutorInnen wie Ingeborg Bachmann, Otto Basil, Erich Fried, Marlen Haushofer, Christoph Ransmayr, Peter Handke und Oswald Wiener liegt ein weiterer Schwerpunkt auf internationaler utopischer Literatur vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Präsentiert werden zudem Videointerviews mit ExpertInnen, eine Installation des bildenden Künstlers Klaus Wanker sowie ein Zukunftslabor, das den Visionen der BesucherInnen für die Zukunft gewidmet ist.
Konzipiert wurde die Ausstellung lange vor Corona, aber eine frei zugängliche „Pandemische Handbibliothek“ (natürlich inklusive zur Verfügung gestellter Desinfektionsmittel) lädt zur Auseinandersetzung mit Viren und Seuchen in der Literatur ein. Außerdem ist eine wertvolle Buchausgabe von Giovanni Boccaccios„Decamerone“ zu sehen, seine berühmte, in Reaktion auf die große Pestepidemie von 1348 entstandene Novellensammlung.
Die großen Hoffnungen und Ängste der Menschen sind seit jeher Thema der Literatur. Oft haben SchriftstellerInnen diese Hoffnungen und Ängste in die Zukunft projiziert, um ihrer jeweiligen Gegenwart einen Spiegel vorzuhalten. Diese „Zukunftsliteratur“ ist gerade in der aktuellen Pandemie von großer Aktualität.
Die neue Sonderausstellung zeigt, dass Utopien und Apokalypsen zusammengehören. Beide beziehen sich auf Neues, noch nicht Dagewesenes, beide erzählen von einer zukünftigen Ordnung – und/oder dem Zusammenbruch einer alten: Utopien entwerfen alternative Gesellschaften, apokalyptische Erzählungen berichten vom Ende der Welt. Letztere stehen in der biblischen Tradition der Offenbarung des Johannes, wo auf die Apokalypse ein Neubeginn folgt. Zahlreich sind in der Literatur auch die Visionen vom Ende der Welt, wie wir sie kennen: Thematisiert werden Klimakatastrophen, die Angst vor Erderwärmung oder Kometeneinschlägen ebenso wie die Bedrohung durch Atomwaffen im Kalten Krieg.
„Utopien und Apokalypsen. Die Erfindung der Zukunft in der Literatur“ präsentiert dabei u.a. poetische Erkundungen der Zukunft in Gedichten von Reinhard Priessnitz, Gerhard Rühm („botschaft an die zukunft“), Marie Luise Kaschnitz, Rose Ausländer oder Ernst Jandl („Apocalypse Soon“). Sie zeigt aber auch längere Prosatexte, die sich mit visionären Maschinenwelten und künstlicher Intelligenz beschäftigen. Manuskripte, Bücher und Objekte aus den Beständen der Österreichischen Nationalbibliothek, insbesondere des Literaturarchivs, und ausgewählte Leihgaben ergeben zusammen ein reichhaltiges Panorama. Neben deutschsprachiger Literatur wird auch internationale utopische Literatur präsentiert, etwa der 1936 erschienene grotesk-dunkle Science-Fiction-Roman „Der Krieg mit den Molchen“ des tschechischen Autors Karel Čapek, der als Erfinder des Wortes „Roboter“ gilt. In dunklen Zukunftsromanen wie diesem finden sich Szenarien, die uns heute nicht futuristisch, sondern absolut gegenwärtig erscheinen. Auch die Welt, die George Orwell in seinem 1949 veröffentlichten Buch „Nineteen Eigthy-Four“(„1984“) entworfen hat, ist uns keineswegs fremd: Überwachungskameras und Bildschirme allerorten, ein feinmaschiges Netz aus technischen Apparaten, der Verlust unserer Privatsphäre. Im Gegensatz dazu ist der „Maschinenmensch Sabor“ des Schweizer Ingenieurs Peter Steurer – einer der ersten im 20. Jahrhundert in Europa entwickelten Roboter – ein schönes Beispiel für einen noch ungetrübten Glauben an den technischen Fortschritt.
Im gleichnamigen Ausstellungskapitel reichen die gezeigten Objekte bis in das Jahr 1740 zurück. Die originelle barocke Karte „Accurata Utopiae Tabula“ ist eine allegorische Darstellung „des so oft benannten, und doch nie erkannten Schlaraffenlandes“. Zu sehen sind darauf keine realen Orte, sondern fiktive Provinzen des
Schlaraffenlandes: Namen wie Bierfluss, Schweinsbrätl, Wollustberg oder Truncken-See stehen dabei für moralische Verfehlungen wie Wollust, Gier und Völlerei. Der deutsche Buchhändler und Verleger Johann Heinrich Zedler fasst in seinem Universallexikon unter dem Stichwort Schlaraffenland 1742 zusammen: „Schlaraffenland, lat. Utopia, welches im Deutschen Nirgendwo heißen könnte, ist kein wirckliches, sondern erdichtetes und moralisches Land.“
Neuere Einblicke in die Utopien der Literatur gewährt ein Typoskript aus dem Nachlass von Ingeborg Bachmann, der seit 2016 zum nationalen UNESCO-Dokumentenerbe „Memory of Austria“ gehört. Im Wintersemester 1959/60 richtete die Goethe-Universität Frankfurt eine Gastdozentur für Poetik ein. Als erste Vortragende eröffnete Ingeborg Bachmann die neuen „Frankfurter Poetikvorlesungen“. Das Typoskript ihrer fünften und letzten, am 24. Februar 1960 gehaltenen Vorlesung trägt den Titel „Literatur als Utopie“. Bachmann spricht darin über das utopische Potential literarischer Werke und die „utopische Existenz“ des Schriftstellers. Als ein „nach vorn geöffnetes Reich von unbekannten Grenzen“ vermag die Literatur, dem Leben und seiner „schlechten“ Sprache ein – unerreichbar bleibendes – „Utopia der Sprache“ gegenüberzustellen.
Ein weiterer Schwerpunkt der Ausstellung liegt auf literarischen Utopien von Frauen und feministischer Science-Fiction: Christine de Pizan schuf im 15. Jahrhundert die Utopie einer „Stadt der Frauen“, Mary Shelley erzählt in ihrem berühmten Roman „Frankenstein“ von einem Wissenschaftler, der einen künstlichen Menschen erschafft. Die US-amerikanische Autorin Charlotte Perkins Gilman oder die britische Schriftstellerin Virginia Woolf stellten in ihren Texten die Forderung nach eigenen Räumen für Frauen ins Zentrum: Ihre ganz konkreten gesellschaftspolitischen Utopien sind kämpferische und visionäre Texte, die unseren Blick auf die Gegenwart schärfen. Auch „Die Wand“ von Marlen Haushofer wird anhand zahlreicher Übersetzungen und eines Filmausschnitts in der Schau in Szene gesetzt. Die Autorin hätte heuer ihren 100. Geburtstag gefeiert.
Die „Zukunftsbibliothek“ spannt in der Ausstellung einen Bogen vom 15. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Zu sehen sind dort alte, kostbare Buchobjekte – etwa eine reich illustrierte Luther-Bibel aus dem 16. Jahrhundert, in der sich beeindruckende Holzschnitte zur Johannes-Apokalypse finden, oder eine 1518 gedruckte Buchausgabe von Thomas Morus’ idealem Inselstaat „Utopia“, der namensgebend für ein ganzes Genre wurde.
Das Insel-Motiv greift auch Klaus Wankers Installation „Inseln der Seligen (GIER)“ auf: Das im Eingangsbereich der Ausstellung präsentierte Kunstwerk zeigt Miniaturwelten, die wie fremde Welten im Raum zu schweben scheinen und ihrem Titel nach auf einen (fast) paradiesischen Ort verweisen.
Bezüge zu anderen Künsten und Genres, zu Film, Oper, Puppenspiel und Popkultur ergänzen die Ausstellung: vom Plakat zu Fritz Langs legendärem Schwarz-Weiß-Film aus dem Jahr 1927 „Metropolis“ über „Perry Rhodan“ (von der deutschen Science-Fiction-Serie sind seit 1961 über 3.000 Heftromane mit mehr als 160.000 Seiten erschienen) bis zu den mittlerweile klassischen „Star Wars“ und zurück. Präsentiert werden außerdem Videointerviews mit der Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Eva Horn, dem Philosophen Thomas Macho, der Schriftstellerin Kathrin Röggla und dem Schriftsteller Ilija Trojanow sowie in einem Sonderraum das Zukunftslabor, eine partizipative Rauminstallation, die den Visionen der BesucherInnen für die Zukunft – in und abseits der Literatur – gewidmet ist.
Die Österreichische Nationalbibliothek dankt der WIENER STÄDTISCHE Versicherung AG Vienna Insurance Group für die großzügige Unterstützung der Ausstellung.
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